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Full text of "Kämpfe in China. Eine Darstellung der Wirren und der Betheiligung von Österreich-Ungarns Seemacht an ihrer Niederwerfung in den Jahren 1900-1901;"

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KÄMPFE  IN  CHINA. 


KÄMPFE  IN  CHINA 


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1 

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KÄMPFE  IX  CHINA. 


KÄMPFE  IN  CHINA. 


^Ifh 


EINE  DARSTELLUNG 

DER 

WIRREN  UND  DER  BETHEILIGUNG  VON  ÖSTERREICH- 
UNGARNS SEEMACHT  AN  IHRER  NIEDER- 
WERFUNG 

IN  DEN 

JAHREN  1900—1901 

VON 

Theodor  ritter  von  Winterhalder 

K.  UND  K.  LINIENSCHIFFS -L^UTENANT. 


MIT  118  ABBILDUNGEN,  26  CROQUIS  UND  S  KARTEN. 


WIEN  UND  BUDAPEST. 

A.  HARTLEBEN'S  VERLAG. 

1902. 


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Slio^ 


DSnn 


SAMMTLICHE  RECHTE, 
NAMENTLICH  JENES  DER  ÜBERSETZUNG  IN  FREMDE  SPRACHEN  VORBEHALTEN. 


DRUCK  VON  CHRISTOP»  RE1SSER»S  SÖHNE  IN  WIEN. 


VORWORT. 


Die  vorliegende  Darstellung  bezweckt  eine  Schilderung  der 
Theilnahme  von  Oesterreich  Ungarns  Seemacht  an  der  Bekämpfung 
der  in  der  Geschichte  einzig  dastehenden,  den  Grundbegriffen 
der  Gesittung  hohnsprechenden  Zustände,  welche  die  übel  be- 
rathenen  Machthaber  des  Reiches  der  Mitte  im  Sommer  1900 
freventlich  heraufbeschworen  haben.  Aus  ihr  sollen  alle  Kreise 
der  Monarchie  zu  erfahren  Gelegenheit  haben,  wie  sich  die  Dinge 
entwickelt  haben  und  in  welcher  Weise  sich  Oesterreich-Ungarn 
an  der  Niederwerfung  des  Aufstandes  gegen  die  Träger  abend- 
ländischer Cultur  betheiligt  hat,  wie  es,  trotz  allen  Fernhaltens 
von  einer  Eroberungspolitik,  als  Grossmacht  für  das  schwer  ver- 
letzte Völkerrecht  eingeschritten  ist  und  wie  sein  starker  Arm 
auch  in  so  entlegener  Weite  kräftig  mitgeholfen  hat  zu  einem  Er- 
folge, der  jugendlicher  und  gereifter  Thatkraft  eine  Bahn  zu  freier, 
nützlicher  Bethätigung  wieder  eröffnet  hat. 

Das  Buch  zerfällt  in  zwei,  nach  Anlage  und  Durchführung 
verschiedene  Theile. 

Der  erste  behandelt  den  Zeitraum  vom  Ausbruch  der  Wirren 
bis  zu  jener  Phase,  wo  die  Fremden  aus  der  stricten  Nothwehr 
heraustraten,  um  Sühnung  zu  erzwingen;  in  den  zugehörigen  Ab- 
schnitten, welche  von  den  Geschehnissen  in  der  Periode  der  inten- 
sivsten Spannung  bei  allen  civilisirten  Nationen  sprechen,  sind  die 
gesammten  militärischen  Operationen  aller  betheiligten  Mächte 
skizzirt    und  wird    auch  der  chinesischen  Politik    und  der  Gegen- 


Züge  der  schwer  bedrohten  diplomatischen  Vertreter  in  Peking 
ausführlicher  gedacht.  Dieser  erste  Theil,  in  dem  der  Verfasser 
auch  Anlass  nimmt,  die  Lücken,  Irrthümer  und  Unrichtigkeiten 
einiger  fremdländischer  Berichte  hinsichtlich  der  Oesterreicher- 
Ungarn  in  China  zu  beseitigen,  konnte,  weil  sich  die  Ereignisse 
auf  einem  kleineren,  leichter  zu  überblickenden  Räume  abspielten, 
mit  so  vielen  Details  ausgestattet  werden,  dass  er  vielleicht  als 
ein  bescheidener  Beitrag  zur  grossen  Kriegs-  und  Weltgeschichte 
gelten  darf;  wieso  im  Besonderen  gerade  das  Capitel  über  Peking 
zu  einem  auffälligen  Umfang  angewachsen  ist,  wird  sich  der  Leser 
leicht  erklären  können.  Der  Schreiber  bittet  aber  ausdrücklich  — 
und  namentlich  seine  verdienstvolleren  Kameraden  —  hinter  dieser 
Breite  nicht  den  miles  gloriosus  suchen  zu  wollen. 

Der  zweite  Theil  musste  sich  wegen  der  Ausdehnung  der 
Operationen  der  Verbündeten  auf  ein  grösseres  Feld,  an  denen 
die  aufgebotenen  Kräfte  Oesterreich-Ungarns  trotz  aller  Energie 
ihres  Führers  einfach  ihrer  kleinen  Zahl  wegen  nicht  mehr  überall 
theilnehmen  konnten,  darauf  beschränken,  die  Thätigkeit  der  ersten, 
unter  dem  Befehle  Contre-Admirals  Rudolf  Graf  Montecuccoli  nach 
Ostasien  entsendeten  k.  und  k.  Escadre  und  der  von  ihr  gelandeten 
Matrosen-Detachements  näher  darzustellen,  hingegen  die  weiteren 
militärischen  Unternehmungen  und  die  schwierigen,  diplomatischen 
Verhandlungen  nur  in  ihren  wesentlichsten  Umrissen  zu  ent- 
werfen. 

Als  Quellen  sind  die  gesammten  officiellen  inländischen  Be- 
richte, Sammlungen  diplomatischer  Documente  mehrerer  fremder 
Nationen,  Tagebücher  und  Relationen  deutscher,  englischer,  fran- 
zösischer, italienischer,  japanischer  und  auch  russischer  Officiere 
und  Aufzeichnungen  so  mancher  Kameraden  und  Freunde  aus 
jener  denkwürdigen  Zeit  benützt  worden ;  die  persönlichen  Erinner- 
ungen des  Erzählers  mögen  für  einiges  Subjective  verantwortlich 
gemacht  werden! 

Für  die  freundlichst  gewährte  Unterstützung  durch  Ueber- 
lassung  von  photographischen  Original- Aufnahmen  spricht  er  den 
Herren:  Viceconsul  Silvestri,  Linienschiffs-Fähnrich  Roman  Juno- 
wicz,  Seecadet  I.  Classe  Ernst  Petri,  Fregattenarzt  Dr.  Werbenec, 


Corvettenarzt  Dr.  Korenöan,  M^decin  major  Dr.  Jean  Matignon, 
Arzt  der  franzosischen  Legation  in  Peking,  und  L6on  Bartholin 
seinen  allerwärmsten  Dank  aus. 

Dieselbe  Pflicht  erfüllt  der  Verfasser  mit  Freude  gegenüber 
der  franzosischen  Kriegsverwaltung,  die  ihm  auf  Verwendung  des 
hiesigen  Militär- Attaches  Marquis  La  Guiche  beim  Chef  des  General- 
stabes, General  Pendezec,  in  zuvorkommendster  Weise  eine  vor- 
treffliche Karte  des  Kriegsschauplatzes  zur  Verfügung  stellte. 

Das  k.  und  k.  militär-geographische  Institut  hat,  durch  drin- 
gende Arbeiten  überhäuft,  die  Herstellung  einer  Karte  nicht  über- 
nehmen können,  aber  die  Croquis  in  der  bekannten  unübertreff- 
lichen Vollendung  hergestellt,  wofür  ihm  der  verbindlichste  Dank 
abgestattet  sei. 

Der  rührige,  erfahrene  Verleger  endlich  möge  den  Dank  für 
seine  Mühe  und  manch  glücklichen  Wink  entgegennehmen! 

Niemand  ist  sich  darüber  klarer  als  der  Schreiber  dieser 
Zeilen,  dass  das  Buch  nur  zu  deutlich  die  Merkmale  eines  Erstlings- 
werkes trägt,  das  noch  dazu  in  der  knappen  Zeit  von  nicht  ganz 
sechs  Monaten  entstanden  ist,  weil  es  eben  noch  zur  zweiten 
Jahreswende   des  Ausbruches   der  Wirren   zurechtkommen   sollte. 

Der  Mängel  ungeachtet  möge  wenigstens  die  gute  Absicht 
des  Werkes  durchdringen,  dass  es  dazu  beitrage,  die  Aufmerk- 
samkeit unserer  Landsleute  in  erhöhtem  Masse  auf  den  fernen 
Osten  zu  lenken  und  zur  Betheiligung  an  dem  reichlich  lohnenden 
Werk  der  Erschliessung  Chinas  zu  ermuntern! 

Und  ein  guter  Antheil  an  dem  wieder  sprudelnden  Quell  von 
Wohlstand  und  Reichthum  gebührt  auch  den  gesundkräftigen 
Völkern  Oesterreich-Ungarns,  nun  schon  gar,  seitdem  Söhne  von 
ihnen  dort  im  Kampfe  für  ideelle  Güter  gefallen  sind! 


Wien,  7.  Mai  1902. 


DER  VERFASSER. 


INHALT. 


Seite 
Vor^'ort  des  Verfassers V 

I.  THEIL. 
I.  Capitel. 

Die  Provinz  Petschili.  —  Die  fremdenfeindliche  Bewegung  in  China  und  deren 
Förderer.  —  Stationirung  S.  M.  Schiffes  »Zenta«  in  Ostasien  und  seine  Ent- 
sendung nach  Taku.  —  Ausschiffung  des  ersten  Schutzdetachements  zur  k.  und  k. 
Gesandtschaft  in  Peking.  —  Eindrücke  bei  der  Uebcrschreitung  der  Peiho- 
Mündung,  während  der  "Bahnfahrt  und  beim  Eintreffen  in  Peking.  —  Die  Bahn- 
verbindung   abgeschnitten.     —   Ausschiffung    eines    Detachements    nach   Tientsin         1 

II.  Capitel. 

S.  M.  Schiff  «Zenta«  mit  der  internationalen  Flotte  auf  der  Taku-l<,hede.  —  Be- 
theiligung an  der  Einnahme  der  Taku-Forts.  —  Entwicklung  der  Ereignisse.  — 
Was  man  auf  der  Rhedc  erfuhr.  —  Thätigkeit  der  Admirale  und  selbstständigen 
Schiffscommandanten.  —  Eintreffen  S.  M.  Schiffes  »Kaiserin  und  Konigin  Maria 
Theresia«      ....        58 

III.  Capitel. 

D.1S  österreichisch-ungarische  Detachement  in  Tientsin.  —  Betheiligung  an  der 
Seymour-Expedition.  —  Kämpfe  in  und  um  Tientsin.  —  Erstürmung  der  City.  — 
Provisorische  Regierung  in  Tientsin.  —  Vorbereitungen  zum  Vormarsch  auf 
Peking.  —  Gefecht  bei  Peitsang 107 

IV.  Capitel. 

In  Peking.  —  Schlimme  Anzeichen.  —  Erste  Bekanntschaft  mit  Boxern.  — 
Ultimatum  der  Chinesen,  Exodus  beschlossen .  —  Ermordung  des  deutschen  Gesandten, 
Abschied  von  der  österreichisch -ungarischen  Legation,  die  Fremden  bleiben.  —  Offene 
Feindseligkeiten.  —  Warum  die  Gesandtschaft  geräumt  wurde.  —  Verlauf  der 
Kämpfe.  —  Fregatten  -  Capitän  von  Thomann  gefallen.  —  Höhepunkt  der 
Gefahr.  —  Uebcrraschungen  und  Aufrichtigkeit  der  Chinesen.  —  Fühlung  mit 
auswärts.  —  Entsatz.  —  Flucht  des  Hofes,  letzte  Kämpfe  in  Peking.  —  Situation 
im  Peitang.  —  Einiges  über  den  Vormarsch  der  Verbündeten.  —  Demonstrativer 

Durchmarsch  durch  ,die  verbotene  Stadt.    —  Ablösung 184 

b 


V.  Capitel. 

Begebenheiten  auf  der  Taku-RheJe  seit  dem  Eintreffen  S.  M.  Schiffes  »Kaiserin  und 
Königin  Maria  Theresia«.  —  Vorbereitungen  für  die  nachfolgenden  k.  und  k. 
Kriegsschiffe.  —  Theilnahme  des  Tientsiner  Detachements  an  einem  Gefecht  gegen 
Boxer,  —  Was  richtige  Marineleute  auch  können  müssen.  —  Errichtung  von 
Etapcn  zwischen  Tientsin  und  Peking.  —  Vorgänge  in  Peking  bis  zur  Ver- 
stärkung des  Detachements  Wickerhauser     .    , 444 

IL  THE  IL. 

VI.  Capitel. 

Entsendung  S.  M.  Schiffe  »Kaiserin  Elisabeth«  und  »Aspem«,  Formirung  der 
ersten  k.  und  k.  Escadre  in  Ostasien  unter  Contre-Admiral  Rudolf  Graf 
Montecuccoli.  —  Situation  beim  Eintreffen  in  Nordchina.  —  Landung  eines 
weiteren  Detachements.  —  Li-hung-tschang's  Ankunft.  —  Betheiligung  an  der 
Einnahme  der  Peitang-Forts.  —  Eintreffen  des  Armee-Obercommandanten.  — 
Besetzung  von  Shanhaikuan.  —  Veränderung  der  Lage.  —  Chinesische  Buss- 
edicte.  —  Ankunft  des  k.  und  k.  Gesandten 4Ö9 

VII.  Capitel. 

Fernere  Gestaltung  der  Lage  in  Tschili.  —  Vorbereitungen  für  die  Ucberwinte- 
rung.  —  Einfluss  des  Armee-Obercommandos.  —  Expeditionen  und  Streifzüge.  — 
Tsau-lin-tsun,  Kaigan,  Kwansch,  Sunho,  Kanli-jin.  —  Zustände  in  den  besetzten 
grösseren  Orten.  —  Die  Gräber  unserer  Gefallenen.  —  Besitzergreifung  eines 
Territoriums  in  Tientsin 501 

VIII.  Capitel. 

Die  Taku-Rhede  im  Spätherbst.  —  Winterstationen  und  -Kreuzungen  der  k.  und  k. 
Escadre  in  Ostasien.  —  Der  »eisfreie«  Ankerplatz  von  Shanhaikuan.  —  Erste 
Reise  des  Contre-Admirals  Grafen  Montecuccoli  in  den  Yangtse.  —  Nochmals 
Taku,  Frühjahrsboten.  —  Wechslung  der  gelandeten  Detachements.  —  Zu- 
sammentreffen mit  S.  M.  Schiflen  »Leopard«  und  »Donau«.  —  Die  Escadre  im 
Yangtse.  —  Einberufung  zweier  Schiffe 541 

IX.  Capitel. 

Charakter  der  Verhandlungen.  —  December-ProtokoU.  —  Verzögernde  Umstände.  — 
Sühne.  —  Sicherungen  für  die  Zukunft.  —  Successive  Zurückziehung  der 
Truppen.  —  Unterzeichnung  des  SchlussprotokoUes.  —  Auflösung  des  Armec- 
Obercommandos.  —  Rückkehr  des  Admirals  mit  »Kaiserin  Elisabeth«  und 
»Zcnta«.  —  Schlusswort 555 

ANHANG. 

Uebersicht  der  von  der  k.  und  k.  Escadre  bis  10.  September  1900  gelandeten 
Detachements 578 

Verzeichniss  der  Spenden  und  Liebesgaben  für  die  Mannschaft  der  Escadre  in 
Ostasien 580 

Verzeichniss  der  während  der  kriegerischen  Ereignisse  in  China  Gefallenen  und  den 
Beschwerden  Erlegenen 581 

Verzeichniss  der  Kriegsbeute 582 


I.  THEIL. 


b* 


I.  Capitel. 


llie  l*tovini  reticluli.  —  Üif  fiem de atcmJ liehe  Bewegung  in  China  uml  deren  Förderer. 
—  Sl^tioiiiruiig  S,  M.  Schiffes  i'Zenlai  iii  Osusicn  und  seuie  Entsendung  dbi;!!  Taku.  — 
Antschiffang  de«  cnlen  ScbutidetachcineiilH  zur  k.  und  k.  Gc^andlsebaft  in  Peking.  —  Etri' 
•Itücke  bei  der  Ucbenchreitung  der  I'eilio  Mündung,  wHlirend  der  Bahnfahrt  und  heim  ICin- 
Ireffcn  in  l'cking.  —  Die  Hahn  Verbindung  abgeschnitten,  —  Ausschiffung  eines  Delaehe- 
ment!  nach  Tient&in, 


D-: 


r  Schauplatz  Jener  Ereignisse,  von  welchen  die 
'  folgenden  Blätter  berichten,    war   die  Provinz 
Petschili,  kurzweg  Tschili  genannt. 

Zwischen  ungefähr  36  und  41"  Nordbreite, 
113  und  119"  östlicher  Länge  von  Greenwich 
gelegen,  nimmt  diese  nordöstlichste  der  18  Pro- 
vinzen des  chinesischen  Kaiserreiches  einen 
Flächenraum  von  300.000  Quadratkilometern 
ein,  wovon  die  Hälfte  innerhalb  der  grossen 
Mauer  gelegen  ist;  die  Bevölkerungsziffer  wird 
sehr  verschieden  angegeben,  dürfte  aber  nicht  viel  weniger  als 
20  Millionen  betragen,  wohingegen  die  Zahl  von  29'/^  Millionen, 
die  angeblich  bei  einer  amtlichen  Volkszählung  durch  die  chine- 
sischen Behörden  im  Jahre  189(5  ermittelt  wurde,  entschieden 
den  Stempel  chinesischer  Amtlichkeit  trägt,  d.  h,  zu  hoch  ge- 
griffen ist. 

Im  Osten  von  der  See  bespült,  grenzt  Petschili  im  Nord- 
osten an  die  Mandschurei,  im  Norden  an  die  Mongolei,  im  Westen 
an  die  Provinz  Schansi,  im  Südwesten  und  Süden  an  die  Provinzen 
Honan  und  Schantung;  gegen  Schansi  bildet  ein  unwirthliches, 
schwer  zugängliches  Gebirge  die  Grenze,  welches  sich  von 
mehreren  zumeist  fruchtbaren,  jedoch  wenig  breiten  Thälern 
unterbrochen,  im  weiten  Bogen  über  Nord  und  Ost  fortsetzt  und 
bei    Schanhaikuan    bis    knapp    an    die     .See    tritt.    Innerhalb   der 

WiatctbalLlci  r  KlmyU  m  Cbifiu.  1 


Provinz  Petschili  selbst  erhebt  sich  nur  in  ihrem  nordwestlichen 
Theile  etwa  35  Kilometer  von  Peking  ziemlich  unvermittelt  ein 
Bergland  von  der  Hohe  des  Mittelgebirges,  dessen  Charakteristik 
ebenfalls  der  Mangel  an  Wald  und  eine  geringe  Wegsamkeit 
bildet;  der  grösste  Theil  ist  somit  eine  von  der  Küste  gegen 
Westen  sanft  ansteigende  Ebene.  In  dieser  lassen  sich  ziemlich 
deutlich  zwei  wesentlich  verschiedene  Abschnitte  erkennen:  der 
unfruchtbare  Küstenstrich,  reich  an  Sümpfen  und  kleinen  Brack- 
wasserseen, hingegen  fast  jeden  Baumwuchses  bar,  welcher  sich 
von  der  See  in  wechselnder  Breite  bis  auf  ungefähr  40  Kilometer 
landeinwärts  erstreckt  und  in  den  noch  das  Gebiet  der  Stadt 
Tientsin  gehört  —  und  die  sich  hieran  schliessende  fruchtbare, 
dicht  besiedelte  Ebene.  Dieses  ganze  Tiefland  ist  durch  die  Ab- 
lagerungen der  zahlreichen  in  den  westlichen  und  nördlichen  Ge- 
birgen entspringenden  Flüsse  entstanden,  welche  noch  immer  in 
die  See  weiterbauen,  verdankt  ihnen  seine  theilweise  grosse  Frucht- 
barkeit, der  aber  die  Verheerungen  durch  häufige  Ueberschwem- 
mungen  trotz  mannigfacher  Schutzvorkehrungen,  wie  Damm-  und 
Canalbauten,  als  Kehrseite  gegenüberstehen. 

Das  Klima  ist  ausgesprochen  Continental.  Auf  einen  kalten, 
trockenen,  Ende  November  einsetzenden  Winter  folgt  ein  heisser, 
während  der  Monate  Juli  und  August  zumeist  sehr  regenreicher 
Sommer,  der  Frühling  beginnt  spät  und  bringt  einerseits  vorzeitig 
warme  Tage,  anderseits  wieder  mit  Nordwest-  und  Nordstürmen 
häufige,  recht  empfindliche  Rückfälle  in  die  Winterzeit;  dem 
Europäer  sagt  der  Herbst  am  meisten  zu,  doch  ist  diese  Jahres- 
zeit in  sanitärer  Beziehung  wegen  des  Entstehens  von  Miasmen 
auf  den  im  Sommer  überschwemmt  gewesenen  Strecken  gleich- 
zeitig die  bedenklichste. 

Zu  allen  Jahreszeiten  macht  sich  jedoch  der  Unterschied 
zwischen  Tages-  und  Nachttemperaturen  empfindlich  fühlbar;  so 
steigt  beispielsweise  in  Peking  im  Winter  die  Temperatur  bei  Wind- 
stille unter  dem  Einflüsse  der  Sonnenwärme  mittags  zumeist  über 
den  Gefrierpunkt,  während  sie  nachts  auf  —  16®  C.  sinkt.  Sommer- 
nächte bringen  nach  der  Abspannung,  welche  eine  Tagestempe- 
ratur von  +  36®  C.  verursacht,  einige  kühle  Stunden  und  im  Früh- 
jahr und  Herbst  endlich  kommen  Nachtfröste  viel  häufiger  vor  als 
selbst  in  bedeutend  höheren  Breiten  Europas. 

Charakteristisch  und  äusserst  lästig  sind  die  mit  Ausnahme  des 
Sommers  und  Frühherbstes  ziemlich  gleich  auf  die  übrigen  Jahres- 
zeiten vertheilten  Staub-  und  Sandstürme ;  ihr  Herannahen  aus  der 
Mongolei    äussert   sich    durch    eine    schmutziggelbe  Färbung   des 


Firmaments,  dieser  Warnung  folgt  zu  Lande  meist  schon  in  sehr 
kurzer  Zeit  der  erste  heftige  Stoss  und  dann  hüllt  der  mächtig 
dahinfegende  Wind  auf  halbe  und  ganze  Tage  Alles  in  Dunkel, 
gleich  dem  dicksten  Londoner  Nebel  die  Aussicht  auf  wenige 
Schritte  benehmend.  Der  Aufenthalt  im  Freien  wird  oft  unmöglich, 
Alles  mit  einer  dichten  Schicht  gelbbraunen  Staubes  überzogen, 
der  auch  in  die  anscheinend  bestverwahrten  Behausungen  unwider- 
stehlich eindringt.  Diese  Stürme  reichen  auch  auf  beträchtliche 
Entfernung  auf  die  freie  See  hinaus,  doch  ist  dort  mitunter  die 
dem  Einflüsse  gegen  das  Land  wehender  Brisen  zuzuschreibende 
Erscheinung  zu  beobachten,  dass  sich  die  warnenden  gelben  Staub- 
wolken stunden-  und  tagelang  in  ziemlich  beträchtlicher  Höhe 
schwebend  erhalten. 

Aus  der  Zusammensetzung  des  aus  Lehm  und  Sand  be- 
stehenden Alluvialbodens  und  dem  Einflüsse  des  Klimas  ergibt 
sich  die  Art  der  Bodencultur;  zumeist  werden  rasch  wachsende 
Pflanzen  gebaut,  doch  befördert  das  Zusammenwirken  grosser 
Feuchtigkeit  und  Wärme  auch  bei  Gewächsen,  die  in  unseren 
Zonen  längerer  Zeit  hiezu  bedürfen  würden,  eine  schnellere  Ent- 
wicklung und  Reife.  Der  Ackerbau  wird  seit  altersher  äusserst 
intensiv,  wenn  auch  noch  immer  mit  ziemlich  primitiven  Geräthen 
betrieben,  wobei  Fleiss  und  ererbte  Geschicklichkeit  der  Bebauer 
die  Mängel  letzterer  wettmachen.  Hauptsächlich  werden  gebaut: 
Mais,  Hirse,  Gerste,  Weizen,  süsse  Kartoffeln,  Obst  aller  Arten 
einschliesslich  Wein,  sehr  viel  Gemüse,  darunter  vornehmlich 
eine  weisse  Rübengattung,  Reis,  Hanf  und  Tabak.  Der  Reis  von 
Tschili  genügt  dem  Bedarf  der  Provinz  nicht  und  steht  auch  hin- 
sichtlich Güte  anderen  Sorten  nach,  weshalb  viel  von  diesem  Ar- 
tikel aus  südlicheren  Provinzen  eingeführt  werden  muss.  Eine  be- 
sondere Abart  von  Mais  —  Kaulian  —  erreicht  die  stattliche  Höhe 
von  3  Metern  und  verleiht  der  damit  bepflanzten  Gegend  einige 
Zeit  hindurch  —  man  lässt  ihn  bis  zu  Anfang  October  stehen  — 
ein  Gepräge  von  Ueppigkeit.  —  Zusammenhängende  grössere 
Wälder  fehlen  gänzlich ;  Baumpflanzungen  finden  sich  zumeist  nur 
in  der  Umgebung  von  Dörfern  und  als  Haine  um  Begräbnissstätten. 
Das  gesammte  Bauholz  muss  von  weither  —  aus  dem  noch  wald- 
reichen Gebiete  des  oberen  Yangtse,  in  neuester  Zeit  auch  aus 
Nordamerika  —  herbeigeschafft  werden ;  als  Brennstoff  dient  nebst 
Reisig  und  Kleinholz  hauptsächlich  mit  Lehm  gemischte  Kohle, 
die  in  der  Provinz  selbst  an  mehreren  Orten,  so  im  Nordwesten 
von  Peking,  in  sehr  bedeutender  Menge  und  für  moderne  Zwecke 
brauchbarer    Qualität    jedoch    in    der    Gegend    von    Kaiping,    an 


letzterem   Orte    auch   durch    vollkommen    moderne   Methoden   gi 
Wonnen  wird. 

Die  Viehzucht  liefert  Rinder,  Ziegen,  namentlich  aber  Schafe, 
ferner  Hühner,  Tauben,  Enten  und  Gänse  in  ausreichender  Menge. 
Die  Enten  des  Pekinger  Districtes  sind  wegen  ihrer  Grosse  und 
des  schönen,  mannigfachen  Zwecken  dienenden  Gefieders  äusserst 
geschätzt.  Tauben  werden  seit  Jahrhunderten  auch  zur  Corre- 
spondenz  auf  längere  und  kürzere  Strecken,  so  z.  B.  von  Kauf- 
leuten  zwischen  den  einzelnen  Stadtvierteln  Pekings  verwende!; 
solche  Briefboten   werden  mit   ganz  leichten  Rohrpfeifchen  unter 


den   Schwingen    versehen,  die   beim   Fluge   laut   ertönen,  was  die 
Thiere  gegen  Raubzeug  schützen  soll. 

Pferde,  ein  äusserst  zäher,  anspruchsloser  und  leistungsfähiger, 
wenn  auch  wegen  des  verhältnissmassig  schweren  Kopfes  unschöne; 
Pony-Schlag.  Esel.  Maultliiere  und  schlieaslich  Kameele  liefert  dil 
Mongolei  in  grosser  Zahl;  die  Maulthiere  gehören  zur  Liebhaberei 
reicher  Chinesen,  schöne  Exemplar«-  stehen  durchschnittlich  viermal 
höher  im  Preise  als  gleichclassige  Ponies  und  werden  ebensowohl 
als  Zug-  wie  auch  als  Reitthiere  benützt.  Die  Kameele  werden 
über  Sommer  wegen  ihrer  Empfindlichkeit  gegen  Feuchtigkeil 
von  den  Mongolen  wieder  in  ihre  Steppen  getrieben. 


An  jagdbaren  Thieren  herrscht  in  Tschiti  kein  Mangel;  Nieder- 
1  Wasserwild  kommt  in  den  reichcultivirten  Flussniederungen 
und  an  den  zahlreichen  kleinen  Seen  des  Küstenstriches  zahlreich 
vor.  ausserdem  versehen  die  im  Winter  in  die  Provinz  kommenden 
Mongolen karawanen  die  grossen  Märkte  mit  diesem  Artikel  äusserst 
reichlich  und  gut. 

Der  Ergiebigkeit  des  Bodens  entsprechend,  sind  die  zusammen- 
hängenden Niederlassungen  im  Küstenstrich,  in  der  fruchtbaren 
Tiefebene  und  im  Berglande  auch  verschieden  dicht  gelegen;  die 
lülkreichste  Stadt  ist  das  als  Provinzialhauptstadt,  Handel  sc  entr  um 


und  Sitz  einer  in  rascher  Entwicklung  begriffenen  Industrie  in 
Blüthe  gestandene  Tientsin  mit  nahejiu  einer  Million  Einwohner; 
ihm  folgt  die  Reichshauptstadt  Peking,  von  der  noch  gelegentlich 
.«.päter  eingehender  die  Rede  sein  wird,  mit  500.01)0— fiOO. 000.  dann  die 
ehemalige  Provinzialhauptstadt  Paotingfu  und  Suanhuafu  mit  je  circa 
200.000  Einwohnern.  Städte,  Märkte  und  Dörfer  sind  in  der  offi- 
ciellen  chinesischen  Classificirung  wohl  strenge  unterschieden, 
doch  geben  für  diese  Einlheilung  noch  andere  Gründe  als  Grösse 
und  Einwohnerzahl  den  Ausschlag,  da  beispielsweise  Taku  mit 
Mirintm  circa  26.000  Köpfen,  meist  Fischer  und  Flusschiffer,  noch 
immer  unter  die  Dörfer  zählt.    Alle  Ansiedlungen  haben,    so  ver- 


schieden  gross  sie  aber  auch  sein  mögen,  das  gemeinsame  Merk- 
mal einer  Umwallung,  die  zum  Theil  auf  das  ehedem  und  in 
gewissem  Grade  vielleicht  auch  noch  heute  gerechtfertigte  Be- 
dürfniss,  sich  gegen  Ueberfalle  zu  schützen,  zu  einem  guten  Theile 
aber  zweifellos  auf  die  abergläubische  Furcht  vor  bösen  Geistern 
zurückzuführen  ist.  In  Peking  beschützen  gigantische,  an  17  Meter 
hohe  und  15  Meter  breite,  äusserst  kunstfertig  angelegte,  mit 
Wachthürmen  und  Bastionen  versehene  Mauern  den  Sitz  des 
Herrschers  von  China. 

In  anderen  Städten  verringern  sich  die  Dimensionen  der 
Schutz  wehren  je  nach  der  Wichtigkeit  des  Platzes  auf  12  und 
8  Meter,  um  endlich  bei  kleineren  Ortschaften  zu  einer  manns- 
hohen Lehmmauer,  die  selbst  bei  den  wenigen  einzelnstehenden 
Gehöften  nicht  fehlen  darf,  zusammenzuschrumpfen. 

Im  Gegensatze  zum  Süden  Chinas  besitzen  die  Städte  Tschilis 
relativ  breite  Strassen;  Schmutz  und  Verwahrlosung  der  Wege 
sind  aber  hier  wie  dort  die  gleichen,  ersteren  zu  beseitigen  über- 
lässt  man  Hunden,  Raben  und  den  heilig  gehaltenen  Elstern, 
Strassenausbesserungen  bedürfen  jeweils  eines  besonderen  Anlasses 
und  werden  auch  dann  meist  nur  als  eine  Gelegenheit,  von  den 
dafür  ausgeworfenen  Mitteln  möglichst  viel  bei  Seite  zu  schaffen, 
betrachtet. 

An  Brunnen  fehlt  es  nicht,  doch  liefern  nur  die  wenigsten 
in  natürlichem  Zustande  trinkbares  Wasser,  Abkochen  und  Fil- 
triren  sind  unerlässliche  Vorsichtsmassregeln  für  den  Fremden, 
der  Chinese  selbst  geniesst  nur  selten  frisches  Wasser  als  Getränk, 
sondern  hält  sich  lieber  an  seinen   Thee. 

Die  Bauart  der  Häuser  richtet  sich  nach  den  Vermögensver- 
hältnissen der  Besitzer;  Bauern  und  die  ärmeren  Städter  begnügen 
sich  mit  kunstlosen  Hütten  aus  Lehmfachwerk,  sehr  oft  nur  mit 
Schilf  eingedeckt,  besser  Situirte  verwenden  Holz  und  Rohziegel. 
Letztere  sind  auch  bei  den  Behausungen  der  Reichen  das  Haupt- 
material, doch  fallen  diese  durch  die  verschwenderische  Ausstattung 
mit  kunstvoll  behauenem  Stein  und  Marmor,  geschmackvoll  ge- 
schnitzten Pfeilern  und  Rahmen  aus  Holz,  endlich  durch  die  Be- 
dachung mit  glasirten  Ziegeln  auf. 

Die  von  Chinesen  bewohnten  Häuser  haben  gewöhnlich  nur 
ein  Erdgeschoss,  ein-  oder  mehrstöckige  Häuser  bilden  Ausnahmen 
oder  deuten  auf  den  Einfluss  Fremder;  der  daraus  resultirende 
Zug  ins  Breite  verleugnet  sich  auch  bei  Regierungsgebäuden, 
Tempeln  und  Prunkbauten  nicht,  bei  welch  allen  ausserdem  die 
Sorgfalt    auffallt,    die   auf   schwere,    den  Eindruck    des    Massiven 


machende  Dächer  und  starke,  reichornamentirte  Thore  verwendet 
wird.  Gegen  öffentliche  Wege  zu  sind  die  meisten  Häuser  — 
die  grossen  Kaufläden  abgerechnet  —  durch  eine  Vormauer  ab- 
geschlossen; Höfe  und  grössere  oder  kleinere  Gärten  im  Innern 
derartiger  Complexe  sind  daher  eine  Nothwendigkeit;  die  Stelle 
von  Glas  vertritt  bei  den  Fenstern  Papier,  das  nur  gedämpftes 
Licht  einläast.  Innerhalb  der  Häuser,  selbst  kleiner  und  ärmlicher. 
stÖSSt  man  immer  wieder  auf  frpisfhenflf ,  ifri.-m  Finefafitr  vor- 
gelagerte  Mail. TU    ...l.T    l■.r.■t^.■l■\^:ln.]^,   ,Vu-   .].':;    :,M-,'n   ([.-i^l^Tii    (li.-n 


Weg  verlegen  sollen  —  eine  Einrichtung,  die  die  Durchsuchung 
sehr  erschwert. 

Die  grosse  Winterkälte  bedingt  Heiz  Vorrichtungen,  die  meist 
darin  bestehen,  dass  die  Lagerstätten  (Kang)  aufgemauert  sind  und 
eine  Feuerstelle  für  Kohlenfeuerung  enthalten ;  ausserdem  stehen 
Kohlenbecken  im  Gebrauch,  doch  ist  die  Bedienung  von  beiden 
Apparaten  nicht  so  einfach  und  muss  sehr  sorgfältig  aus- 
geübt werden,  um  die  Gefahr  der  Entwicklung  von  Stickgasen 
abzuwenden. 

Abgesehen  von  den  Monumentalbauten  in  und  um  Peking 
tuid  von  der  Fremdenniederlassung  in  Tientsin.  deren  Beschreibung 
jedoch    aus«ierhalb    des  Rahmens   dieser  Darstellung   fällt,    bringt 


der  Besuch  der  Städte  Tschilis  auf  den  ersten  Blick  den  Eindruck 
des  Aermlichen  hervor,  ähnlich  wie  die  ganze  Landschaft,  vor  der 
Zeit  befruchtenden  Regenfalles  betrachtet,  stellenweise  geradezu  trost- 
los aussieht;  ein  näherer  Einblick  lässt  aber  gewahren,  dass  das 
Land  und  seine  Bewohner  viel  reicher  sind  und  über  viel  be- 
deutendere Hilfsquellen  verfügen,  die  allerdings  bisher  wegen  der 
primitiven  Verkehrsmittel  nicht  in  vollem  Masse  verwerthet  werden 
konnten. 

Der  Zugang  zu  Tschili  von  auswärts  ist  der  Seeweg  an  die 
Peiho-Mündung  und  von  dort  den  Fluss  aufwärts;  im  Innern  der 
Provinz  verbinden  mehrere  schiffbare  Flüsse  und  Canäle,  dann 
aber  auch  zahlreiche  Strassen  die  einzelnen  Theile,  doch  muss  an 
die  Bezeichnung  Strasse  ein  niederer  Masstab  angelegt  werden, 
meist  sind  es  nur  für  die  landesüblichen,  zweiräderigen  Karren 
und  Reitthiere  passirbare  Naturwege. 

Das  betriebene  Eisenbahnnetz  bestand  beim  Ausbruch  der 
Wirren  nur  aus  den  Linien  Peking  (Matschapu) — Tientsin  — 
Tongku  und  Tongku — Lutai — Shanhaikuan  mit  der  Fortsetzung 
nach  Kintschou  in  der  Mandschurei,  ferner  von  der  Pekinger 
Linie  in  Fengtai  abzweigend  nach  Paotingfu;  an  der  Linie 
Paotingfu — Hankau,  welche  den  Anschluss  zu  Lande  an  das  reiche 
Yangtse-Thal  bilden  sollte,  wurde  von  den  Concessionären,  einem 
franco-belgischen  Syndicat,  von  beiden  Endpunkten  an  fleissig 
gebaut. 

Die  SchiflFahrtsverhältnisse  im  Golf  von  Petschili  sind  nicht 
eben  die  günstigsten ;  zwar  erreichen  die  Taifune  den  Golf  nicht, 
doch  nothigen  schwere  Stürme  aus  der  Nordhälfte  der  Rose  zur 
Winterszeit,  Nebel  im  Frühjahr  und  Herbst,  im  Sommer  häufige, 
mit  grosser  Heftigkeit  auftretende  Gewitterböen,  dann  die  starken, 
durch  Windverhältnisse  nicht  unwesentlich  beeinflussten  Gezeiten- 
strömungen zur  Vorsicht. 

Die  Punkte,  wo  eine  Landung  möglich  ist,  Taku  an  der 
Peiho-Mündung,  ferner  Tschinwangtau  und  Shanhaikuan,  bieten 
nur  offene  Rheden.  Die  erstgenannte  bleibt  aber  während  der 
Zeit  von  Anfang  December  bis  zur  ersten  Hälfte  März  in  Folge 
Vereisung  des  Peiho  und  der  See  selbst  unzugänglich  und  auch 
an  beiden  letzteren,  die  auch  sonst  den  Vortheil  grösserer  Wasser- 
tiefe  für  sich  haben,  hängt  die  Möglichkeit  des  Verkehres  mit 
dem  Lande  zu  allen  Jahreszeiten  von  der  eben  herrschenden  Wind- 
richtung ab;  in  strengen  Wintern  setzt  sich  auch  da  das  aus 
dem  nördlichen  Theile  des  Liau-tung-Golfes  kommende  Eis  tage- 
und  wochenlang  fest. 


Grossere  Schiffe  müssen  4 — 5  Seemeilen  vor  der  Peiho-Barre 
liegen,  sind  hinsichtlich  des  Verkehres  mit  dem  Flusse  auf 
kleine  Schleppdampfer  und  Lichterboote  angewiesen  und  erleiden 
deren  Lademanipulationen  durch  den  starken  Seegang,  ver- 
bunden mit  der  Strömung  erhebliche  Verzogerungen  und  Unter- 
brechungen ;  der  schlechte  Ankergrund,  sehr  weicher  Schlamm, 
macht    auch,    besonders    wenn    mehrere    Schiffe    auf    der   Rhede 


Bahnstrecke    Tientstn— Peking 


PEKING 

Feno^td 


liegen,  Vorsichtsmassregeln  gegen  Treiben  und  dadurch  mögliche 
Collisionen  nothwendig. 

Die  Peiho-Barre  gestattet  bei  Hochwasser  Fahrzeugen  von 
nicht  mehr  als  12  englische  Fuss  Tauchung  die  Passage,  aus- 
nahmsweise bei  Springfluth  auch  13  Fuss,  bei  Ebbe  steht  dagegen 
nur  1  Fuss  Wasser  über  dem  Grunde ;  aber  auch  hier  spricht  die 
Windrichtung  oft  noch  in  unangenehmer  Weise  mit,  indem  in 
Folge  von  Westwinden  die  Wassermassen  zurückgedrängt  werden 
und    die  Fluth  nicht  die  normale   Höhe  erreicht.     Es  ist  gar  kein 


10 

seltenes  Bild,  eine  kleine  Flotille  von  Dampfern,  die  unter  nor- 
malen Verhältnissen  die  Barre  glatt  passirt  hätten,  im  Schlamme 
festsitzen  zu  sehen. 

Gegenwärtig  ist  die  Versandung  des  Peiho  so  weit  fort- 
geschritten, dass  kein  Seedampfer  mehr  über  Tongku  aufwärts 
fährt,  während  dies  noch  vor  8 — 10  Jahren  bis  Tientsin  möglich 
war.  Dampfbarkassen  und  Dschunken  von  geringer  Tauchung 
vermitteln  den  Verkehr  auf  dem  Flusse. 

Bei  Tientsin,  das  bloss  3  Meter  über  dem  Meeresspiegel  ge- 
legen ist,  münden  der  Kaisercanal,  aus  dem  Süden  kommend,  der 
Hunho,  ein  im  Nordwesten  Tschilis  entspringender,  ca.  100  Kilo- 
meter weit  schiffbarer  Fluss,  einige  kleinere  Wasserläufe  und 
der  Lutai-Canal  in  den  Peiho;  es  ist  daher  kein  Wunder,  wenn 
Tientsin,  als  Knotenpunkt  des  gesammten  Verkehres  sich  rasch 
und  kräftig  blühend  entwickelnd,  die  schwerer  zugängliche  Reichs- 
hauptstadt beträchtlich  überflügelt  hat.  Der  Kaisercanal,  auch 
Yun-ho  genannt,  spielt  als  Binnenweg  nach  den  südlichen  Pro- 
vinzen und  namentlich  als  Strasse,  auf  dem  der  Tributreis  nach 
Peking  gebracht  wird,  eine  bedeutende  Rolle.  Der  Peiho  ist  bis 
Tungtschau,  das  durch  einen  ungefähr  20  Kilometer  langen  Canal 
mit  Peking  in  Verbindung  steht,  schiffbar ;  sein  Lauf  weist  viel- 
fache Krümmungen  auf,  ist  wegen  des  geringen  Gefälles  träge, 
der  Wasserstand  ebenso  veränderlich  wie  die  Niederschläge.  Je 
nach  Wasserstand  und  Windrichtung  brauchen  flussaufwärts 
fahrende  Dschunken  von  Tientsin  bis  Tungtschau  4 — 6  Tage,  zur 
Thalfahrt  3,  unter  besonders  günstigen  Verhältnissen,  d.  h.  wenn 
auch  die  Nacht  über  gefahren  werden  kann,  auch  nur  2  Tage; 
wenn  nicht  Segel  geführt  werden  können,  geschieht  die  Fort- 
bewegung durch  Schieben  mit  Stangen  und  Schleppen,  wobei  die 
chinesischen  Schifferleute  eine  bewunderungswürdige  Ausdauer 
und  Unempfindlichkeit  gegen  äussere  Einflüsse  zeigen.  Von 
Sonnenaufgang  bis  zum  Einbruch  völliger  Dunkelheit  ziehen 
diese  Leute  fast  nackt  ununterbrochen  und  unverdrossen  am 
Schlepptau,  wobei  sie  alle  Augenblicke  bis  an  die  Schultern  im 
Wasser  und  Schlamm  watend  Seitenarme  übersetzen  müssen  oder 
das  auf  einer  Bank  festgefahrene  Fahrzeug  wieder  in  tieferes 
Wasser  abschieben  helfen.  Um  aber  die  Umständlichkeit  von 
Transporten  zu  illustriren,  sei  auch  noch  erwähnt,  dass  beispielsweise 
die  grossen  Reismengen  in  Tungtschau  in  kleinere  Boote  umgeladen 
werden  müssen,  um  nach  Peking  gebracht  zu  werden;  da  aber 
der  dahin  führende  Canal  mehrere  Wehre  enthält,  um  die  restliche 
Niveaudifferenz  zwischen  Tungtschau  und  der  bloss  37  Meter  über 


11 

der  See  gelegenen  Hauptstadt  zu  bewältigen,  erneuert  sich  das 
Zeit  und  Mühe  verschlingende  Umladen  bei  jedem  derselben  — 
nicht  zum  Nachtheile  der  zahlreichen  kleinen  Beamten,  Aufseher 
und  Arbeiter.  Wegen  des  Umladens  wurden  die  meisten  fluss- 
aufwärts  gekommenen  Güter  von  Tungtschau  an  nicht  mehr  auf 
dem  Canal,  sondern  mittelst  Karren  und  Wheelbarrows  (einräderige 
Schiebkarren)  nach  Peking  transportirt. 

Die  Wichtigkeit  der  übrigen  Verbindungen  zwischen  der 
Küste,  respective  Tientsin  und  Peking  rechtfertigt  es,  gleich  an 
dieser  Stelle  die  beiden  Landwege  dahin  zu  besprechen. 

Von  Tientsin  führen  auf  beiden  Peiho-Ufern  Wege  nach  der 
Flussmündung;  die  am  meisten  benützte  Strasse  nach  Peking  ist 
am  rechten  Ufer  gelegen,  berührt  die  grösseren  Orte  Yangtsun, 
Hosiwu,  Matou  und  Tungtschau  und  hat  eine  Länge  von  ungefähr 
125  Kilometern. 

Von  Tungtschau  aus  führen  drei  Weglinien,  den  Canal  auf 
der  steingebauten  Palikao-Brücke  überschreitend,  nach  Peking; 
davon  ist  die  nördlichste  eine  alte  Kunststrasse  und  unter  dem 
Namen  Mandarinstrasse  bekannt.  Aus  nach  unseren  Begriffen 
ganz  unförmlichen,  1'3  Meter  langen,  80 — 90  Centimeter  breiten 
und  bis  zu  50  Centimeter  dicken  Quadern  hergestellt,  bot  sie  zur 
Zeit,  wo  sie  noch  neu  oder  mindestens  besser  erhalten  war, 
den  unschätzbaren  Vortheil,  auch  zur  Regenzeit  benutzbar  zu 
sein;  ihr  dermaliger  Zustand,  viele  Quadern  fehlen  nämlich,  lässt 
aber  die  beiden  anderen  ungepflasterten,  oft  dem  Grundlosen  nahen 
Wege  noch  immer  besser  erscheinen,  denn  letzteres  tritt  doch 
nur  während  der  Regenzeit  ein,  während  auf  der  Mandarinstrasse 
Vehikel  und  die  Beine  der  Zugthiere  unter  allen  Umständen  der 
Gefahr  zusammenzubrechen  ausgesetzt  sind.  Zu  Pferde  legte  man 
die  Strecke  Tientsin — Peking  ohne  besondere  Anstrengung  in 
2  Tagen,  geübtere  Reiter  mit  Benützung  von  Relais  sogar  in  nur 
20  Stunden  zurück. 

Die  Bahntrace  ist  von  Tongku  bis  Yangtsun  —  etwa  33  Kilo- 
meter nördlich  von  Tientsin  —  auf  dem  linken  Ufer  geführt, 
übersetzt  dann  auf  einer  von  steingebauten  Pfeilern  getragenen 
Eisenbrücke  den  Fluss  und  biegt  in  nordwestlicher  Richtung  von 
ihm  ab ;  den  Schienenstrang  innerhalb  die  Stadtmauern  Pekings, 
sei  es  auch  nur  in  die  Chinesenstadt,  zu  führen,  verboten  die 
Vorurtheile  der  herrschenden  Classen,  die  ohnedies  dem  ganzen 
Bahnprojecte  seinerzeit  hartnäckigen  Widerstand  entgegengesetzt 
hatten,  und  so  endete  die  Linie  in  Matschapu  —  d.  i.  etwa  25  Kilo- 
meter vom  mittleren  Südthore  der  Chinesenstadt.  Eine  elektrische 


12 

Trambahn  beforderte  seit  dem  Frühjahr  1900  die  Reisenden  von 
Matschapu  zum  Yungtingmen.  In  technischer  Hinsicht  waren  beim 
Bahnbaue  keine  grossen  Schwierigkeiten  zu  überwinden;  im 
Ueberschwemmungsgebiete  des  Peiho  liegen  die  Geleise  auf  einem 
Damm,  der  jedoch  im  Masse  der  Entfernung  der  Trace  vom 
Flusslaufe  an  Höhe  abnimmt  und  endlich  ins  Gelände  verläuft; 
ausser  der  grossen  Brücke  bei  Yangtsun  waren  nurUebersetzungen 
von  geringer  Spannweite  herzustellen.  Die  ganze  Fahrt  Tongku — 
Peking  beansprucht  bei  normalem  Betriebe  —  Eilzugsverkehr  von 
Tientsin  an  —  b\  Stunden. 

Es  mag  hier  gleich  erwähnt  werden,  dass  sich  der  unter 
europäischer  Oberleitung  stehende,  jedoch  von  chinesischem  Per- 
sonal ausgeübte  Eisenbahnbetrieb  trotz  vieler  Frictionen  mit  der 
Neuerungen  abholden  Bevölkerung  und  der  Anfeindungen,  welche 
ihm  die  vordem  eine  Art  Monopol  ausübenden  Transportunternehmer 
unablässig  bereiteten,  im  grossen  (xanzen  schon  eingelebt  und 
seine  Vortheile  für  die  Allgemeinheit  unwiderlegbar  erwiesen  hatte. 

Vor  Ausbruch  der  Wirren  waren  Tientsin  und  Peking  mit- 
einander durch  zwei  Telegraphenlinien,  wovon  eine  zur  Eisenbahn 
gehörte,  verbunden;  von  Peking  aus  führte  eine  Landlinie  nach 
Kiachta,  wo- sie  sich  an  das  russische  Netz  schloss;  Tientsin  stand 
über  Tsinanfu  und  Paotingfu  mit  dem  Landnetze  des  centralen 
China  und  über  Lutai  auch  mit  Niutschwang  in  Verbindung.  Der 
Mangel  eines  etwa  von  Shanghai  zur  Peiho-Mündung  führenden 
Kabels  machte  sich  im  Verlaufe  der  Begebenheiten  bitter  fühlbar. 

Die  flüchtige  Besprechung  der  Verkehrsmittel  Tschilis  wäre 
jedoch  ohne  die  Erwähnung  der  uralten  chinesischen  Courierpost 
in  einem  wesentlichen  Punkte  lückenhaft,  die  auch  durch  die  Ein- 
führung des  telegraphischen  Verkehres  nicht  ganz  unentbehrlich 
geworden  ist.  Die  Regierung  hatte  zur  Beförderung  ihrer  eigenen 
Post  im  ganzen  Reiche  einen  Dienst  reitender  Couriere  organisirt, 
der  ganz  hervorragend  rasch  und  durch  äusserst  strenge  Gesetze 
geschützt,  auch  sehr  zuverlässig  functionirte.  Die  stete  Bereit- 
haltung frischer  Relaispferde  und  Couriere  in  bestimmten  Orten 
bildete  eine  der  wichtigsten  und  auch  am  gewissenhaftesten  aus- 
geübten Pflichten  der  Beamten ;  andererseits  genossen  die  Couriere 
selbst  in  Ausübung  ihres  Dienstes  grossen  Respect  bei  der  Be- 
völkerung. Wenn  von  glaubwürdiger  Seite  versichert  wird,  dass 
dringende*)  Befehle  der  Pekinger  Regierung  wiederholt  nicht  länger 
als  10  Tage  brauchten,  um  in  die  äussersten  südwestlichen  Provinzen 

*)  Um  cioe  Depesche  als  dringend  zu  bezeichnen,  wurde  eine  Vogelfeder  an  dem 
Umschlag  befestigt. 


ytilaiigen,  so  erscheint  eine  Tagesleistung  von  350  Kilometern, 
wie  sie  auf  gewissen  Strecken  auch  während  der  kriegerischen 
Ereignisse  des  Jahres  1900  nachgewiesen  werden  kann,  noch  nicht 
«tas  Maximum  der  Leistungsfähigkeit  der  ganzen  Institution  zur 
Zeil    ihrer  Blüthe  gewesen  zu  sein. 

Die  Besprechung  der  Bevölkerung  muss  sich  auf  das  Knappste 
beschränken,  denn  auf  diesem  Gebiete  würde  die  Menge  und  der 
Reiz  des  Stoffes  viel  zu  weit  führen,  ohne  Aussicht,  den  Leser 
der  Lösung  des  Räthsels  näher  zu  bringen,  welches  die  Wider- 
sprüche zwischen  den  Anschauungen  und  der  Handlungsweise 
der  Zopfträger  mit  den  dieselben  Punkte  betreffenden  Begriffen 
der  Westländer  bieten,  gar  nicht  zu  erwähnen  die  anscheinenden 
Ungereimtheiten  im  Charakter  des  chinesischen  Volkes  selbst.  So 
viel  auch  gewissenhafte,  vorurtheilsfreie  Beobachter  durch  jahr- 
lehntelanges  Verweilen  im  Lande,  Verkehr  mit  seinen  Bewohnern 
unter  den  denkbar  verschiedensten  wechselseitigen  Beziehungen 
und  —  was  hiefür  unerlasslich  —  mühevolle  Forschung  in  dem  un- 
geheuren Reiche  chinesischer  Literatur  festgestellt  haben,  so 
geben  uns  alle  diese  kostbaren  Errungenschaften  doch  eigentlich 
nur  Mittel  an  die  Hand,  bereits  Geschehenes  zu  erklären  und 
seinen  Zusammenhang  zu  verstehen,  während  sie  nur  zu  oft  uns 
Abendländer  im  Stiche  gelassen  haben  und  noch  lassen  werden, 
wenn  wir  sie  als  Schlüssel  für  bevorstehende  Entwicklungen  an- 
wenden wollen.  )Das  Unwahrscheinlichste  ist  das  Wahr.scheinlich- 
tte«  —  im  Sophismus  dieses  schon  von  manchem  Chinakenner 
gcthanen  Ausrufes  liegt  die  ganze  Unmöglichkeit,  den  Chinesen 
in  seiner  Weise  zu  übertreffen,  gleichzeitig  weist  er  aber 
darauf  hin,  dass  die  Fremden  im  Verkehr  mit  den  Vertretern 
einer  so  grundverschiedenen  Anschauung  aller  Dinge  zweifellos 
am  besten  fahren  werden,  wenn  sie  die  grossen,  von  den,West- 
vÖlkem  als  ethisch  richtig  erkannten  Grundzüge  mit  Festigkeit 
beibehalten  und  auf  chinesische  Begriffe  nur  so  weit  eingehen, 
um  sich  gegen  die  Fallen  zu  sichern,  die  ihnen  der  klügelnde, 
hinterhältige  Sinn  der  Gegenpartei  stellen  mag, 

inTschili  ist  naturgemäss  das  Element  des  Mandschustammes, 
dem  die  gegenwärtige  Dynastie  angehört,  numerisch  stärker  als 
in  irgend  einer  anderen  Provinz  vertreten;  die  Mandschu  bilden 
die  nächste  Umgebung  des  Kaisers,  besetzen  alle  Hofamtcr.  aus 
ihnen  ssetzen  sich  die  Bannertruppen  zusammen  und  aus  ihrem 
Stamme  wählt  der  Herrscher  die  fallweise  mit  weitgehenden  Voll- 
machten ausgerüsteten,  vom  Volke  so  gefürchteten  Special-Com- 
missäre.     Der    fortschreitende    Process    der    Assimilirung   hat    die 


urspi-ünglichen  Unterschiede  in  moralischer  und  physischer  Bezie- 
hung zwischen  herrschendem  und  unterworfenem  Volk  jedoch  fast 
verschwinden  g-emacht.  so  dass  eine  halbwegs  genaue  Angabe 
über  die  Zahl  der  Mandschu  unmöglich  ist ;  vor  Allem  gilt  dies  vom 
kriegerischen  Geist  der  einstigen  Eroberer,  die  durch  Jahrhunderte 
Sinecuren  genossen,  dadurch  verweichlichten  und  in  ihrer  anwach- 
senden Nachkommenschaft  zum  Theile  auch  wieder  verarmten. 
Die  Mischung  mit  dem  rein  chinesischen  Element  bildete  die  nächste 
Folge;  aber  auch  die  Mandschu-Familien,  die  reich  und  einflussreirh 
blieben    oder  sich  bedeutende  Macht  zu   erringen  wussten,  haben 


von  der  Methode,  nach  der  sie  als  Beamte  gegen  das  chinesisclw 
Volk  vorgehen  mussten,  so  viel  vom  Wesen  des  letzteren  in 
aufgenommen,  dass  sie  für  die  Fremden  eigentlich  nur  mehr  all 
aristokratisches,  conservativstes  Element  in  der  Verwaltung  in 
Betracht  kommen.  In  der  physischen  Erscheinung  unt(.'rscheidci 
sich  die  Mandschu  gegenwärtig  fast  gar  nicht  mehr  von 
Chinesen,  die  Frauen  haben  allein  ein  sicheres  Merkmal,  das  abai 
nur  beim  Vergleich  mit  den  höheren  Classen  luverlässig  ist,  aU 
verkrüppeln  ihre  Füsse  nicht. 

Der  Nordchineae  ist  Jra  Allgemeinen  weniger  kräftig  als  dei 
Südchinese:    dies   gilt  von    seiner  leiblichen  VeraiiUgung  vbcnsc 


wie  von  seinen  Leidenscliaften.  In  vieler  Richtung-  stehen  sich 
auch  im  Reiche  iter  Mitte  Nord  und  Süd  nichts  wenig^er  als 
brüderlich  gegenüber,  so  dass,  ganz  abgesehen  von  der  gänzlichen 
Verschiedenheit  der  Volkssprache,  von  einem  gegenseitigen  Ver- 
ständniüü  oder  gar  einer  Solidarität  —  zum  Heile  der  Fremden  — 
iiichl  die  Rede  sein  kann:  trotzdem  sind  die  charakteristischen 
Züge  des  Volkes  überall  die  gleichen. 

Anspruchslos  und  bienenemsig,  so  lange  dL-r  ersehnte  Wohlstand 
nicht  erreicht  ist  —  und  mit  Absicht  träge  und  ein  verschwen- 
derischer Schlemmer,  sobald  er  das  gesteckte  Ziel  erreicht  hat; 
kindisch  in  seinen  Vergnügungen,  stets  geneigt,  sich  harmlos  zu 
belustigen  —  und  raffinirt  in  seinen  Ausschweifungen  und  seiner 
Grausamkeit;  nur  seiner  Familie,  vor  allem  der  Mutter  lebend  und 
mit  seinen  Begriffen  von  Zusammengehörigkeit  auf  die  Sippe  und 
das  HeimaLsdorf  beschränkt  und  unpatriotisch  —  dafür  der  ge- 
fährlichste Geheimbündler  von  Natur  aus;  für  Leib  und  Habe  als 
Einzelner  sehr  besorgt  —  und  doch  unter  guter  Führung  blind 
nachfolgend  in  jede  Gefahr;  durch  Naturell  und  Volkserziehung 
heuchlerisch  und  verlogen  —  als  Kaufmann  dagegen  streng  reell 
eingebildet  auf  seine  feinen  Lebensformen  — und  über  alle  Massen 
rob  gegenüber  leidenden  Mitmenschen:  durch  Aberglauben  lächer- 
lich ängstlich  vor  ganz  natürlichen  Erscheinungen  —  stoisch  gegen 
über  Torturen  und  dem  unabwendbaren  Ende. 

Oiese  Aufzählung  widersprechender  Eigenschaften  erschöpft 
noch  lange  nicht,  was  man  während  eines  relativ  kurzen  Aufent- 
haltes unter  Chinesen  aus  den  täglichen  Vorkommnissen  ersieht, 
und  in  den  nachfolgenden  Seiten  finden  sich  genug  Facten.  welche 
den  l-eser  zu  denselben  Schlüssen  kommen  lassen  dürften. 

Das  Staatsgefüge  des  grössten  Reiches   der  Welt    selbst   ist 
auf   solchen     anscheinend    incompatiblen    Grundsätzen    aufgebaut : 
despoti.sch  central  istisch  in  Altem,   was  die  Djniastie  und  den  retro- 
spectiven,     die     Autorität    des    Regenten     befestigenden    Grund- 
gedanken betrifft,  lässt  die  Regierung  gleichwohl 
fden    einzelnen    VicekÖnigen    fast    unumschränkte 
.Macht  als  Verwalter,   Kriegs-  und   Gericbtsherren 
innerhalb  ihrer  Provinzen,    begnügt   sich  mit   der 
Ablieferung  der  Tribute,  günstigen  Berichten  und 
der  Vermeidung  ernster  Verlegenheiten;  von  einer 
unvergleichlichen  Nachsicht  und  Güte  gegen  ihre 
Organe,  wenn  sie  nur  die  wahrlich  nicht  geringen 
Bedürfnisse   des   Hofes  und   seines  zahllosen   An- 
hange.s  zu  befriedigen  und  den  Schein  zu  wahren 


16 

wissen,  schreitet  sie  doch  mit  barbarischer  Strenge  gegen  solche 
ein,  die  gewisse  Winke  nicht  verstehen  wollen  oder  selbstständige, 
vielleicht  wirklich  von  der  besten  Absicht  getragene  Vorschläge 
nicht  so  zu  unterbreiten  wissen,  als  ob  sie  vom  Throne  selbst 
ausgehen  würden.  In  solchen  Fällen  hält  man  sich  unerbittlich  an 
das  Gesetz,  dass  der  Aelteste  für  die  Frevel  irgendwelcher,  nicht 
fahndbarer  Mitglieder  seiner  Sippe  haftbar  sei  —  die  Pekinger 
Regierung  beruft  den  bisher  allmächtigen  Vicekönig  vor  ihr  Ge- 
richt, gleichwie  dieser  mit  den  Bezirksvorstehem  (Taotai),  diese 
mit  den  Stadtältesten  und  diese  letzten  endlich  mit  den  Häuptern 
der  Familien  zu  verfahren  gewohnt  waren. 

So  erfolgreich  ein  solches  Princip  im  Ganzen  sein  mag,  so 
eröffnet  es  doch  gleichzeitig  der  Geschicklichkeit  unverantwort- 
licher, scrupelloser  Hintermänner  zu  verlockende  Perspectiven, 
ja  züchtet  geradezu  die  crasseste  Corruption  und  ein  schwer  be- 
kämpfbares Cliquenwesen,  wozu  das  einseitige  Bildungssystem 
der  höheren  Classen  noch  kräftigst  mithilft. 

Die  Corruption  ist  so  weit  gediehen,  dass  die  erfolgreiche 
Verantwortung  gegenüber  erhobenen  Anklagen  eine  reine  Geld- 
frage darstellt.  Dies  gilt  ebenso  von  der  gemeinen  Rechtsprechung, 
wie  für  hohe  Würdenträger,  die  oft,  als  Beschuldigte  vorgerufen, 
mit  hohen  Ehren  zurückkehren,  wenn  sie  nur  genug,  nach  unseren 
Begriffen  manchesmal  ein  Vermögen  aufwenden,  um  durch  Ver- 
mittlung einflussreicher  Personen  einer  Audienz  beim  Kaiser 
theilhaftig  zu  werden. 

Bei  der  Ablegung  der  Literaten-Prüfungen,  deren  es  drei 
Grade  gibt,  wird  eine  umfassende  Kenntniss  der  Geschichte,  der 
Classiker  und  die  Fähigkeit  gefordert,  ein  beliebiges  Citat  oder 
eine  alte  These  in  möglichst  blumenreicher  Sprache  zu  interpre- 
tiren,  variiren,  mit  anderen  Citaten  oder  Episoden  aus  der 
Geschichte  zu  illustriren  und  zu  vergleichen ;  nun  wäre  das  Uebel 
noch  nicht  so  gross,  wenn  es  dem  Candidaten  auch  freistünde, 
vielleicht  doch  bei  den  vielen  Speculationen,  in  denen  er  sich  er- 
gehen muss,  um  nur  seiner  Clausurarbeit  den  genügenden  Umfang 
zu  geben,  auch  eine  eigene,  vielleicht  neue  Ansicht  auszusprechen 
und  sie  zu  vertheidigen.  Ein  solcher  Versuch  wäre  aber  gleich- 
bedeutend mit  einem  Sacrilegium  an  den  Classikern  und  hätte 
darum  für  den  Prüfling,  der  15 — 20  Jahre  seines  Lebens  oft  unter 
den  härtesten  Entbehrungen  und  nur  dank  schwerer  Opfer  seiner 
Familie  oder  Freunde  auf  seine  Vorbereitung  verwendet  hat,  die 
bittersten  Folgen,  vor  Allem  den  Verlust  der  Hoffnung,  je  zu  einem 
ihn  und  seine  Beschützer  entschädigenden  Amte  zu  gelangen. 


17 

Diese  Einseitigkeit  im  Stoffe  des  Studiums  und  der  absolute 
Zwang,  nur  so  zu  urtheilen,  wie  es  vielleicht  vor  einem  Jahr- 
tausend  thatsächlich  berechtigt  gewesen,  sind  der  principielle 
Fehler  des  ganzen  Bildungssystems.  Auf  ihn  ist  die  Sophistik  und 
erstaunliche  Geschicklichkeit,  Unrecht  als  Recht  darzustellen,  die 
Erstarrung  im  Geistesleben  und  die  Verzerrung  ursprünglich  reiner 
Lehren,  auf  die  Strenge  und  Befangenheit  der  aus  derselben 
Schule  hervorgegangenen  Prüfungscommissäre  die  spätere  Härte 
und  Scrupellosigkeit  der  privilegirten  Literaten  zurückzuführen. 
Aus  solchen  Anfängen  hervorgegangene  Beamte  entbehren,  wie 
nur  zu  begreiflich,  des  Blickes  für  die  Erfordernisse  des  realen 
Lebens,  sie  stehen  sich  ergebenden  neuen  Lagen  gegenüber  ohne 
die  Stütze  eines  selbstschaffenden  Denkens,  missbrauchen  dafür 
bestenfalls  in  der  Ueberzeugung,  es  zur  Ehre  der  alten  Ueber- 
lieferung  thun  zu  müssen,  meist  aber  absichtlich  ihres  persönlichen 
Vortheiles  halber  die  ihnen  eingeräumte  Macht  über  das  künstlich 
in  Unwissenheit  erhaltene  Volk.*) 

Das  Literatenthum  ist  das  Unglück  Chinas  und  eine  der 
treibenden  Kräfte  gewesen,  die  den  Ausbruch  der  jüngsten 
Wirren  mitverschuldet  haben. 

Gährungsstoff  lag  überreich  in  China;  die  Erregung  in  der 
durch  die  harten  Steuern  erbitterten  und  durch  elementare  Miss- 
geschicke hart  geprüften  Bevölkerung  musste  somit  in  eine 
Richtung  abgelenkt  werden,  welche  die  Gefahrdung  der  Dynastie 
und  der  herrschenden  Classen  abzuwenden  versprach.  Dazu  be- 
durfte es  nur  einer  unmerklichen  Ermuthigung  des  Fremdenhasses, 
der  bei  dem  unerfahrenen  Volke,  das  entweder  noch  gar  nicht 
mit  den  »Yankwets«  in  Berührung  gekommen  war,  als  Erbe  der 
urväterlichen  Furcht  vor  räuberischen  Einfallen  schlummerte,  oder 
welches  durch  die  raschen  Fortschritte  in  der  Erschliessung  Chinas 
vor  neue,  ihm  unbequeme  Verhältnisse  gestellt  war. 

Der  Fremdenhass  pur  et  simple,  als  Selbstzweck  wäre  bei 
einem  so  berechnenden  und  gleichzeitig  den*  Begriff  des  grossen 
Vaterlandes  nicht  kennenden  Volke,  wie  es  die  Chinesen  sind,  un- 
glaubhaft; im  Gegentheile  liefert  die  massenhafte  Auswanderung 
nach  Ländern  unter  fremder  Herrschaft,  nicht  minder  aber  die 
UeberfüUung  der  den  Fremden  zur  Ansiedlung  überlassenen 
Territorien  in  den  Vertragshäfen  mit  Chinesen,  welche  die  Haus- 
miethen  daselbst  fortwährend  in  die  Höhe  treiben,  und  die  steigende 
Prosperität  gerade  dieser  Chinesen  den  sprechendsten  Bew^eis,  dass 

♦)  Monnier  sagt  sehr  treffend:  »Der  Chinese  steckt  nur  mit  den  Füssen  in 
der  Gegenwart,  mit  dem  Kopf  in  der  Vergangenheit.« 

WiBterhalder:  K&mpfe  in  China.  2 


18 

der  arbeitsfreudige  und  friedliebende  Chinese,  sowohl  die 
Vortheile  fremder  Technik,  als  auch  namentlich  die  Wohlthat  der 
Gesetze  und  Ordnung  voll  würdigend,  gar  kein  Bedenken  trägt, 
für  und  mit  dem  Fremden  zu  arbeiten. 

Die  Blüthe  der  Handelsemporien  ostwärts  von  Pulo  Penang 
wäre  ohne  die  geschäftliche  Accomodation  der  Chinesen  an  die 
Fremden  nie  erreicht  worden. 

Andererseits  braucht  eben  auch  ein  Chinese  Zeit,  um  sich 
anzupassen  und  —  wie  bei  allen  Völkern  —  der  Binnenländer 
mehr  als  der  in  Folge  der  Verhältnisse  dem  Fremden  leichter  Zu- 
gängliche Küstenbewohner;  seit  dem  japanischen  Kriege  hatte 
die  Ausdehnung  fremder  Unternehmung  auf  das  Innere  jedoch 
ein  so  rasches  Tempo  eingeschlagen,  dass  die  davon  berührten 
Bevölkerungsschichten  noch  nicht  im  Stande  gewesen  waren,  den 
Vortheil  kennen  zu  lernen,  der  mittelbar  und  unmittelbar  auch 
ihnen  aus  der  Hebung  der  reichen  Mineralschätze  und  Herstellung 
bequemer  und  billiger  Verkehrsstrassen  in  Form  von  Eisenbahnen 
erwachsen  musste. 

Diese  grösstentheils  armen  Bauern  fügten  sich  nur  wider- 
strebend in  den  Verkauf  ihrer  ererbten  Grundstücke  und  die  Ver- 
legung altverehrter  Grabstätten,  ihnen  war  die  Hast  des  Fremden, 
der  als  Geber  relativ  hoch  bezahlter  Arbeit  doch  die  unbe- 
greifliche Forderung  stellte,  sie  schnell  gethan  zu  sehen,  ein  Gräuel. 

Bei  diesen  Exploitationen  wurde  vielleicht  auch  theilweise  in 
Unterschätzung  und  Nichtachtung  alteingewurzelter  Volkssitten 
Manches  gethan,  was  die  Chinesen  mit  Recht   reizen  musste. 

Vielfach  misst  man  die  Schuld  an  dem  Ueberhandnehmen 
der  fremdenfeindlichen  Gährung  auch  den  zahlreichen  christlichen 
Missionen  bei,  unter  denen    alle  Lehrrichtungen  vertreten   waren. 

Ihre  Thätigkeit  hätte  bei  dem  in  religiösen  Angelegenheiten 
eigentlich  toleranten  Chinesenvolk,  das  ja  selbst  verschiedenen 
Bekenntnissen,  wie:  Confucianismus,  Buddhismus,  Taoismus  und 
dem  Islam  huldigt,  'gewiss  keinen  schärferen  Widerspruch  ge- 
funden, wenn  nicht  die  Missionäre  für  ihre  Convertiten  Vortheile 
angestrebt  und  in  zahlreichen  Fällen  auch  erreicht  hätten,  die 
von  dem  übrigen,  der  Beamtenwillkür  schutzlos  preisgegebenen  Volke 
als  directe  Schädigung  angesehen  wurden.  Die  Missionäre  riefen  zu 
oft  die  Intervention  der  Vertreter  ihrer  Schutzmächte  an,  wenn 
chinesische  Mitglieder  der  Seelengemeinde  in  Rechtsstreitigkeiten 
mit  nichtchristlichen  Nachbarn  verwickelt  oder  mit  der  Staats- 
gewalt in  CoUision  gekommen  waren,  und  mögen  in  ihrem  löb- 
lichen Eifer  vielleicht  auch  für  zweifelhafte  Sachen  eingetreten  sein. 


19 

Es  muss  aber  der  nicht  vereinzelt  dastehenden  Ansicht,  dass  nur 
mindere  Elemente  aus  vorwiegend  prsiktischen  Gründen  sich  der 
Bekehrung  zugänglich  zeigten,  ganz  entschieden  entgegengetreten 
yrerden;  auch  unter  den  reicheren,  angesehenen  Classen  gibt  es 
Familien,  die  seit  Generationen  überzeugte  Christen  sind  —  Er- 
folge, die  im  Besonderen  von  katholischen  Missionen  durch  ihr 
kluges,  sich  chinesischer  Lebensführung  anschmiegendes  Vorgehen 
errungen  wurden. 

Die  eingeborene  Beamtenschaft    fühlte  sich    naturgemäss  am 
meisten  durch  den  Einzug  neuerer  Gesichtspunkte    in  den   Ideen- 
kreis des  Volkes  bedroht ;    ihre  absolute  Macht    und  Herrlichkeit 
musste  Stück    für  Stück    schwinden,    wenn  das  Volk   täglich  Bei- 
spiele erlebte,  dass  der  gefürchtete  Herr  sich  einerseits  zum  Voll- 
strecker  von  Wünschen    der    fremden    Erschliesser    des    Landes 
bequemen  musste  und  andererseits  sein   richterlicher  Machtspruch 
nicht    mehr    unfehlbar    blieb.    Bei  der    naiven  Unwissenheit    des 
Volkes  war  aber  nichts  leichter,  als  durch  Bestärkung  seines  Aber- 
glaubens in  ihm  die  Ueberzeugung    zu  befestigen,    dass  alles  Un- 
gemach   nur  von    den    fremden  Eindringlingen    herrühre,    die    es 
wagten,  dem  Willen  der  alten  Götter  sich  zu  widersetzen  und  an 
den    von    den  Ahnen    eingesetzten    Institutionen    zu   rütteln;    die 
lächerlichsten  Fabeln,*)  in  deren  Erfindung  die  mit  Schreckbildern 
erfüllte  Phantasie  der  gelben  Rasse  so  überaus  reich  ist,  brauchten 
nur  in  einen  ganz  willkürlichen  Zusammenhang   mit   Aussprüchen 
irgend  eines    alten  Schriftstellers    gebracht  zu  werden,    um  unbe- 
dingten Glauben  als  Wahrheit  zu  finden.    Auf  solche  Art    konnte 
die  ärgste  Verhetzung  mühelos  betrieben  werden. 

Den  Ausschlag  konnte  jedoch  nur  die  Haltung  des  Hofes  in 
Peking  geben  und  hier  lag  seit  dem  missglückten  Versuche  des 
schwächlichen  Kaisers  Kuangsü  im  Jahre  1898,  sich  mit  Hilfe 
einiger  weniger  zu  Reformen  geneigter  Würdenträger  chinesischer 
Abstammung  dem  Machtgebote  der  thatsächlich  unumschränkt 
herrschenden  Kaiserin- Witwe  Tsi-tsu  zu  entziehen.  Alles  zu  Un- 
gunsten der  Fremdensache. 

Tsi-tsu  soll,  niederen  Ursprunges,  sich  durch  ihre  Schönheit 
und  eine  mit  rücksichtsloser  Energie  gepaarte  Klugheit  von  der 
Stelle  einer  Beischläferin  zur  rechtmässigen  Gemahlin  des  Kaisers 
Hien-Fung  aufgeschwungen  haben,  der  auf  der  Flucht  vor  den 
auf  Peking  vorrückenden  Engländern  und  Franzosen  im  Jahre  1860 

*)  Z.  B.  die  Rohre,  durch  welche  die  Fremden  sehen,  enthalten  eine  »Medicinc 
düc  aus  den  Augen  chinesischer  Kinder  besteht;  deshalb  trachten  die  Missionäre,  so 
vide  Kinder  aufzunehmen. 

2* 


20 

zu  Dschehol  in  der  Mongolei  an  den  Folgen  des  ausgestandenen 
Schreckens  starb.  Nach  anderer  Angabe  gehörte  Tsi-tsu  der 
herzoglichen  Familie  Tschao  an.  Von  ihrer  ungewöhnlichen  Be- 
gabung und  vor  nichts  zurückschreckenden  Thatkraft  hat  die 
Kaiserin-Witwe  in  der  auf  den  Tod  ihres  kaiserlichen  Gemahls 
folgenden  langen  Zeit,  während  welcher  sie  zuerst  13  Jahre  für 
ihren  minderjährigen  Sohn  Tung-Tschi  und  nachdem  dieser  ge- 
storben, während  26  Jahren  für  ihren  Adoptivsohn  Kuangsü  die 
Regentschaft  führte,  zahlreiche  Proben  geliefert ;  obwohl  nach  der 
Räumung  Pekings  von  den  AUiirten  zur  Regierung  zugelassen, 
hat  sie  doch  nie  die  schwere  Demüthigung,  vor  den  Fremden 
fliehen  zu  müssen,  und  den  frühen  Tod  Hien-Fung's  vergessen, 
den  die  Eindringlinge  verschuldet  hatten. 

Durch  die  Niederlagen  Chinas  in  den  Kämpfen  gegen 
Europäer  1860  und  1885,  und  1895  gegen  das  nach  europäischem 
Muster  wehrfähig  gemachte  Japan  von  der  Nothwendigkeit  über- 
zeugt, wenigstens  in  diesem  Punkte  von  den  verhasstcn  Fremden 
etwas  anzunehmen,  Hess  sie  die  Vicekönige  gewähren,  ihre  Heere 
europäisch  zu  bewaffnen,  zum  Theile  auch  durch  Fremde  mili- 
tärisch auszubilden,  Arsenale  und  an  den  wichtigsten  Punkten, 
so  im  Cantonflusse,  an  der  Mündung  des  Min,  am  Yangtse  und 
an  der  Küste  von  Petschili  moderne  Befestigungen  anzulegen ;  auf 
diese  Art  sollten  die  Fremden,  deren  zunehmender  Wettbewerb 
gerade  auf  dem  lucrativen  Gebiete  der  Waffenlieferung  den  Ab- 
sichten der  Kaiserin-Witwe  sehr  entgegenkam,  mit  ihren  eigenen 
Mitteln  fernegehalten  werden.  Unter  dem  Drucke  der  Ereignisse 
des  japanischen  Krieges,  zu  dessen  für  China  noch  glimpflichem 
Ausgang  fremde  Mächte  mit  ihrer  Intervention  gegen  den  Preis 
wichtiger  Concessionen  so  wirksam  geholfen  hatten,  entstand  eine 
neue,  der  Exploitation  und  dem  Kindringen  abendländischen 
Wissens  günstige  Aera.  Die  sich  stets  (erneuernden  Zugeständnisse 
an  verschiedene  Mächte  und  deren  Angehörige,  die  Abtretungen 
von  sogenannten  Pachtterritorien  an  Deutschland,  England  und 
Russland  verschärften  indessen  nur  die  Abneigung  der  Kaiserin- 
Witwe  und  der  streng  conservativen  Mandschu,  derer  Apprehensionen 
durch  die  offene  Besprechung  einer  Auftheilung  des  ganzen 
Reiches,  in  chinesischem  Lichte  betrachtet,  nunmehr  wahrhaft  be- 
gründet erschienen. 

Als  nun  gar  Kaiser  Kuangsü,  dem  Einflüsse  einer  auf- 
geklärteren Partei  folgend,  die  sich  aus  viel  herumgekommenen 
und  mit  den  Fremden  in  innigem  Contacte  stehenden  Chinesen 
zusammensetzte,  den  Schritt  vorbereitete,  aus  seiner  Schattenrolle 


21 

herauszutreten  und  Yuan  Schikkai  im  letzten  Augenblicke  der 
Kaiserin-Witwe  den  Plan  verrieth,  brach  ihre  lang  verhaltene 
Wuth  offen  aus,  begnügte  sich  aber  diesmal  noch  mit  der  strengen 
Bestrafung  der  Berather  ihres  Adoptivsohnes.  Sechs  derselben  büssten 
mit  ihrem  Leben,  Lihungtschang  mit  der  Ungnade  und  dem  Ver- 
luste seiner  so  einträglichen  Stellung  als  Vicekonig  von  Petschili, 
Kang-Yu  Wei,  der  geistige  Führer  eines  werdenden  Jung-China, 
entfloh  noch  rechtzeitig.  Schon  damals,  Spätsommer  1898,  waren 
die  Verhältnisse  in  Peking  äusserst  gespannt  und  nöthigten  die 
Gesandtschaften,  zu  ihrer  Sicherheit  eigene  Schutzwachen  in  die 
Hauptstadt  kommen  zu  lassen,  die  den  ganzen  Winter  über  blieben 
und  deren  Anwesenheit  die  Katastrophe  hinausschieben  half. 

Kuangsü  war  gezwungen  worden,  die  Kaiserin- Witwe  in 
aller  Form  sehr  demüthig  zu  bitten,  ihn  in  der  Regierung  des 
Volkes  zu  berathen,  und  hatte  dadurch  endgiltig  zugestehen  müssen, 
dass  er  in  Hinkunft  nur  mehr  seinen  Namen  für  Acte  leihen  werde, 
welche  von  der  Kaiserin- Witwe  und  ihren  reactionären  Rath- 
j^^ebem  ausgingen. 

Zu  seinem  Unglück  blieb  ihm  auch  Nachkommenschaft  versagt, 
welcher  Umstand  seinem  Ansehen  auch  in  den  breiten  Volks- 
schichten schadete. 

Einstweilen  blieben  jedoch  gewisse  Neuerungen  der  letzten 
Jahre  scheinbar  unberührt  fortbestehen,  so  namentlich  die  noch 
jungen  Lehranstalten  in  Peking  und  Tientsin,  an  welchen  fremde 
Kräfte  hauptsächlich  Sprachen,  Naturwissenschaften  und  tech- 
nische Fächer  lehrten,  eine  gewiss  nicht  ohne  Einfluss  von  dort 
entstandene  Nachbildung  der  Schulen  Japans.  Dessen  Bestrebungen, 
China  seine  eigenen  modernen  Errungenschaften  aufzupfropfen 
und  es  dadurch  zu  einer  Coalition  der  zwei  Hauptmächte  des 
äussersten  Ostens  zu  befähigen,  wurden  viel  vermerkt. 

Auch  in  den  Aeusserlichkeiten  gegen  die  fremdländischen 
Vertreter  am  Pekinger  Hofe  trat  vorderhand  keine  rückläufige 
Erscheinung  zu  Tage;  der  Kaiser  empfing  am  chinesischen  Neu- 
jahrstage die  Gesandten,  die  Kaiserin-Witwe  deren  Damen. 

So  schien  sich  Alles  wieder  in  dem  Geleise  einer  stetigeren 
Entwicklung  zu  befinden,  bis  sich  zu  Beginn  des  Jahres  1900  zu- 
erst Gerüchte  von  einem  nicht  natürlichen  Ableben  Kuangsü's  in 
die  Aussenwelt  verbreiteten,  denen  jedoch  der  höchst  bedeutsame 
Act  der  Namhaftmachung  eines  Thronfolgers  seitens  des  Kaisers 
selbst  als  Thatsache  folgte.  In  dem  betreffenden  Decrete  bestimmte 
der  Kaiser  unter  ausdrücklicher  Betonung  seines  Dankes  an  die 
Kaiserin-Witwe    für   ihre    weisen  Rathschläge    und  mit   der  Moti- 


22 

virung,  dass  ihm  das  Glück,  einen  Leibeserben  zu  besitzen,  ver- 
sagt sei,  den  14jährigen  Prinzen  Pu  Tschun,  Sohn  des  Prinzen 
Tuan  und  Urenkel  eines  älteren  Bruders  des  Kaisers  Hien 
Fung  zu  seinem  Nachfolger.  An  und  für  sich  konnte  gegen 
diesen,  natürlich  von  der  Kaiserin-Witwe  ausgegangenen  Schritt 
kein  anderes  Bedenken  als  die  Wahl  eines  noch  Minderjährigen 
obwalten,  dessen  Heranbildung  in  ihrem  Sinne  die  Kaiserin- 
Witwe  nicht  vernachlässigen  würde ;  bedenklicher  gestaltete  sich 
der  Act  aber  durch  den  Einfluss,  den  des  Prinzen  Vater,  ein 
bekannter  Reactionär,  nunmehr  in  noch  erhöhtem  Masse  gewinnen 
musste. 

Prinz  Tuan  war  ebenso  wie  der  Mandschu  Yung-Lu,  der 
Generalissimus  der  chinesischen  Armee,  und  General  Tung-Fuhsiang, 
der  ehemalige  Rebell  und  gegenwärtige  Befehlshaber  der  zumeist 
aus  Mohammedanern  gebildeten  Kansu-Brigade,  niemals  über  die 
chinesischen  Grenzen  hinausgekommen,  daher  über  die  Aussenwelt 
nur  in  jener  nebelhaften,  von  verachtungsvollem  Dünkel  erfüllten 
Lehre  unterrichtet,  die  alle  Fremden  als  »Barbaren,  auf  einem 
rauhen  Fleck  Erde  ein  dürftiges  Dasein  führend«,  bezeichnet. 
Yung-Lu  huldigte  schon  wegen  seiner  Abkunft  den  rückläufigen 
Tendenzen,  war  im  Uebrigen  nie  besonders  hervorgetreten,  Tung- 
Fuhsiang  war  seinerzeit  erkauft,  dann  beim  Vormarsche  der 
Japaner  zum  Schutze  der  Hauptstadt  berufen  worden,  posirte 
daher,  trotzdem  ein  vorzeitiger  Friedensabschluss  ihn  der  Gelegen- 
heit, Heldenthaten  zu  vollbringen,  beraubt  hatte,  als  Erretter  der 
Hauptstadt  und  Dynastie ;  seine  modern  (mit  dem  österreichischen 
8  Millimeter-Repetircarabiner)  bewaffneten,  ursprünglich  10.000  Mann 
starken  Truppen  standen  im  Rufe  grosser  Tapferkeit  und  waren 
auch  im  Winter  1898—99  in  der  Nähe  Pekings  zusammengezogen, 
später  aber  wieder  in  entferntere  Gegenden  geschickt  worden. 
Tung-Fuhsiang  war  aus  dieser  letzteren  Periode  besser  bekannt 
und  galt  als  sehr  energisch,  jedenfalls  fanatisch  in  seinem  Fremden- 
hass  und  stets  bereit  zu  Gewaltstreichen. 

Im  Tsungli-Yamen,  dessen  Präsidium  der  fremdenfreundliche 
Prinz  Tsching,  gleichzeitig  Commandant  der  auf  7 — 10.000  Mann 
geschätzten  Pekinger  Feldarmee,  führte,  stand  die  Zahl  der  ent- 
schieden fremdenfeindlichen  Minister  jener  fremdenfreundlicher 
oder  wenigstens  indifferenter  ziemlich  gleich  gegenüber.  Der 
Vicekönig  von  Tschili,  Yü-Lü,  gehörte  zu  den  blinden  Anhängern 
der  Kaiserin-Witwe,  die  ihn  an  Stelle  des  in  Ungnade  gefallenen, 
später  wieder  mit  der  Verwaltung  der  unruhigen  Kwantung- 
Provinzen  im  Süden  Chinas  betrauten  Lihungtschang  gesetzt  hatte. 


23 

und  zeigte  sich  deshalb  nur  insoweit  und  so  lange  den  Fremden 
entgegenkommend,  als  es  ihm  die  Wahrung  äusseren  Scheines 
gebot;  im  Uebrigen  war  er  aber  der  richtige  Mann,  um  zwischen 
den  Zeilen  zu  lesen. 

Diese     Persönlichkeiten     spielten     in    den    Ereignissen     des 
Jahres  1900  die  Hauptrollen. 

Obwohl  wiederholt  und  kategorisch  aufgefordert,  den  die 
Ruhe  bedrohenden  Umtrieben  der  im  südlichen  Schantung  auf- 
getretenen geheimen  Gesellschaften  ein  Ende  zu  machen,  die  sich, 
gemeinnützige  und  humanitäre  Zwecke  vorschützend,  von  dort 
immer  fühlbarer  ausbreiteten,  verhielt  sich  die  chinesische  Re- 
gierung doch  sehr  lau  und  traf  höchstens  Scheinmassregeln.  Neben 
der  Vereinigung  vom  »Grossen  Messer«  zogen  zu  Ende  der  Neun- 
zigerjahre die  Mitglieder  und  Verbände  des  »Ihotuan«,  welche 
Bezeichnung  bald  mit  »Gesellschaft  der  Harmonie«,  bald  mit 
»Gesellschaft  der  geschlossenen  Faust«  übersetzt  wurde,  die  meiste 
Aufmerksamkeit  auf  sich ;  die  letztere  Uebersetzung  im  Zusammen- 
hang mit  der  Thatsache,  dass  sich  die  Mitglieder  dieses  Bundes 
nebst  Zauberkräfte  anrufenden  religiösen  auch  Leibesübungen  und 
dem  Fechten  mit  primitiven  Waffen,  als  selbstgeschmiedeten 
schwertartigen  Messern  und  Spiessen,  hingaben,  brachte  ihnen  unter 
den  Fremden  den  Namen  Boxer.  An  dem  ungewöhnlichen  Werb- 
erfolge, den  die  Propaganda  dieses  Geheimbundes  hatte,  erkannten 
die  gut  unterrichteten  Hofkreise  bald,  dass  er  in  höherem  Grade 
als  irgend  einer  seiner  bisherigen  Vorgänger  Anziehungskraft  auf 
das  Volk  besitze  und  sich  daher  voraussichtlich  zu  einer  brauch- 
baren Organisation  ausgestalten  lasse.  Thatsächlich  gewann  der 
Bund  trotz  mancher  ihm  anfänglich  auf  Betreiben  der  fremden 
G>nsuln  und  diplomatischen  Vertreter  bereiteten  Verfolgungen 
eine  immer  raschere  Verbreitung;  insbesondere  wussten  seine 
Emissäre  auf  die  Jugend  begeisternd  einzuwirken.  Vorgeblich  von 
den  Göttern  zur  Rettung  ihrer  bedrängten  Brüder  aus  den  Drang- 
salen der  Fremdenherrschaft  und  zum  Schutze  der  Dynastie  aus- 
erwählt, machten  die  Führer  das  Volk  glauben,  dass  sie  während 
des  Stadiums  der  Verzückung,  die  sie  geschickt  vorzuspielen 
wussten,  unmittelbar  von  den  Göttern  Weisungen  erhielten  und 
dass  ihnen  eine  übernatürliche  Kraft,  in  die  Ferne  zu  sehen,  über 
das  reine  Feuer  und  zur  Ueberwindung  aller  räumlichen  und 
zeitlichen  Schwierigkeiten  zustehe;  nach  ihrer  Angabe  waren 
alle  tauglich  befundenen  Mitglieder  des  Bundes  vorne  un- 
verwundbar. Nachdem  ihnen  noch  Missernten  gerade  in  der 
Provinz  Tschili    viele    desperate  Elemente  zugeführt,    wurde    ihre 


24 

anfangs  auf  den  Charakter  ihrer  Wunderbarkeit  basirte  Agitation 
aggressiver;  bald  überschwemmten  sie  das  Land  mit  gedruckten 
Proclamationen,  die  jeden  mit  den  schrecklichsten  Folgen  für 
seine  und  die  Personen  seiner  Verwandtschaft  bedrohten,  der  ein 
Exemplar  wegwerfen  oder  gar  vernichten  sollte,  hingegen  den- 
jenigen, die  es  verbreiten  würden,  je  nach  der  Menge  der  ver- 
breiteten Proclamationen,  entweder  Gefeitsein  gegen  Unglück  in 
seiner  Familie  und  an  seiner  Habe  oder  grosse  Ehren  versprachen. 

Das  Merkwürdigste  war  aber,  dass  dieser  Bund,  welcher 
von  seinen  Mitgliedern  die  grausamste  Verfolgung  und  Ausrottung 
aller  Fremden  und  der  zum  Christenthum  bekehrten  Chinesen,  die 
Zerstörung  aller  von  den  ersteren  herstammenden  Einrichtungen 
forderte,  nicht  allein  auf  das  männliche  Geschlecht  beschränkt 
blieb,  sondern  auch  das  weibliche  in  der  Vereinigung  der 
»Schwestern  von  der  rothen  Laterne«  umschloss,  während  sonst 
das  chinesische  Weib  von  Angelegenheiten  der  Allgemeinheit 
ferngehalten  wird.  Als  Schwestern  sollten  bloss  reine  Jungfrauen 
aufgenommen  werden,  denen  die  Verehrung  des  Feuergottes  und 
die  Vornahme  der  Exercitien  die  (iabe  verleihen  sollte,  ungesehen 
weite  Strecken  und  hohe  Mauern  zu  überfliegen,  um  das  rächende 
Feuer  an  irgend  einer  von  einem  Führer  bezeichneten  Stelle  zu 
legen. 

Anfanglich  trachteten  die  chinesischen  Behörden  die  Existenz 
des  gefährlichen  Bundes  überhaupt  oder  doch  seine  christen- 
gefahrlichen  Tendenzen  zu  leugnen ;  als  dies  jedoch  unmöglich 
geworden,  erliessen  sie,  11.  Jänner  1900,  ein  sehr  zweideutiges 
Edict,  das  die  Vereinigung  von  Leuten  zum  Zwecke  der  Unruhe- 
stiftung bei  strenger  Strafe  verbot,  gleichzeitig  aber  aussprach, 
»dass  Leute,  die  sich  nur  der  Einübung  im  Gebrauche  der  Waffen 
zum  Schutze  von  Person  oder  Familie  widmen,  oder  in  derselben 
Art  mehrere  Ortschaften  zur  gegenseitigen  Vertheidigung  ihrer 
Territorien  vereinigen,  wegen  dieses  Zweckes  der  Selbstvertheidi- 
gung  von  strafbaren  Uebelthätern  wohl    zu    unterscheiden   seien«. 

Thatsache  ist  es,  dass  über  Veranlassung  des  Prinzen  Tuan 
die  Kaiserin- Witwe  eine  Abordnung  von  Boxern  im  Winterpalcist 
empfing,  sich  ihre  Exercitien  vorführen  liess  und  sie  dann  be- 
schenkte. 

Die  ersten  von  Boxern  verübten  Mordthaten  an  englischen 
Missionären  fielen  noch  im  Jahre  1899  in  Schantung  vor  und  ver- 
anlassten die  Ernennung  Yuan-Schikkai*s  zum  dortigen  Gouverneur; 
einmal  im  Besitze  eines  vielversprechenden  Postens,  wusste  dieser, 
dem    die    Nachbarschaft    deutscher  Truppen    in    Kiautschou  eine 


25 

Sinnesänderung  angezeigt  erscheinen  Hess,  die  unbequemen  Boxer- 
elemente nach  Tschili  abzulenken,  wo  sie  von  Yülü  freundlich 
aufgenommen  wurden  und  bald  durch  den  Angriff  auf  die  Jesuiten- 
Mission  in  Ho-kien-fu  von  sich  reden  machten. 

Im  Winter  1900  w^urden  die  Boxerumtriebe  in  Tschili  immer 
fühlbarer  und  alle  Bemühungen  der  Gesandten  in  Peking,  eine 
gründliche  Remedur  gegen  den  seine  Proclamationen  bis  in  diese  Stadt 
selbst  einführenden  Bund  zu  erlangen,  hatten  keinen  wirklichen 
Erfolg,  trotz  der  Warnungen,  dass  sich  die  chinesische  Regierung 
einer  Verletzung  ihrer  vertragsmässigen  Pflichten  schuldig  mache, 
wenn  sie  energische  Schritte  zur  Bekämpfung  der  fremdenfeind- 
lichen Bewegung  unterlasse  und  eventuelle  schlimme  Folgen  sich 
selbst  zuzuschreiben  haben  werde. 

Schon  im  März  1900  war  von  einigen  Mitgliedern  des  diplomati- 
schen Corps  die  Opportunität  einer  internationalen  Flotten- 
demonstration und  der  Heranziehung  von  Schutzwachen  für  die 
Legationen  discutirt  worden,  jedoch  unterblieb  einstweilen  noch 
beides,  hauptsächlich  wegen  der  ablehnenden  Haltung  Englands 
und  weil  einzelne  Gesandte  in  dem  Verhalten  des  Tsungli-Yamen 
Anzeichen  wahrzunehmen  glaubten,  dass  die  chinesischen  Behörden 
nicht  abgeneigt  seien,  doch  energischer  einzuschreiten,  vor  Allem 
aber  den  Schein  vermeiden  möchten,  als  ob  sie  nur  einem  Drucke 
der  PVemden  nachgeben  würden.  — 

Während  Deutschland,  England,  Frankreich,  Russland,  Italien 
und  die  Vereinigten  Staaten,  letztere  noch  immer  wegen  der 
Pacificirung  der  Philippinen,  ganze  Escadren  oder  wenigstens 
Schiffsdivisionen  auf  der  ostasiatischen  Station  unterhielten,  war 
die  österreichisch-ungarische  Kriegsflagge  seit  Anfang  1900  in 
jenen  Gewässern  nur  durch  den  allerdings  leistungsfähigen,  ge- 
schützten Kreuzer  »Zenta«,  2500  Tonnen  Deplacement,  21  Knoten 
Fahrt,  armirt  mit  8  Schnelladegeschützen  mittleren  Calibers, 
10  Schnellfeuerkanonen,  2  Gewehrmitrailleusen  und  2  Torpedo- 
lancir- Apparaten,  Besatzung  inclusive  Commandanten  und  Stab 
rund  300  Mann,  vertreten. 

Commandirt  wurde  »Zenta«,  die  ihre  erste  überseeische  Reise 
anfangs  November  1899  angetreten  hatte,  vom  k.  u.  k.  Fregatten- 
Capitän  Eduard  Thomann  Edler  von  Montalmar,  der  sich  kurz 
vorher  während  der  Wirren  auf  Kreta  bereits  ausgezeichnet  hatte. 
Ende  Jänner  hatten  die  schon  erwähnten  Vorgänge  am 
Pekinger  Hof  das  Marine-Commando  veranlasst,  das  Schiff  in 
theilweiser  Abänderung  seines  ursprünglichen  Reiseprogrammes 
in     den     chinesischen    Gewässern     zurückzuhalten ;     das     stärkere 


I  Fühlbarwerden  der  Boxerbewegung  in  den  beiden  folgenden 
1  Monaten,  während  welcher  ■Zenta-  Mittel-  und  Nordchitia  be- 
I  suchte,  wich  jedoch  bald  und  schien  eine  ruhigere  Auffassung  der 
I  5-age  gerechtfertigt. 

Der  Schiffscomniandant  war  angewiesen,  sich  stets  im  Ein- 
f  vernehmen  mit  der  österreichisch-ungarischen  Gesandtschaft  in 
1  Peking  zu  halten   und    hatte  nach  dem  Abgange  des  k,  u.  k.  Gl^ 


I  sandten     und     bevollmächtigten     Ministers,     Baron     Czikann   vOtt 

I  Wahlborn,   auf  Urlaub,   mit   -Zenta-    zu  Hnde  April    und    während 

I  der  ersten  Dekade  Mai    den    Yangtsekiaiig   bis   llankau    befahreni 

Hier  wie  im  Süden  (Elinas  bestanden  keinerlei  beunruhigend« 

Umtriebe  gegen  Fremde. 

Mitte   Mai    schienen    auch    dem   Geachäftiträger    in  Peking, 

dem  damaligen  LegationssecretUr,  seither  I^gationsratli  Dr.  Arthur 

von  Rosthorn.    keine    Bedenken    gegen    eine  auf  2Vi  Monate  ver- 

I  anschlagtc  Kreuzung    des  Schiffes   in   den   japanischen  Gewäasei 


27 

vorzuliegen  und  so  besuchte  »Zenta«  in  der  Zeit  vom  14. — 30.  Mai 
Nagasaki,  Kagoshima  und  Sasebo. 

In  Sasebo  traf  am  Vormittag  des  30.  Mai  ganz  unerwartet 
nachfolgende  Depesche  der  k.  u.  k.  Gesandtschaft  in  Tokio  ein: 
»Gesandtschaft  Peking  telegraphirt  unterm  28.  Folgendes :  Ich 
bitte  Kriegsschiff  avisiren,  dass  ich  Ministerium  des  Aeussern  um 
sofortige  Landung  eines  Detachements  in  Taku  ersucht  habe.  Ambro.« 

Dieses  blitzartig  wirkende  Telegramm  versetzte  die  ganze 
Bemannung  in  fieberhafte  Thätigkeit,  um  die  Kohlen-  und  Lebens- 
mittelvorräthe,  die  erst  in  Kobe  ergänzt  hätten  werden  sollen  und 
deshalb  augenblicks  nur  mehr  recht  schwache  waren,  in  aller 
Eile  zu  completiren,  Maschinen  und  Kessel  für  die  bevorstehende 
rasche  Fahrt  bereitzustellen. 

Dank  der  Zuvorkommenheit  der  japanischen  Behörden 
wickelte  sich  die  ganze  Verproviantirung  glatt  ab ;  einige  hundert 
Tonnen  Kohle  donnerten  lustig  in  die  Bunker  hinab,  Berge  von 
Kisten  verschwanden  im  Räume  und  hätte  das  Schiff  noch  vor 
Mittemacht  auslaufen  können,  doch  musste  nach  dem  Wortlaut 
der  Depesche  noch  auf  einen  telegraphischen  Befehl  des  Marine- 
Commandos  gewartet  werden,  auch  war  ein  Lotse  nicht  vor  Tages- 
anbruch zu  haben.  Durch  die  spärlichen  Informationen  der  Japaner, 
die  ausser  der  Thatsache  von  Unruhen  in  Tschili  nichts  Concretes 
anzugeben  wussten,  wenig  befriedigt,  hatte  Fregatten -Capitän  von 
Thomann  zwar  sowohl  nach  Peking,  als  auch  nach  Tokio  telegra- 
phische Anfragen  gerichtet,  bereit,  je  nach  der  Natur  der  Mittheilungen 
über  die  Sachlage  auf  eigene  Verantwortung  zu  handeln;  doch 
kam  keine  Antwort.  Nach  Mittemacht  wurde  der  erwartete  Befehl 
des  Marine-Commandos  an  Bord  zugestellt,  dessen  Nachsatz  aller- 
dings auf  eine  nicht  unbedenkliche  Zuspitzung  der  Verhältnisse 
in  Tschili  hindeutete. 

•So  schnell  als  möglich  nach  der  Peiho-Mündung  abgehen,  im 
Einvernehmen  mit  der  Gesandtschaft  vorgehen,  Schutzdetachement 
landen.  Bahn  nach  Peking  soll  unterbrochen  sein.« 

Diese  Depesche  war  wohl  geeignet,  den  Verdruss,  den 
namentlich  die  jüngeren  Elemente  darüber  empfanden,  ein  «paar 
lumpiger  Strassenaufläufe  halber,  für  die  die  Peitschen  chinesischer 
Polizei  auch  noch  genug  wären«,  die  schöne  Japan-Kreuzung  zu 
verlieren,  in  ganz  andere  Gefühle  zu  verwandeln ;  wenn  die  Bahn 
thatsächlich  unterbrochen  war,  dann  stand  doch  etwas  mehr  bevor, 
als  ein  paar  Monate  Stationirung  eines  Detachements  in  Peking 
wie  anno  1898  und  das  öde  Herumliegen  auf  der  trostlosen 
Taku-Rhede ! 


28 

Zunächst  wurde  der  Gesandtschaft  in  Peking  der  EintrefF- 
termin  vor  Taku,  2.  Juni  bei  Sonnenaufgang,  mit  dem  Ersuchen 
bekannt  gegeben,  durch  das  Consulat  in  Tientsin  Nachrichten  zur 
bezeichneten  Stunde  auf  die  Rhede  senden,  Mittel  für  die  Ansiand- 
setzung des  Detachements  in  Taku  und  seine  Weiterbeförderung 
bereitstellen  zu  lassen. 

Das  Detachement  für  die  Gesandtschaft  wurde  in  Analogie 
mit  dem  Präcedenzfalle  von  1898  mit  30  Mann  bemessen,  zu  dessen 
Commandanten  LinienschiflFs-Lieutenant  Josef  Kollaf  bestimmt  und 
ihm  die  beiden  Seecadetten  Richard  Freiherr  von  Boyneburg- 
Lengsfeld  und  Thomas  Mayer  zugetheilt ;  da  für  seine  Ausrüstung 
noch  die  zweitägige  Ueberfahrt  zur  Verfügung  stand,  erübrigte  für 
den  Rest  der  Nacht  nichts  mehr  zu  thun.*) 

Frühmorgens  des  31.  Mai  verliess  »Zenta«  unter  Führung  eines 
Regierungslotsen  die  vielfach  gewundene,  landschaftlich  und  militär- 
maritim gleich  interessante  Bucht  von  Sasebo  und  zog  nach 
Doublirung  der  letzten  Spitze  endlich  einmal  ihre  Siebenmeilen- 
stiefel an;  das  herrlichste  Wetter  begünstigte  die  Fahrt  und  das 
Schiff  zeigte,  dass  ihm  17—18  Knoten  eben  die  rechte  Fahrt 
waren,  so  leicht  durchschnitt  es  mit  seinem  scharfen  Bug  das 
Wasser,  dass  erst  weit  achter  mächtige  Wellen  sichtbar  wurden. 
Ein  Blick  noch  nach  den  reizenden  japanischen  Inseln  und  Insel- 
chen, die  da  im  Sonnenblink  verschwanden,  und  dann  gings  an 
die  Arbeit,  alles  Nöthige  bereitzustellen,  damit  die  vielbeneidete 
kleine  Schaar  wohlversehen  in  Peking  ihren  Einzug  halten  könne. 

In  Peking?  Das  schien  nicht  so  einfach,  wenn  sich  die  ge- 
muthmasste  Bahnzerstörung  als  wahr  herausstellte,  doch  änderte 
diese  Erwägung  vorläufig  nichts  an  den  Vorbereitungen ;  es  handelte 
sich  nur  darum,  im  günstigeren  Falle,  dass  noch  oder  wieder 
Züge  verkehrten,  keine  halbe  Stunde  zu  versäumen. 

Diesmal  stand  die  Sache  anders  als  bei  den  so  oft  erlebten 
Landungsübungen,  wo  in  wenigen  Minuten  mehr  als  doppelt 
so  viel  Streiter  für  kurze  Actionen  gerüstet  in  den  Booten  bereit- 
stehen; da  gab's  mehr  als  den  Unterschied  zwischen  blinder 
und  scharfer  Munition  zu  berücksichtigen,  musste  man  doch 
damit  rechnen,  dass  das  Schutzdetachement  vielleicht  monatelang 
am  Lande  werde  bleiben  müssen.  Officiere  und  Mannschaften  für 
Peking  wurden  recht  sehr  beneidet  und  die  Auswahl  letzterer 
war  schwer,  denn  plötzlich  fanden  alle  Leute,  dass  sie  eigentlich 
an  Bord    recht  gut  entbehrt  werden  könnten. 

*)  Eine  von  Dr.  von  Rosthorn  abgesendete  Depesche,  mittelst  welcher  er  auf 
eigene  Verantwortung  «Zenta«  nach  Taku  berief,  erreichte  das  Schiff  nicht  mehr. 


29 

Der  Arzt  hatte  auch  eine  rechte  Mühe,  der  Wiederkehr 
biblischer  Heilungswunder  vorzubeugen,  und  dass  ihn  die  Gem- 
gesunden  nicht  gerade  als  Heiland  verehrten,  weil  er  verordnete: 
Zurück  ins  Bett  und  bleib!  —  dagegen  gab's  kein  Mittel! 

Auf  Befehl  des  Schiffscommandanten  wurden  ursprünglich 
250  Patronen  per  Gewehr  ausgegeben,  im  letzten  Augenblicke 
ordnete  er  aber,  einer  glücklichen  Eingebung  folgend,  die  Ver- 
doppelung dieser  Dotation  und  die  Mitnahme  einer  der  beiden 
Gewehrmitrailleusen  mit  4000  Schuss  an  —  beides  von  grösster 
Wichtigkeit,  wie  sich  später  herausstellte !  Für  die  Installirung 
der  Mitrailleuse  sollte  Linienschiffs-Lieutenant  KoUaf  zwar  erst  in 
Peking  sorgen,  da  für  sie,  die  nur  zur  Abwehr  lästiger  Torpedo- 
boote bestimmt,  keine  Lafette  für  Landgebrauch  vorhanden  war. 
Officiere  und  Mannschaften  sollten  in  Gewärtigung,  die  Eisenbahn 
im  Betriebe  zu  finden,  ihre  ganzen  Effecten,  letztere  auch  ihre 
Hängematten  mitnehmen  und  ausserdem  einen  eisernen  Vorrath  an 
Dauer  pro  viant  für  8  Tage  mitführen. 

Das  Alles,  namentlich  die  Verpackung  der  Munition  und  des 
Proviantes  stand  natürlich  nicht  in  der  normalen  Rolle  für  »Boote 
zur  Landung«  und  brauchte  daher  mehr  Zeit ;  wie  die  Leute  jedoch 
ausgewählt  waren,  kamen  sie  nur  mehr  zur  Nachtzeit  aus  der 
feldmässigen  Ausrüstung  heraus,  nur  um  sie  wieder  daran  zu 
gewöhnen. 

Damals  flogen  viel  Scherzworte  hin  und  her,  an  denen  unsere 
an  Abwechslungen  in  ihrem  vielseitigen  Berufe  gewöhnten  Matrosen 
stets  einen  ausreichenden  Vorrath  haben;  »für  jede  verschossene 
Patrone  einen  Zopf  zurückbringen«,  sollte  der  Detachement- 
Commandant  versprechen,  that's  aber  nicht,  denn  er  wollte  das 
schöne  Schiff  nicht  ver — pesten! 

Am  1.  Juni  abends  musste  die  Fahrt  reducirt  werden,  um 
die  noch  von  keinem  Officier  der  »Zenta«  gekannte  Rhede  erst 
bei  Tagesanbruch  anzulaufen;  als  erster  Gruss  wehte  auch  schon 
ein  böiger  Südwest  daher,  einen  recht  unangenehmen,  steilen  See- 
gang erzeugend,  so  dass  die  Aussichten  auf  eine  Landung  des 
Detachements  recht  schwankende  wurden. 

Endlich  am  2.  Juni,  472  Uhr  morgens  wurde  in  der  Nähe  des 
Leuchtschiffes  vor  der  Peiho-Barre  geankert;  einige  englische, 
amerikanische,  russische,  italienische,  deutsche  und  französische 
Schiffe,*)    fast    lauter  gute  Bekannte  von    früheren   Monaten    her. 


*)  Deutschland:  Kreuzer  »Kaiserin  Augusta« ;  England:  Schlachtschiff  »Cenlurion«, 
Flaggcnschiff  des  Vice-Admirals  Sir  E.  Seymour,  Kreuzer  »Orlando«,  Torpedoboots- 
zerstörer »Whiting«  und  »Fame«;    Frankreich:    Kreuzer    »Descartes«  und  Kanonenboot 


auch  ein  chinesischer  Kreuzer,  lagen  auf  einen  jfrossen  Raum  v 
iheilt  auf  der  Rhede  und  an  allen  brandete  die  schmutzig-g-elbe 
See  recht  lebhaft.  Ein  kleiner,  heftig^  schlingernder  Schleppdampfer  1 
wurde  auch  gesichtet,  aber  mit  Signalen  herbeigerufen,  vermochte  er  1 
kaum  sich  auf  Preidistanz  zu  halten ;  sein  Capitän  erklärte,  keinerlei  J 
Nachricht  für  »Zentai  zu  haben,  beantwortete  die  Frage  nach  dem  J 
Zustande  der  Eisenbahnverbindung  unbestimmt  dahin,  dass  er  I 
glaube,  sie  sei  wiederhergestellt.  derTelegraphfunctionire  jedoch  ge-| 
wiss,  wusste  im  Uebrigen  keine  detaillirten  Angaben  über  diel 
Lage  in  Peking  zumachen  und  drängte  schliesslich,  dass  man  ihn! 
nach  Tongku  zurückfahren  lasse,   bevor  das  Wasser  wieder  falle.  | 


Unter  solchen  recht  ärgerlichen  Umständen  und  angesichts  1 
der  Unmöglichkeil,  das  Delachement  mit  den  eigenen  Booten  1 
dem  herrschenden  Seegang  ans  Land  zu  setzea.  entsendel 
Fregatten-Capitän  von  Thomann  den  Linienschiffs- Lieutenant  Kolla 
auf  diesem  Tender  mit  dem  Auftrage  nach  Tongku,  sich 
nöthigen  Informationen  vom  Lande  einzuholen  und  alle  AnstaltJ 
zu  treffen,  damit  das  Delachement  ehethunlichst,  wenn  moglid 
schon  beim  Nachmittags-Hochwasser  gelandet  werden  könne, 
lange  musste  man  sich  einstweilen  wohl  oder  übel  gedulden. 

■SoiprUct:    lulien:  Kreuier    nElha^   und  •CalubrU.i    Rusalao.l:    Scillae bisi^hill  •Sis« 
Weliki',    Pkggcaaclitft   des   Conlic-Adniinils  nUleliruailt,    Kicuict    iDimllri   Dunske)«,! 
PitiuerkaonnpiibotK    >GmQJaIctii*.  Tocppilobooliiäiter   ■VniliiU:'   und  «Gtidanukkt;  V«^ 


Als  später  Wind  und  Seegang'  etwas  nachliesstn,  wurden 
von  den  zur  BecompUmentirung  erschienenen  fremden  Officieren 
endlich  Nachrichten  über  die  Ereignisse  in  den  letzten  Tagen 
überbracht,  die  zwar  wenig  zusammenhängend,  doch  über  den 
Hauptpunkt  beruhigten  :  «Zenta-  war  noch  rechtzeitig  eingetroffen. 

Einer  der  ersten  becomplimentirenden  Officiere  war  jener 
vom  chinesischen  Kreuzer  »Hai-Tien«,  auf  dem  Contre-Admiral 
Yih  Choo  Kwee  seine  Flagge  führte;  in  seinem  besten  Pidgin- 
Englisch  erklärte  der  kleine  Marine- Elegant  höchst  emphatisch, 
ilass  an  allen  den  schlimmen  Gerüchten  nichts  Wahres  sei,  nur 
•one  litti  boy«  sei  aus  purem  Versehen  getödtet  worden  —  beinahe 


liätte  er  noch  hinzugefügt,  dass  es  ihm  aber  schon  besser  gehe ! 
Seine  später  kommenden  Collegen  wussten  freilich  nicht  so  Harm- 
luses  iu  berichten. 

Weder  in  Peking  noch  in  Tientsin  waren  zwar  bisher  Ruhe- 
störungen vorgefallen,  doch  seien  die  europäischen  Bahnbe- 
diöisteten  in  Paotingfu  und  Tschang-schin-tien  durch  Boxer  vertrieben 
und  in  letzterem  Orte  auch  ihre  Häuser  zerstört  worden;  die 
flüchüinge  von  Tschang-schin-tien  seien  durch  zu  ihrer  Unter- 
stützung von  Peking  aufgebrochene  bewaffnete  Europäer  wohl- 
behalten dahin  geleitet  worden,  hinsichtlich  der  Flüchtlinge  von 
Pantingfu  fehlten  aber  beruhigende  Nachrichten. 

Die  Bahnverbindung  Fengtai-Paotingfu  sei  definitiv  unter- 
I  brochen,  auf  der  Linie  Peking — Tientsin  hätten  Boxer  am  28.  Mai 


32 

die  Station  Fengtai  zerstört  und  sei  der  Verkehr  auf  dieser  Linie 
zwei  Tage  lang  unterbrochen  gewesen,  seit  dem  30.  Mai  aber 
wieder  aufgenommen.  Die  telegraphische  Verbindung  mit  Peking 
und  Tientsin  wäre  nie  gestört  gewesen,  wohl  aber  der  Verkehr 
mit  der  Station  in  Tongku  recht  schwierig  und  zeitraubend. 

Die  fremden  Gesandten  hätten  von  der  chinesischen  Regierung 
energische  Massregeln  zum  Schutze  der  Fremden  gefordert, 
die  Zulassung  eigener  Schutzdetachements  für  die  Legationen 
jedoch  nur  mit  Mühe  erreicht.  Als  erste  Schutztruppe  wären  am 
30.  Mai  morgens  50  Amerikaner  von  dem  Kreuzer  »Newark«,  am 
Abend  desselben  Tages  75  Franzosen,  40  Italiener  und  70  Russen 
und  am  1.  Juni  morgens  25  Japaner  und  50  Engländer  nach 
Peking  abgegangen. 

Auf  die  unter  der  Führung  des  russischen  Militär-Bevoll- 
mächtigten, Oberst  Wogack,  ans  Land  setzenden  Lichterboote  der 
französischen,  italienischen  und  russischen  Detachements  sei  von 
den  Taku-Forts  aus  geschossen  worden,  so  dass  sie  ankern  mussten 
und  die  Fahrt  erst  unter  dem  Deckmantel  der  Nacht  flussaufwärts  fort- 
setzen konnten.  Der  deutsche  Kreuzer  »Kaiserin  Augusta«  habe 
50  Mann  vom  Seebataillon  aus  Tsingtau  gebracht,  um  sie  sobald 
als  möglich  auszuschiffen.  Innerhalb  der  Flussmündung  lägen  zum 
Schutze  der  Bahnstation  Tongku  die  Kanonenboote  »Atago« 
(Japaner),  »Iltis«  (Deutscher),  »Korejec«  (Russe)  und  der  Sloop 
»Algerine«  (Engländer). 

Am  30.  Mai  habe  der  englische  Gesandte  um  rasche  Ab- 
sendung von  Schutztruppen,  erste  Staffel  aller  Nationen  zusammen 
mindestens  500  Mann,  telegraphirt,  da  »Leben  und  Eigenthum  der 
Europäer  in  Gefahr«. 

Seit  der  Wiederherstellung  der  Bahn  habe  sich  jedoch  die 
allgemeine  Auffassung  der  Lage  wesentlich  beruhigt  und  sei  man 
der  Ansicht,  dass  das  prompte  Erscheinen  der  Schutzdetachements 
genügenden  Eindruck  auf  die  chinesische  Regierung  und  Be- 
völkerung gemacht  habe,  um  ernstere  Ruhestörungen  zu  verhindern. 
Erstere  habe  auch  durch  Entsendung  regulären  Militärs  zum  Schutze 
der  Bahnlinien  und  Missionsanstalten  ihre  loyalen  Absichten  dar- 
gethan  —  allerdings  stand  dem  wieder  das  Gerücht  entgegen,  ein 
grosser  Theil  dieser  Truppen  sei  zu  den  Boxern  übergegangen 
oder  verübe  auf  eigene  Faust  Gewaltthätigkeiten. 

Inzwischen  hatte  »Zenta«  alle  international  üblichen  Salute  ab- 
gegeben; nachmittags  verschlechterte  sich  wieder  das  Wetter,  so 
dass  der  Bootsverkehr  zwischen  den  Schiffen  schon  sehr 
schwierig  wurde. 


^u^ 


33 

Gegen  5  Uhr  nachmittags  kehrte  Linienschiffs  -  Lieutenant 
KoUaf  mit  einem  grossen  Tender  zurück;  ausser  der  Meldung, 
dass  am  nächsten  Morgen  um  4  Uhr  ein  Tender  zur  Ueberführung 
des  Detachements  nach  Tongku  eintreffen  werde,  überbrachte  er 
Nachrichten,  die  das  schon  Bekannte  in  seinem  Wesenthchen  be- 
stätigten, zwei  Schreiben  des  mit  der  Vertretung  österreichisch- 
ungarischer Interessen  betrauten  königlich  englischen  Consuls  Carels 
in  Tientsin  und  eine  Depesche  des  k.  und  k.  Geschäftsträgers  in 
Peking.  Letzterer  hatte,  da  die  Gesandtschaft  augenblicklich  über 
kein  Personal  verfügte,  dem  englischen  Consul  in  Tientsin  die  Ein- 
leitung des  Transportes  des  von  »Zenta«  auszuschiffenden  Detache- 
ments übertragen;  diesem  war  es  zwar  gelungen,  den  Eisenbahn- 
zug schon  am  2.  Juni  früh  bereitzustellen,  doch  hatte  er  kein  Mittel 
mehr  gefunden,  dem  Schiffe  beim  Eintreffen  auf  der  Rhede 
diese  Nachricht  zukommen  zu  lassen.  Eine  Ausschiffung  des 
Detachements  noch  am  Abende  des  2.  Juni  wäre  zwecklos  ge- 
wesen, da  keine  Nachtzüge  verkehrten. 

Dr.  von  Rosthorn  ersuchte  in  dem  Telegramme  den  SchiflFs- 
commandanten  um  eine  mündliche  Besprechung  und  da  nach  den 
vorliegenden  Nachrichten  die  Bahnverbindung  mit  Peking  als  ge- 
sichert zu  betrachten  war,  zögerte  Fregatten- Capit an  von  Thomann 
nicht,  diesem  Ersuchen  nachzukommen  und  sich  zu  diesem  Behufe 
nach  Peking  zu  begeben.*) 

Der  Commandant  der  »Zenta«  beauftragte  den  Verfasser  dieser 
Zeilen,  ihn  auf  dieser  dienstlichen,  voraussichtlich  zwei,  höchstens 
drei  Tage  beanspruchenden  Mission  zu  begleiten ;  zur  Vermeidung 
unnöthigen  Aufsehens  wurde-die  Reise  in  Civilkleidung  unternommen. 

Wer  war  froher  als  ich,  der  auf  diese  Art  Peking  gerade 
zu  einer  so  interessanten  Zeit,  wenn  auch  noch  so  flüchtig  kennen 
zu  lernen  Gelegenheit  fand! 

Die  Leute  hatten  bei  Kollaf  Rückkehr  sehr  lange  Hälse 
gemacht  und  waren  die  für  die  Legation  Bestimmten  nun  eitel 
Freude,  als  sie  erfuhren,  dass  am  kommenden  Morgen  wirklich 
und  wahrhaftig  die  Reise  nach  dem  sagenhaften  Orte  gehen 
werde ;    da  wollten  sie  schon  gerne  im  »Consulat«  Wache    stehen 

*)  Englische  Berichterstatter,  Sir  Claude  Macdonald  selbst,  der  Times-Corre- 
$pondent  und  der  Gewährsmann  eines  Shanghaier  Tagesblattes  gefielen  sich  darin,  die 
jeder  Grundlage  entbehrende  Notiz  zu  colportiren,  dass  P'regatten-Capitän  von  Thomann 
lediglich  zu  seinem  Vergnügen  und  aus  eigenem  Antriebe  nach  Peking  gefahren  sei; 
der  letztgenannte  Correspondent  fügte  seinem  überdies  schon  durch  die  Angabe  ge- 
nügend gestempelten  Artikel,  von  Thomann  habe  am  26.  Mai  sein  Schiff  verlassen,  noch 
Anspielungen  auf  die  Folgen  bei,  welche  den  Schiffscommandanten  wegen  dieses  »gegen 
Befehl«  unternommenen  Ausfluges  erwarten. 
Winterhaider:  Kampfe  in  China. 


34 

und  unter  das  gelbe  Lumpenpack  dreinfahren,  wenn's  nicht  schön 
brav  bliebe.  Natürlich  discutirten  Wissensdurstige  unter  ihnen 
lebhaft,  ob  es  in  Peking  auch  »Landgang«,  das  heisst  Erlaubniss 
auszugehen,  geben  würde,  denn  sich  im  Palankin  tragen  lassen, 
Rickshaw  fahren  oder  gar  einen  Vierfüssler  unter  sich  in  Galopp 
setzen,  dass  Alles  erschreckt  zur  Seite  stiebt,  das  sind  doch  die 
schönsten  Augenblicke  im  Matrosenleben,  schon  gar  in  einem 
Land,  wo  »un  goto  de  vin«  (ein  Glas  Wein,  ohne  den  der  Küsten 
länder  nun  einmal  nicht  leben  kann)  gleich  ein  Vermögen  kostet! 

In  den  Messen  wurden,  nachdem  eine  letzte  Besichtigung 
ergeben  hatte,  dass  nichts  an  der  Ausstaffirung  des  Detachements 
fehle  und  Alles  in  schönster  Ordnung  bereit  liege,  die  auf  längere 
Zeit  Scheidenden  gefeiert;  trotz  der  Ermüdung  nach  einem  langen 
Tage  voll  Mühe  und  Sorge  Hess  die  Hauptperson,  KoUaf,  es  nicht 
an  Heiterkeit  fehlen  und  ihm  —  insgeheim  neidisch  —  nochmals 
alle  Genüsse  des  vergleichsweise  doch  comfortablen  SchiflFslebens 
anbietend,  waren  seine  Kameraden  nicht  minder  fröhlich  und  — 
erfindungsreich  in  Politik  und  Strategie !  —  Vorderhand  wünschte 
Jedermann  nur  Eines:  dass  es  morgen  endlich  etwas  ruhigere 
See  machen  möge,  denn  sonst  war  die  Ueberschiffung  recht  eklig 
und  auch  ansonst  war  es  total  ungehörig,  vor  Anker  ganz  blöd- 
sinnig zu  rollen.  Mit  diesem  gegenseitigen  Wunsch,  den  der 
Gesammt-Detail-Officier  wohl  in  banger  Ahnung  um  seine  schönen 
Boote  und  Fallreepstreppen  mit  einem  zweifelnden  Seufzer  be- 
gleitete, begab  sich  zur  Ruhe,  wer  durfte. 

Am  3.  Juni,  Pfingstsonntag,  stand  Alles  zur  Ueberschiffung 
bereit,  natürlich  viel  früher,  als  der  von  der  Schlepper-  und 
Lichtergesellschaft  in  Tientsin  versprochene  Tender  in  Sicht  kam ; 
in  der  Nacht  hatte  es  eine  tüchtige  Böe  gesetzt  und  der  zweite 
Anker  geworfen  werden  müssen.  Das  Anlegen  des  Tenders  war 
unmöglich,  denn  obschon  die  südwestliche  Brise  abflauen  zu  wollen 
schien,  schlug  noch  manche  See  zu  den  Erkern  hinauf  und  so 
erübrigte  nur,  den  kleinen  Dampfer  achter  zu  nehmen,  Leute  und 
Material  in  die  Boote  über  Deck  aus  einzuschiffen  und  die  Boote 
dann  mit  Leinen  auf-  und  abzuholen. 

Endlich  kam  der  »Peiho«  in  Sicht,  übernahm  ein  schweres  Ende 
und  nun  ging  das  Vergnügen  los;  die  Boote  flogen,  von  der  See 
gehoben  und  geworfen,  trotz  aller  Bemühungen  der  Bemannungen, 
sie  freizuhalten,  krachend  gegen  die  Bordwand  und  Mancher,  der 
den  richtigen  Augenblick  verpasste,  um  den  Sprung  von  der 
baumelnden  Jakobsleiter  in  das  auf-  und  abtanzende  Boot  ohne 
Rücksicht  auf  schon  »eingestiegene  Fahrgäste«  zu  wagen,   genoss 


35 

ein  Halbbad.  Dann  kam  der  zweite,  viel  leichtere  Act  der  Er- 
steigcung"  des  Tenders,  denn  dort  erwarteten  schon  mit  diesem 
Sport  vertraute  flinke  Chinesen  die  ersten  Ankömmlinge  und 
halfen  ihnen  über  das  niedere  Bollwerk.  Diese  Chinesen! 
Vorzügliche  Bootsleute,  denen  Wetter  und  See  nichts  anzuhaben 
scheinen,  sind  sie  auf  der  Taku-Rhede  geradezu  unentbehrlich, 
denn  europäische  Bemannungen  wären  für  den  Betrieb  der  kleinen 
Dampfer  und  Lichterboote  unerschwinglich  theuer!  Es  liegt  eine 
eigene  Ironie  darin,  bei  seinem  ersten  Schritt,  um  an  ein  Land  zu 
gelangen,  in  dem  wir  möglicherweise  sehr  ernsten  Dingen  entgegen- 
gehen, so  auf  die  Mithilfe  seiner  Bewohner  angewiesen  zu  sein ; 
von  dem  geschickten  Auffangen  der  zugeworfenen  Leine,  die  den 
von  chinesischen  Matrosen  und  Heizern  bedienten  Tender  mit  dem 
Schiffe  verbindet,  bis  zum  Eintreffen  in  der  Legation  in  Peking 
waren  es  immer  nur  dienstfertige,  flinke  Chinesen,  die  die  Be- 
förderungsmittel bedienten  und  alle  die  untergeordneten,  aber 
nothwendigen  Handreichungen  leisteten! 

Die  Einschiffung  auf  den  Tender  ging  trotz  des  mancherlei 
Gepäcks  in  der  allerdings  langen  Zeit  von  IV*  Stunde  ohne  Ver- 
lust  oder  Unfall  vor  sich  und  um  6V4  Uhr  früh  wurde  das  Ende 
losgeworfen,  »Peiho«  setzte  langsam  in  Bewegung,  die  Schiffs- 
bemannung grüsste  die  Scheidenden  mit  den  üblichen  kräftigen 
Hurrahs  und  von  einer  dwars  hereinschlagenden  See  bespritzt, 
beantworteten  die  »Schutzleute«  lachend  den  Gruss.  Wegen  des 
Seeganges  musste  vorerst  mit  halber  Kraft  gefahren  werden,  bis 
eine  Cursänderung  innerhalb  des  betonnten  Fahrwassers  gestattete, 
mit  See  von  achter  die  ganze  Dampfkraft  anzuwenden. 

Ein  amerikanischer  Officier  —  der  Flaggen-Lieutenant  des 
Admirals  —  der  Depeschen  aufgeben  wollte,  hatte  sich  ange- 
schlossen und  bestätigte,  erst  am  Vortag  von  Tientsin  zurück- 
gekehrt, die  bisher  uns  zugekommenen  Nachrichten.  Gesprächs- 
weise wurde  auch  des  Einflusses  gedacht,  den  das  Wetter  auf  die 
Emteaussichten  des  von  einer  erschreckenden  Dürre  heimgesuchten 
Landes  und  damit  auch  auf  das  Umsichgreifen  des  Boxeraufstandes 
ausübe ;  einige  Tage  ausgiebigen  Regens  und  die  jetzt  verzweifeln- 
den Bauern  würden  den  Vorspiegelungen  der  hetzenden  Boxer 
nicht  mehr  glauben,  dass  der  Himmel  sich  weigere,  sich  mit  der 
durch  die  Anwesenheit  der  Fremden  verunreinigten  Erde  zu  ver- 
mählen!*) 

Sehr  begierig  blickten  wir  Alle  in  der  Richtung  des  Landes, 
das  erst  nach  halbstündiger  Fahrt   als   in    der  Farbe  kaum  merk- 

♦)  Dies  die  gewiss  nicht  unpoetische  Auffkssung  der  Chinesen  vom  Regen. 

3* 


lieh  vom  Wasser  untersclieidbnrer,  ganz  flacher  Streifen  aus  dem 
ebenfalls  missfarbigen  Morgennebel  auftauchte.  Näherkommend, 
nahm  man  endlich  die  regelmässigen  Contouren  des  Südforta 
wahr,  dann  stieg  das  Nordforl  herauf,  gelbbraune  Lehmwerke,  aua 
dem  erdigen,  schmutziggelben  Weisser  hervorragend,  als  seien 
es  nur  erstarrte  Wellen :  die  Scenerie  belebte  sich  durch 
Schlamme  festgefahrene  Dschunken  beiderseits  des  Fahrwassers, 
die  beste  Methode,  das  Ankern  zu  ersparen,  dann  aber,  als  die 
Verbindungslinie  der  Forts  überschritten  und  der  Blick  auf  das 
rege  Treiben  im  Flusse  fällt  und  man  in  nächster  Nähe  über  sich 
an  allen  Seiten  nur  Casematten  und  meistentheils  ganz  moderne 
Geschütze  auf  die  Einfahrt  gerichtet  sieht,  kommt  man  zum  Be- 
wusstsL-in,  was  ein  richtiger  SnhlüssL-Ipunkt   ist!    Wenn   die  gelben 


Kerle  in  ihren  blauleinenen  Blousen  und  weiten  Beinkleidern,  di^ 
da  oben  Posten  stehen  oder  neugierig  gaffend  müssig  ihre  Pfeift 
rauchen,  nur  etwas  Herz  im  Leibe  haben  und  nur  einigermasftei 
ihr  Soldatenhandwerk  verstehen,  so  gibt's  hier  kein  Forciren 
keine  Landung,  dann  muss  man  weit  ausholen,  um  den  blauei 
Drachen  im  gelben  Feld,  der  da  von  den  Flaggenmasten  weht; 
herunterzuholen  und  durch  ein  ruhmvolleres  Zeichen  zu  ersetzen 
.Selbst  die  kleinen  Schiffe  könnten  nicht  ungestraft  heran,  wenn  Minei 
da  ausgelegt  würden,  und  wie  schön  schulmässig  würden  sich  di 
(ieschütz  und  Mine  gegenseitig  ergänzenl 

Der  Anblick  wirkte,  wie  gesagt,  nicht  erfreulich,  aber  dil 
Anwesenheit  der  vier  fremden  Kanonenboote,  die  die  gefährliche 
Schwelle  doch  schon  überschritten  hatten  und  nun  schön  verthci^ 
vor  Anker  lagen,  um  die  schwächer,  wenngleich  noch  immer  gaa 


87 

respectabel  vertheidigten  Kehlen  der  Werke  vorderhand  nur 
•einzusehen«,  hatte  etwas  ungemein  Beruhig-endes.  Auf  die 
Kanonenboote  und  ihre  Bemannungen  kann  man  sich  verlassen; 
dies   Gefühl  hatten  wir  sicher  Alle. 


nun 
ging's  weiter  hin- 
auf, links  das  grosse 

Fischerdorf  Taku, 
schmutz! ggetbe  Erde,  sol- 
cher Sand,  schmutziggelbe 
Lehmhütten  undnochschmutzi 
gere   gelbe  Menschen,  zumeist 
nackte   Kinder,   die  in   diesem 
Pfuhl     gleichwohl   ausgelassen 
heiter    tollen,    und    halbnackte 
Schiffer,  Fischer,  Arbeiter  und 

Verkäufer;  kein  grüner  Halm,  geschweige  denn  Strauch  oder 
Baum  bis  zu  dem  ärmlichen  Gärtchen  des  «Hotel  Taku«  —  einem 
Object  kühner  Speculation  auf  den  Durst  einiger  Dampfercapitäne, 
Stromwächter    und    der   wenigen   Europäer   in    zwei   Schiffswerk- 


38 

Stätten.  Vier  chinesische  Hochsee-Torpedoboote,  erst  vor  Kurzem 
aus  Deutschland  gebracht,  liegen,  schon  sichtlich  angekränkelt  von 
der  chinesischen  Behandlung,  fest  im  Uferschlamm,  ein  kleiner 
Kreuzer;  noch  nicht  vollendet,  sieht  noch  melancholischer  aus. 

Aber  welch  ein  Treiben!  Je  mehr  man  sich  dem  am  linken 
Flussufer  gelegenen  Tongku  nähert,  wo  der  Umschlagplatz  von 
Eisenbahn  auf  Dampfer  sich  schon  von  Weitem  durch  den  wohl- 
bekannten geschäftigen  Lärm  knarrender  Krahne,  polternder 
Lasten  und  surrender  Dampfspille  verräth,  desto  mehr  tritt  der 
europäische  Apparat  für  Bahn-  und  Seeverkehr  hervor. 

Ich  kann  nicht  umhin,  hier  eine  Episode  einzustreuen,  welche 
auf  die  den  Japanern  angeborene  militärische  Spürwuth  hindeutet. 
Der  Stab  hatte  einen  sich  als  Compradore  (Einkäufer)  meldenden 
Besitzer  eines  kleinen  Hotels  in  Nagasaki  für  die  Japan-Kreuzung 
aufgenommen;  Katsutaro  erklärte  in  Sasebo,  auf  eigene  Gefahr 
ohne  Separatansprüche  auch  nach  China  mitzugehen,  und  war  auf 
dem  »Peiho«  mitgekommen,  um  in  Tongku  oder  Tientsin  Lebens- 
mittel einzukaufen. 

Kaum  hatte  er  die  Forts  erkannt,  so  zeichnete  er  auch  schon 
ihre  Umrisse,  zählte  die  Geschütze,  Casematten  und  Traversen 
und  war  von  dieser  mit  seinem  gastlichen  Gewerbe  so  gar  nicht 
zusammenhängenden  Beschäftigung  derart  erfüllt  und  begeistert, 
dass  er  für  nichts  Anderes  mehr  empfänglich  schien.  Ob  die 
japanische  Regierung  ihm  für  seinen  werthvollen  Bericht  Dankbar- 
keit erwies,  ist  unbekannt.  Katsutaro  kehrte  in  der  zweiten  Hälfte 
Juni  zurück,  nachdem  es  keine  Commissionsprocente  mehr  zu  ge- 
winnen gab. 

Gleichzeitig  mit  dem  »Zenta«-Detachement  war  auch  das 
50  Mann  starke  deutsche  mit  einem  anderen  grossen  Lichter  in 
Tongku  angekommen,  wo  sich  die  Einwaggonirung  beider  Ab- 
theilungen rasch  vollzog. 

Das  einzige  Auffallige  an  diesem  von  Geschäftigkeit  wimmeln- 
den Platze  war,  dass  der  Bahnhof  von  chinesischem  Militär,  mit 
modernen,  allerdings  etwas  verwahrlost  aussehenden  Gewehren 
ausgerüstet,  besetzt  war;  seine  Haltung  war  die  apathischer 
Gleichmüthigkeit  —  nicht  einmal  das  typische  Geschwatze  hub 
an,  als  die  fremden  Soldaten  an  ihnen  vorüberzogen,  ein  Zeichen, 
dass  sie  strengen  Befehl  hatten,  sich  vollkommen  ruhig  und  mög- 
lichst würdevoll  zu  benehmen.  Die  Constabler  des  deutschen  und 
englischen  Consulats  in  Tientsin  waren  hergesendet  worden,  um 
bei  der  Abwicklung  der  Geschäfte  mit  dem  chinesischen  Stations- 
personal zu  helfen,  die  einfacher  als  erwartet  vor  sich  ging. 


Die  Commandameii  der  deutschen  Kriegsschiffe  »Kaiserin 
August»'  und  •Iltis«,  Capitäii  zur  See  Giilich  und  Corvetten-Capitän 
Lans.  waren  auf  den  Bahnhof  gekommen  und  namentlich  letzterer 
sprach  sich  auf  Grund  persönlicher  Wahrnehmung-en  sehr  zuver- 
sichtlich aus.  Mit  dem  Führer  des  deutschen  Detachements,  Ober- 
lieutenant Graf  Alfred  Soden,  wurden  hier  die  ersten  Beziehungen 
angeknüpft,  die  sich  in  der  Folge  zu  einer  herzlichen  Kamerad- 
schaft entwickelten. 

Mit  einiger  Verspätung  setzte  sich  der  Zug,  in  dem  sich  viele 
Chijiesen  und  nur  einzelne  nach  Tientsin  reisende  Europäer  be- 
fanden, endlich  gegen  lO'.'i  Uhr  Vorm.  in  Bewegung;  die  Gegend 
bis  Tientsin  bot  nicht  viel  Abwechslung  gegen  das  unfreundliche 
Bild  an  der  Flussmündung.  Dürres,  gelbes  Sandland,  von  Tümpeln 
unterbrochen,    dess.-n  Anblick    ikirch    dit-    blauen   Fensterscheiben 


der  Waggons  wohl  weniger  schmerzhaft  für  lÜe  Augen,  darum 
aber  noch  immer  nicht  freundlicher  wurde:  als  Abwechslung  nur 
viele  Windmühlen,  die  das  Seewasser  in  die  Salzpfannen  pumpen, 
und  grosse  Salzhaufen. 

Von  Tientsin  selbst  war  ausser  dem  bemerkenswerthen  Um- 
fcng  der  Stadt  vom  Bahnhofe  aus  nur  wenig  zu  sehen,  ausserdem 
wurde  die  allgemeine  Aufmerksamkeit  durch  den  herzlichen 
Empfang  gefesselt,  den  die  nahezu  vollzählig  erschienene  deutsche 
Colonie.  darunter  viele  Damen  und  Kinder,  ihrem  durchfahrenden 
Detachement  bereitete;  von  den  in  verschwenderischer  Menge 
herbeigebrachten  Stärkungen  boten  die  liebenswürdigen  Wirthe 
«uch  den  nicht  angesagten  österreichisch- ungarischen  Matrosen 
gleich  herzlich  wie  massenhaft  an.  In  aller  Eile  —  der  Aufenthalt 
währte  nicht  länger  als  10  Minuten  —  wurden  Bemerkungen  über 
dte  Aussichten  ausgetauscht,  auch  hier  Alles  in  gehobenerer 
Stimmung.     Mr.    Carels    hatte    sich    durch    seinen    Secretär    ent- 


schuldigen  lassen,  dass  er  durch  den  Besuch  des  i^nfflischen  Vice- 
Admirals  verhindert  sei,  zur  Bah«  zu  kommen.  —  Ein  plötzlich 
niedergehender  tüchtiger  Regenschauer  beendete  die  lebhafte 
Canversation  und  schon  ging's  vveiter. 

Zwei  in  Tientsin  eingestiegene  Passagiere,  der  erste  Secrctir' 
der  belgischen  Gesandtschaft,  Chevalier  de  Melotte,  und  der 
Secretär  der  deutschen  Legation,  Herr  von  Bergen,  machten  uns 
im  Laufe  der  Fahrt  mit  manchen  Details  aus  den  letzten  Tagen. 
bi'kannt;  die  Wiederherstellung  der  Bahn  h.iite  die  Befürchtungen 


zerstreut.  Momentan  war  man  nur  um  das  Schicksal  der  Flücht- 
linge von  Paotingfu  besorgt,  über  die  noch  immer  Nachrichten 
fehlten  und  zu  deren  Aufsuchung  von  Tientsin  eine  (rruppe  be- 
waffneter Europäer  und  euiige  (von  »Gremja-ACiji.  aus  Port  Arthux 
gebrachte)  Kusaken  aufgebrochen  waren. 

Der  Charakter  der  Landschaft  änderte  sich  erst  nach  dent 
Passiren  der  grossen  Brücke  bei  Vangtsun.  Dort  war  scheinbar 
lange  kein  erquickender  Regen  niedergegangen,  ivenigstens 
deuteten  die  Staubwolken,  die  jeder  Sichelstrich  arbeitend« 
Bauern  aufwirbelte,    darauf  hin   —   was  diese  armen  Leute  jedoch 


mähen  wollten,  war  selbst  auf  die  kurze  Entfernung-  von  30  Schritten 
nicht  auszunehmen,  Grössere  Dörfer,  mit  hohen  Bäumen  um- 
päanzt,  und  bald  hier  und  dort  ein  Grabhain  unterbrachen  die 
Monotonie.  An  den  Stationen  überall  Militär,  das  neug-jerig-  den 
Zug  und  seine  Passagiere  musterte,  wohl  auch  grinsend  kleine 
Geschenke  in  Form  von  Cigaretten  und  Esswaaren  annahm;  alle 
halten  die  Verschlüsse  der  Gewehre  sorjerfaltig-  mit  Lappen  um- 
wickelt, wohl  auch  über  die  Patronengürtel  derlei  Zeug-  gehängt, 
um  sie  vor  Staub  zu  schützen.  Sehr  iroponirend  sahen  diese 
Krieg-er  zwar  nicht  aus,  doch  machten  sie  viel  mehr  den  Eindruck 


von  Felilsoldalen  als  die  in  manchen  anderen  Gegenden  Chinas 
Besehenen  Garnisonen, 

Nur  ein  Europäer  befand  sich  als  Zugsführer  unter  dem 
(faii?.en  Zug-spersonale ;  er  und  die  chinesischen  t'onducteure  er- 
■•«chtt^n  dringlichst,  die  Leute  während  der  Haltepausen  nicht  aus 
den  Waggons  steigen  zu  lassen  —  wahrscheinlich  aus  Besorgniss 
rur  einer  plötzlich  entstehenden  Streitigkeit  mit  den  chinesischen 
Soldaten. 

In  Fengtai,  der  letzten  Station  vor  Matschapu-Peking.  sah 
man  zum  erstenmale  Spuren  der  Boxerthätigkeit :  das  Heizhaus 
mid  ein  Theil  des  Stationsgebäudes  selbst  waren  verbrannt,   auch 


42 

die  Reste  eines  demselben  Schicksal  anheimgefallenen  Waggons 
standen  auf  einem  Stockgeleise. 

Nach  kurzer  Fahrt  lief  der  Zug  gegen  3  Uhr  nachmittags 
auf  der  Endstation  Matschapu  ein;  in  der  Ferne  waren  die  hohen 
Mauern  Pekings  sichtbar  geworden,  doch  die  bevorstehende  Aus- 
waggonirung  lenkte  einstweilen  die  Aufmerksamkeit  ab.  In  dem 
Gewühl  von  Menschen  wurden  einige  Europäer  sichtbar,  der  kaiser- 
lich deutsche  Gesandte  Baron  Ketteier  mit  den  Herren  seiner  Legation, 
die  ihr  Detachement  einholten.  Ein  junger  Mann  in  Reitkleidern 
kam  auf  uns  zu  und  hiess  uns  als  Landsmann  willkommen;  es  war 
Herr  Eugen  Wihlfahrt,  Beamter  der  russo-chinesischen  Bank,  dessen 
Vielseitigkeit  und  Energie  wir  später  noch  sehr  hoch  schätzen 
lernten,  nachdem  uns  sein  Entgegenkommen  schon  so  freudig 
berührt  hatte.  Er  überbrachte  uns  einen  Brief  von  Dr.  von  Rosthorn, 
der  als  alleinige  Amtsperson  die  Legation  zu  dieser  Tageszeit  nicht 
auf  mehrere  Stunden  verlassen  konnte.  Mit  Herrn  Wihlfahrt's 
Beihilfe  gelang  das  schwierige  Stück,  unter  den  Hunderten  von 
sich  drängenden  Fuhrleuten  und  Lastträgern  Auswahl  zu  treffen 
und  die  Bagage  vollzählig  in  einen  geschlossenen  Zug  zu  vereinigen, 
ohne  viel  Zeitverlust;  er  und  sein  Begleiter,  M.  Fliehe  von 
der  französischen  Gesandtschaft,  stellten  den  Officieren  auch  Pferde 
bei,  damit  sie  einen  würdigen  Einzug  halten  könnten.  Bis  zum 
Südthore  der  Chinesenstadt,  dem  Yungting-men,  fuhr  die  Mannschaft 
in  der  elektrischen  Trambahn,  so  Mancher  von  ihnen  wohl  zum 
erstenmale  in  einem  derartigen  Vehikel;  von  da  an  marschirten 
das  deutsche  und  das  österreichisch-ungarische  Detachement,  an 
der  Spitze  Freiherr  von  Ketteier,  gemeinsam  in  das  eigentliche 
Peking  ein.  Der  Weg  durch  die  Chinesenstadt  zwischen  dem 
Himmels-  und  dem  Ackerbautempel  hindurch  war  noch  relativ 
frei ;  in  der  Nähe  der  Tartarenstadt,  wo  die  schönen  und  reich- 
geschmückten Kaufläden  eine  gerade  Zeile  bilden,  begann  der 
Zulauf  neugieriger  Zuschauer  grosse  Dimensionen  anzunehmen 
und  konnten  diese  nur  durch  das  rücksichtslose  Einschreiten  der 
Strassenpolizei,  die  von  Stöcken  und  Peitschen  einen  recht  frei- 
gebigen Gebrauch  machte,  zum  Freihalten  des  Weges  gebracht 
werden.  Doch  waren  weder  unfreundliche  Gesichter  noch  die  be- 
leidigenden Zurufe,  die  wir  von  anderen  Gelegenheiten  her  kannten, 
zu  bemerken. 

Das  Imposanteste  für  den  ankommenden  Fremden  ist  der 
Anblick  der  Stadtmauer,  welche  die  Tartarenstadt  umgibt,  und 
speciell  des  grossen  südlichen  Mittelthores  Tschien-men;  die  mäch- 
tigen Dimensionen  und  der  gute  Bauzustand  stechen  auffallig  von 


der  Umgebung  ab.  Diese  Thoranlage  bildet  ein  grosses  Viereck, 
dessen  nördliche  und  südliche  Mauer  von  einem  mehrstöckigen 
Wachgebäude  gekrönt  ist:  das  südliche  äussere,  unter  normalen 
Verhältnissen  verschlossen  gehaltene  Thor  zu  passiren,  ist  ein 
geheiligtes  Vorrecht  des  Kaisers  und  seiner  Familie,  der  gewöhn- 
liche Verkehr  geht  zu  beiden  Seiten  desselben  auf  mit  ge- 
waltigen, eisenbeschlagenen  Thoren  absperrbaren  Wegen  in  den 
Hof  und  von  da  führt  die  Strasse  wieder  durch  ein  schweres 
Thor  nordwärts  in  die  Tartaren  Stadt. 

Unter  dem  Klange  der    deutschen  Trommeln  und  Pfeifen  — 
■//■lU.i.      h^U:-     |.-iil..T     ihr.'u     i-iTuiürd      Spirlm.-inn     niilit      ril>g.'hen 


können  —  wurde  durch  die  Thore  vorbei  an  noch  viel  weniger 
reputirlich  aussehenden  chinesischen  Soldaten,  als  die  bisher  ge- 
sehenen, einmarschirt ;  die  beiden  kleinen  Schaaren  machten  sicht- 
lich auf  die  Menge  Eindruck.  Aber  auch  das  eben  durch  schritten  e 
Thor  verfehlte  nicht  seine  Wirkung  auf  die  Einziehenden  —  wenn 
es  sich  vielleicht  hinter  uns  schliessen  sollte,  würde  es  doch  ein 
hartes  Stück  Arbeit  sein,  sich  den  Rückweg  hindurch  zu  bahnen! 
Kurz  vor  ö  Uhr  nachmittags  traf  das  Detachement  in  der 
österreichisch-ungarischen  Gesandtschaft  ein;  Legationssecretär 
Dr.  von  Rosthorn  und  seine  Gemahlin  empfingen  die  Ankömm- 
linge aufs  Herzlichste  und  ihnen  ist  es  zu  danken,  dass  sie  sich 
von  der  ersten  Stunde  an  auf  heimatlichem  Boden  fühlten. 


Herr  van  Rosthorn  blickte  zur  Zeit,  als  wir  ihn  kennen  Ii;Tntcn,  I 
bereits  auf  eine  zwanzigjähre  Erfahrung  in  China  zurück.  Ursprüng-T 
lieh  in  Diensten  der  kaiserlichen  Seezollverwaltung,  dieser  in  ihrerfl 
Art  einzig  bestehenden  und  dank  dem  internationalen  Charakterl 
des  Beamten körpers  so  hervorragend  functionirenden  Institution,! 
hatte  er  sich  auf  den  verschiedensten  Posten  im  Inneren,  wie  den  I 


weltentrückten  Tschunking  und  Itschang.  die  wegen  der  gänuia 
Isolirung  hohe  Anforderungen  an  die  Hnergie,  Initiative  und  Ge4 
schicklichkeit  im  Verkehr  mit  den  Landesbehörden  stellen,  und  in  d« 
Vertragshäfen  an  der  ganzen  chinesischen  Küste  nicht  nur  eine  gründJ 
liehe  Kenntniss  der  Wrhältnissc  di-s  Landes  und  seiner  Bewohnoif 
r.«rworben,  sondern  auch,  durch  die  Geschichte  und  Lileralur  Chinal 
mächtig  angeregt,  einen  bedeutenden  Namen  als  Sinologe  gemacbcJ 
Ausser  diesen  werlhvollen  Errungenschaften  verfügte  er  noch  Qbrd 
viele  Beziehungen  zu  den  officicllen  und  sonst  hervortretenden  Poi 


eönlichkeiten  einheimischer  und  fremder  Abstammung,  wt-Iclie  an  dor 
Entwicklung  und  Erschliessung  des  himmlischen  Reiches  eine  Rolle 
hpiviten,  so  dass,  alsOesterreich-Ungarn  eine  ständige  Gesandtschaft 
am  Pekinger  Hofe  schuf,  kein  berufenerer  Mann  als  er  zum  ersten 
Secretär  gewählt  werden  konnte,  Ende  1896  trat  Herr  von  Rosthom 
somit  in  den  diplomatischen  Dienst  seines  Vaterlandes  über. 


In  Frau  von  Rosthom.  die  vor  fünf  Jahren  dem  weitschich- 
tigen  Vetter  als  Gemahlin  in  die  an  nicht  alltäglichen  Ereignissen 
w  reiche  Fremde  gefolgt  war,  lernten  wir  schon  in  der  ersten 
Viertelstunde  die  blühende  Incarnation  der  Vorzüge  der  Frauen 
Wiens  hochschätzen:  aus  jedem  Worte  sprechende,  weltläufige 
Klugheit  verlieh  ihrem  so  frischen,  anmuthigen  und  bei  aller 
natürlichen  Liebenswürdigkeit  doch  so  energischen  Wesen  einen 
gaoi  besonderen  Zauber,  Sie  war  es  auch,  die  uns  persönlich  mit 
(Ivr  nruen  Umgebung  bekannt  machte. 


46 

Die  Gesandtschaft  war  die  neueste  unter  allen  und  das 
Ministerhaus  als  das  schönste  europäische  Gebäude  in  Peking  be- 
kannt; ihre  Lage  an  der  äussersten  Nordostecke  des  sogenannten 
Legationsviertels  an  der  Kreuzung  der  von  der  Kaiserstadt 
östlich  führenden  Tschangan-Strasse  mit  der  unter  der  familiären 
Bezeichnung  »Bob-Lane«,  auch  Customs-Strasse  bekannten,  bot 
mancherlei  unter  den  verschiedenen  Witterungsverhältnissen 
schätzbare  Vortheile,  hingegen  auch  den  grossen  Nachtheil  der 
Isolirung. 

Das  nächste  von  Europäern  bewohnte  Gebäude,  das  General- 
Inspectorat  der  kaiserlichen  Seezölle  mit  dem  Privathause  des 
General-Inspectors  Sir  Robert  Hart,  lag  einige  hundert  Schritte 
weiter  südlich  und  an  der  Westseite  der  Strasse ;  im  Osten  grenzte 
die  Legation  an  einen  verlassenen,  sehr  ausgedehnten  Prinzen- 
palast (Fu),  als  Gegenüber  hatte  sie  einen  ummauerten  freien  Platz, 
in  dem  sich  eine  ziemlich  verwahrloste  prinzliche  Grabstätte  be- 
fand, während  sich  im  Süden  ein  Gewirre  von  kleinen  Chinesen- 
häusern anschloss. 

Schon  beim  Einmärsche  war  die  für  Pekinger  Verhältnisse 
vielbedeutende  Neuerung  der  macadamisirten  Strasse  im  Legations- 
viertel angenehm  aufgefallen ;  auch  die  Customs-  und  die  Tschangan- 
Strasse  waren  eben  in  moderner,  für  den  Verkehr  so  wohlthuen- 
der  Weise  umgestaltet  worden  und  um  den  Eindruck  vollzu- 
machen, dass  der  Fortschritt  sogar  schon  innerhalb  der  Mauern 
der  lange  vor  dem  Fremden  gehüteten  Capitale  eingezogen, 
glänzte  das  Leitungsnetz  einer  die  Legationen  mit  Licht  ver- 
sehenden elektrischen  Anlage  über  den  Strassen.  Ja,  trotz  dem 
Widerstände  der  Karrenbesitzer  war  vor  etwa  zwei  Monaten  ein 
Rickshaw-Unternehmen  durchgedrungen,  dessen  Vehikel  sich  an- 
scheinend schon  grosser  Beliebtheit  erfreuten. 

Freilich  ächzten  und  knarrten  daneben  die  chinesischen 
Karren,  deren  unförmliche,  häufig  mit  schweren,  spitzen  Nägeln 
beschlagene  Räder,  blaue  Vorhänge  und  Sonnendächer  einen  ganz 
aparten  Eindruck  machten  ;  eine  längere  Fahrt  in  diesen  federlosen, 
zweirädrigen  Gefährten  gehört  übrigens  zu  den  ermüdendsten 
Geduldproben  und  wegen  der  Beschaffenheit  der  Wege  und  Störrig- 
keit  der  Maulthiere  auch  für  Arm  und  Bein  bedenklichen  Ver- 
gnügungen —  trotzdem  spielt  dieses  Beförderungsmittel  eine 
hervorragende  und  noch  bedeutendere  Rolle  als  Sänften  und 
Reitthiere. 

Wer,  aus  den  Vertragshäfen  kommend,  ähnliche  Verhältnisse 
wie  dort  auch  in  Peking  zu  finden  vermuthete,   konnte  gleich  die 


Erfahruni^  machen,  dass  die  Hauptstadt  viel  weiter  von  jenen  ent- 
fernt sein  müsse,  als  die  Kilometeranzahl  vermuthen  lässt.  Vor 
Allem  sind,  mit  Ausnahme  zweier,  der  chinesischen  Regierung  von 
den  Legationen  abgerungener,  keine  weiteren  europäischen  Kauf- 
läden und  nur  ein  europäisches  Hotel  vorhanden,  das  den  Stadt- 
namen führt:  die  Kenntniss  des  Pidgin-Englisch  ist  nur  mehr  auf 
die  höheren  Classen  der  Dienerschaft  beschränkt,  und  während 
man  in  Hongkong  und  Shanghai  selbst  mit  Chinesen  verkehrend, 
sein  Leben  verbringen  kann,  ohne  wirklich  —  von  10^12  Brocken 
06lasiatischi_-s    Kaurii-rwälsch    abgesehen     —     ?.ur     Erlernung     des 


Chinesischen  gezwungen  zu  sein,  wird  letzteres  in  Peking  zur  ge- 
bieterischen Noth wendigkeit.  Das  Volk  sieht  schmutziger  und 
lnnlich*?r  aus  als  im  Süden,  auch  kam  uns  dessen  Hautfarbe 
Bankier  vor. 

Soweit  die  flüchtigen  ersten  Eindrücke,  die  wir  wahrend  des 
Vom  schönsten  Wetter  und  auch  durch  den  Umstand  begünstigten 
Einmarsches  empfangen  hatten,  dass  ein  vormittags  gefallener 
Regen  die  allzu  sommerliche  Temperatur  abgekühlt  und  den  auch 
auf  der  Macadamstrasse  dick  liegenden  Staub  gelöscht  hatte. 

(»leich  nach  der  ersten  BegrOssung  und  nachdem  die  k.  und  k. 
Krieg&flagge  auf  dem  Thor  gehisst  und  die  Wache   bezogen  war. 


48 

hielten  Fregatten-Capitan  von  Thomann  und  Dr.  von  Rosthorn  eine 
eingehende  Besprechung  über  die  Lage  und  die  sich  hieraus  für 
■Zenta«  ergebenden  Aufgaben  ab.  Erstere  anbelangend  theilte  der 
Geschäftsträger  die  allgemeine  Auffassung,  dass  die  Situation 
augenblicklich  ihren  acuten  Charakter  verloren  habe,  seitdem  die 
Verbindung  mit  der  Küste  wieder  hergestellt  und  die  Schutz- 
detachements,  deren  Stärke  im  Volksmunde  natürlich  auf  das  Zehn- 
fache der  Wirklichkeit  anwuchs,  angekommen  seien.  Sehr  ernst 
sei  sie  nur  während  der  Tage  vom  27.  bis  30.  Mai  angesehen 
worden,  in  welche  die  bereits  bekannten  Gewaltacte  gegen  die 
Bahnlinien  und  die  Weigerung  der  Regierung  fielen,  die  von  den 
Gesandten   geforderte  Heranziehung   eigener  Wachen    zuzulassen. 

Diese  Weigerung  war  durch  den  Hinweis  auf  die  thatsächlich 
zwischen  dem  26.  und  29.  Mai  erlassenen  Edicte  begründet  worden, 
mit  welchen  allerdings  strenge  Massregeln  nicht  nur  gegen  die 
aufrührerische  Propaganda  der  Boxer  verfügt,  sondern  auch  die 
Aussendung  von  Truppen  zum  Schutze  bedrohter  Punkte  und 
eine  wesentliche  Verschärfung  des  Polizeidienstes  in  Peking  an- 
geordnet worden  waren.  Das  stärkste  Argument  für  die  ehrlichen 
Absichten  der  Regierung  dürfte  in  diesem  Falle  die  Nennung 
einer  Reihe  von  Executivorganen  —  an  der  Spitze  der  Militär- 
gouverneur und  Polizeipräfect  der  Hauptstadt  Tschungli  —  ge- 
wesen sein,  welche  vor  Lauheit  in  der  Ausführung  ergangener 
Befehle  im  Allgemeinen  und  davor  gewarnt  wurden,  sich  keine 
gegenseitige  Ueberwälzung  der  Verantwortung  und  dadurch  Ver- 
zettelung zu  Schulden  kommen  zu  lassen. 

Immerhin  hatten  die  Gesandten,  durch  Erfahrungen  gewitzigt, 
die  Einberufung  von  Detachements  der  Schiffe  beschlossen  und 
dies  in  einer  Collectivnote  am  28.  Mai  dem  Tsungli-Yamen  notifi- 
cirt,  welches  daraufhin  die  Eisenbahnzüge  beistellte,  jedoch  den 
Wunsch  äusserte,  man  möge,  um  eine  Beunruhigung  der  Stadt- 
bevölkerung zu  vermeiden,  ähnlich  wie  im  Präcedenzfalle  1898 
sich  mit  20 — 30  Mann  per  Nation  begnügen.*) 

Nach  Dr.  von  Rosthorn's  Ansicht  sollte  »Zenta«  einstweilen 
auf  der  Rhede  von  Taku  die  Entwicklung  der  Dinge  während 
der  nächsten  Tage  abwarten  und,  falls  diese  eine  befriedigende 
sein  würde,  die  Kreuzung  an  der  koreanischen  und  westlichen 
Küste  Japans  fortsetzen.  Die  weitere  Gestaltung  der  Lage  hänge 
hauptsächlich  vom  Ergebniss  der  Ernte  ab;  eine  Missernte  würde 


♦)  Näheres  über  die  chinesischen  Edicte  enthalten  die  veröffentlichten  Samm- 
lungen diplomatischer  Documente  einzelner  Nationen ;  am  ausführlichsten  gibt  sie  die 
englische  wieder. 


49 

der  fremdenfeindlichen  Bewegung  viele  sonst  gleichgiltige  Elemente 
zuführen  und  deshalb  sei  erst  zu  Ende  des  Sommers  eine  ent- 
scheidende Wendung  zu  erwarten. 

Gleichzeitig  theilte  der  Geschäftsträger  mit,  dass  er,  die  Zu- 
lässigkeit  vom  militärischen  Standpunkte  vorausgesetzt,  dem 
königlich  belgischen  Gesandten  M.  de  Joostens  den  Schutz  der 
belgischen  Gesandtschaft  durch  das  österreichisch  -  ungarische 
Detachement  angetragen  und  M.  de  Joostens  dieses  Anerbieten 
dankend  angenommen  habe.  Vorgreifend  sei  erwähnt,  dass  vom 
4.  Juni  an  eine  Abtheilung,  bestehend  aus  einem  Seecadetten  und 
8  Mann,  die  Bewachung  der  nur  6 — 7  Gehminuten  entfernten  bel- 
gischen Gesandtschaft  übernahm. 

Die  Nacht  verlief  ruhig ;  letzteres  allerdings  nur  nach  Pekinger 
Begriffen,  denn  die  lärmenden  Ausrufe  der  zahlreichen  Verkäufer 
dauern  regelmässig  bis  Mitternacht  und  dann  mischen  sich  in  die 
Trommeln  der  Nachtwächter  weithin  schallende  Gongschläge  in  den 
Tempeln  und  häufige  blinde  Schüsse,  die  Diebe  und  böse  Geister 
fernhalten  sollen. 

Frühmorgens    des  4.  Juni    unternahmen  Frau    von   Rosthom, 
Herr  Wihlfahrt  und  ich,  von  einem  chinesischen  Reitknecht  (mäfu) 
begleitet,  einen  Spazierritt   nach  dem  Norden  der  Stadt,    der  sich 
jedoch  durch  ein  Erlebniss  mit  der  chinesischen  Polizei-  und  Militär- 
g'ewalt  etwas   ausdehnte   und   mir   nebst   einer  Fülle   interessanter 
Bilder  aus  dem  Strassenleben  die  erste  Gelegenheit  gab,  die  Ent- 
schlossenheit unserer  verehrten  Landsmännin  zu  bewundern.  Durch 
die  grosse  Nordstrasse  reitend,  sollten  wir  beim  östlichen  Nordthore 
(Anting-men)  das  Weichbild    der  Stadt  verlassen    und    ausserhalb 
entlang  der  Stadtmauer  unseren  Weg   nehmend,    durch  das  west- 
liche Nordthor  (Toscheng-men)   zurückkehren.   Schon    nahe     dem 
ersteren  Thore  trafen  wir  mit  einer  starken  Abtheilung  in  gleicher 
Richtung    marschirender    Bannertruppen     zusammen,    deren    An- 
blick an  das  ältere  China  gemahnte ;  diese  aus  Mandschu  gebildete 
Truppe  führt  als  Bewaffnung  die  schwerfällige,  lange  Büchse,  die 
bei  uns  nur  mehr  als  Musealstück    oder  in   einigen  Gegenden  als 
Entengewehr    bekannt    ist    und    drei  Mann    zu    ihrer    Bedienung 
braucht.    Die  munter  ihre  Fächer   schwingenden    Soldaten    Hessen 
uns  unter  manchem  Scherzwort  ungehindert  ihre  Reihen  passiren, 
so   gut    und    schlecht    es    eben  die    zu  beiden  Seiten    mit   tiefen 
Gräben    eingefasste,    sehr  holperige  Strasse    ermöglichte;    anders 
beim  Thore.    Dort  sperrten  Soldaten    und    Polizeileute    den  Weg 
völlig  ab  und  ein  paar  von  Wichtigkeit  geschwellte  Beamte  ver- 
suchten   sehr    aufgeregt    die    kleine    Cavalcade    zur  Umkehr    zu 

Winterhaider:  Kämpfe  in  China.  4 


zwingen,  zur  Entschuldigung  beifügend,  sie  hätten  strengen  Befehl, 
keinen  Europäer  ausserhalb  des  Thores  zu  lassen,  denn  draussen 
exercirten  Soldaten,  die  uns  vielleicht  unangenehm  würden. 
Herr  Wihlfahrt  und  der  Mafu  verdolmetschten  das;  Frau  von 
Rosthom,  über  die  Zumuthung  entrüstet,  gab  ohne  viel  Worte 
das  Beispiel  scharf  anzureiten,  aber  schon  waren  wir  eingekeilt 
und  ein  Durchdringen  der  Menschenmauer  unmöglich.  Augen- 
blicklich brach  unsere  darob  noch  empörtere  Führerin  nach  links 


Tanslu;    ,     Kinhf.SI.Jaitf 
ConfUeiBi-TBiiipd 


Matschapu 


aus  und  im  Galopp  gings  längs  der  Stadtmauer  dem  Toscheng-men 
zu;  erst  nach  ein  paar  Minuten  in  Trab  setzend,  rief  uns  die  Dame 
zu,  wir  müssten  dort  wenigstens  hinaus,  nur  um  den  Chinesen 
zu  zeigen,  dass  sie  ebenso  unverschämt  als  unfähig  seien,  unser 
Vorhaben  vereiteln  zu  wollen. 

Wieder  in  .schnellerer  Gangart  beim  Toscheng-men  angelangt, 
glückte  es  uns  zwar,  die  dortige  Wache  zu  überrumpeln  und  mit 
Hinterlassung  des  Mafu  in  ihren  Händen  aus  dem  Thore  ins  Freie 
zu  kommen,    doch    setzten    uns    die  Häscher    schreiend    und  ge- 


6t 


sliculircnd  nach,  bis  ihr  Athcm  erschöpft  war.  so  daas  wir  die 
Nordwest-  und  Westseite  der  Stadt  unter  der  Mauer  entlang 
reiten  mussten,  um  dann  erst  auf  dem  Umwcg-e  durch  die  Chinesen- 
Stadt  beim  Tschien-men,  wo  Alles  ruhig-  war,  in  die  Tartarenstadt 
zurückzukehren.Wirhattcnungefahrzwei  Drittel  desganzenUmfangf  es 
letzterer  —  also  reichlich  zwölf  englische  Meilen  —  zurückgelegt,  meist 
auf  gutem  Reitboden,  doch  häufig  gezwungen,  träge  Wasserläufe 
zu  überschreiten,  und  einigemale  durch  mongolische,  auf  der  Ab- 
reise begriffene  Kameelkarawanen  aufgehalten. 


Bald  nach  der  Rückkehr  von  dem  kleinen  Abenteuer  —  auch 
öer  Mafu  war  mit  einer  noch  glimpflichen  Verwarnung  entlassen 
worden  —  trafen  jedoch  Nachrichten  ein,  welche  die  tagsvorher 
noch  gehegte  Zuversicht  in  eine  Besserung  der  Lage  sehr  ernst- 
lich erschütterten. 

In  der  Xacht  hatten  die  Boxer  nicht  nur  die  zwei  nächsten 
Stationen  südlich  von  Fengtai  zerstört,  sondern  auch  die  zur 
Bergung  der  Paotingfuer  Flüchtlinge  aufgebrochene  Expedition 
angeblich  10  Meilen  westlich  von  Tientsin  angriffen;  über  das 
Verlialien  des  zum  Bahnschutze  aufgebotenen  chinesischen  Militärs 
tagen    einander  widersprechende    Nachrichten  vor:    es   hätte    sich 


52 

# 

gegen  die  Boxer  gewendet,  das  Verbrennen  der  Stationsgebäude 
aber  nicht  mehr  verhindern  können  —  andere  Mittheilungen  be- 
zichtigten die  Soldaten  der  Connivenz  mit  den  Aufrührern. 

Die  Eisenbahnverbindung  war  somit  neuerdings  unterbrochen 
und  die  Unverlässlichkeit  des  chinesischen  Schutzes  unwider- 
leglich dargethan. 

Angesichts  dieser  Thatsache  einigten  sich  die  Gesandten  zu 
einem  CoUectivschritt  bei  der  chinesischen  Regierung  und  for- 
derten sie  unter  neuerlichem  Hinweis  auf  die  unabsehbaren  Folgen, 
welche  aus  der  Vernachlässigung  ihrer  internationalen  Verpflichtung 
erwachsen  könnten,  auf,  Alles  aufzubieten,  um  die  Eisenbahnver- 
bindung ehestens,  längstens  bis  zum  9.  Juni  wieder  herzustellen 
und  solche  Massregeln  zu  treffen,  welche  den  Verkehr  mit  der 
Küste  wirksam  zu  sichern  und  den  Fremden  wie  christlichen 
Chinesen  Schutz  zu  garantiren  geeignet  wären.  In  Erwägung,  dass 
die  in  Peking  lebenden  Fremden,  deren  Zahl  durch  flüchtige 
Missionäre  aus  den  im  Lande  verstreuten  Anstalten  in  den  letzten 
Tagen  noch  beträchtlich  vermehrt  worden,  auf  thatsächlichen 
Schutz  nur  durch  ihre  eigenen  Truppen  rechnen  könnten,  wenn 
die  Verbindung  mit  der  Küste  längere  Zeit  unterbrochen  bleiben 
sollte,  erörterten  die  Gesandten  ferners  die  Eventualität  eines  ge- 
meinsamen Vorgehens  der  Landungstruppen  der  vor  Taku  liegen- 
den, durch  täglich  neuen  Zuzug  verstärkten  internationalen  Flotte. 

Während  die  Vertreter  der  übrigen  fremden  Mächte  erst  an 
ihre  Regierungen  um  Erlassung  einschlägiger  Weisungen  an  die 
Admirale  telegraphirten,  einigten  sich  Dr.  von  Rosthorn  und 
Fregatten- Capitän  von  Thomann  sogleich,  von  »Zenta«  ein  mög- 
lichst starkes  Contingent  bereit  und  zur  Verfügung  des  rangshöchsten 
Befehlshabers  stellen  zu  lassen. 

Noch  am  4.  Juni  ging  der  telegraphische  Befehl  an  »Zenta« 
ab:  jiLinienschiffs-Lieutenant  Indrak,  2  Seecadetten,  70  Mann  zu 
eventuellem  Entsatz  Pekings  bereit  machen  und  rangshöchstem 
Befehlshaber  zur  Verfügung  stellen.«  Von  dieser  Massregel  wurde 
gleichzeitig  der  Regierung  in  Wien  die  Meldung  mit  der  Bitte 
um  Genehmhaltung  der  Betheiligung  am  internationalen  Vorgehen 
erstattet. 

Unwillkürlich  drängt  sich  die  Frage  auf,  welchen  Unterschied 
in  den  Folgen  es  gehabt  hätte,  wenn  die  Vertreter  aller  Mächte, 
welche  am  4.  Juni  KriegvSschiffe  zu  ihrer  Verfügung  wussten,  sich 
zu  sofortigem  gemeinsamen  Handeln  hätten  entschliessen  können 
und,  ohne  erst  mindestens  IV« — 2  kostbare  Tage  mit  der  Erwartung 
einer  Antwort  zu  verlieren,    die  Admirale    ersucht    hätten,    unge- 


53 

säumt  die  nothwendig-en  Vorbereitungen  zu  treffen!  Jedenfalls 
hätten  die  Boxer  keine  Zeit  gehabt,  den  Bahnkörper  so  gründlich 
zu  zerstören. 

An  Bord  der  »Zenta«  war  das  eben  erwähnte  Telegramm  am 
5.  Juni  Vormittags  zugestellt  worden ;  der  Gesammt-Detail-Officier, 
Linienschiffs-Lieutenant  Guido  Kottowitz  Edler  von  Kortschak, 
verlor  keinen  Augenblick,  um  dem  erhaltenen  Befehl  nachzukommen, 
und  konnte  so  als  Erster  noch  am  selben  Tage  dem  rangshöchsten 
Befehlshaber,  dem  königlich  englischen  Vice-Admiral  Sir  Edward 
Seymour,  die  Mittheilung  machen,  dass  »Zenta«  im  Ganzen  75  Com- 
battanten  zur  sofortigen  Landung  bereit  habe.  Von  ihren  Gesandten 
über  die  an  die  heimatlichen  Regierungen  gerichtete  Anfrage 
verständigt,  traten  die  Admirale  und  selbstständigen  Schiffs- 
commandanten am  5.  Juni  zum  erstenmale  zu  einer  gemeinsamen 
Berathung  zusammen,  die  Sir  Edward  angeregt  hatte. 

An  diesem  Tage   sind    in  Peking    nach  Angabe    im    Dienste 
Fremder    stehender    chinesischer  Confidenten  zahlreiche   an    ihren 
rothen  Kopftüchern,    Schärpen  und  Bändern  unfehlbar  kenntliche 
Boxer  ganz  offen  und  unbehelligt  durch  die  doch  zu  ihrer  Fern- 
haltung aufgebotenen  Soldatenwachen  eingezogen  ;  diese  Nachricht 
gab  wohl    zu  dem   alsbald  verbreiteten  Gerücht  Anlass,    dass   für 
die  kommende  Nacht  von  Seite  der  Boxer  ein  allgemeiner  Angriff 
auf  die  Fremden  bevorstehe,    der  aber  thatsächlich    nicht  erfolgte. 
Am  Nachmittage  übersiedelten  auf  Initiative  des  französischen 
Gesandten    M.  Pichon,    der    durch    den    in    Peking    residirenden 
Bischof  für  Nordchina,  Mgr.  Favier,   seit  jeher  am  verlässlichsten 
und  ausführlichsten    über    die   ganze  Boxerbewegung  unterrichtet 
war,  die  meisten  Insassen    der    im    Südwesten    der    Tartarenstadt 
gelegenen    katholischen  Missionsanstalt,    des  Nantang,    nach    dem 
Nordwesten  der  Stadt  in  das  Peitang. 

Diese  innerhalb  der  Kaiserstadt  selbst  gelegene,  von  der 
französischen  Legation  jedoch  ungefähr  drei  Kilometer  entfernte 
Missionsanstalt  eignete  sich  vermöge  ihrer  Ausdehnung  und 
starken  Bauart  namentlich  unter  der  Voraussetzung  sehr  gut  als 
Zufluchtsort,  dass  die  Boxer  die  kaiserliche  Mauer  doch  respectiren 
würden. 

Am  6.  Juni  wurden  trotz  der  kaum  mehr  als  eine  Woche  vorher 
durch  kaiserliches  Edict  anbefohlenen  Zerstörung  aller  im  Dienste 
der  Boxer  thätigen  Druckereien  und  trotz  der  nicht  nur  angeord- 
neten, sondern  vorgeblich  auch  wirklich  eifrigen  Thätigkeit  der 
Polizei  in  der  Legation sstrasse  mehrere  Placate  der  Boxer  ge- 
funden,    welche    die   Ueberschrift :     »Mit     kaiserlicher     Sanction« 


trugeil  und  worin  alle  gutgesinnten  Chinesen  zur  Vernichtung  der 
Fremden  aufgefordert  wurden.  Die  chinesische  Dienerschaft  der 
Fremden  erhielt  massenhaft  anonyme  briefliche  Aufforderungen 
zum  Abfall  von  ihren  Herren,  die  zu  verlassen  und  zu  verrathen 
ihnen  bei  Androhung  grausamer  Rache  nur  mehr  kurze  Zeit  ge- 
geben wurde.  Von  auswärts  kamen  später  bestätigte  Nachrichten 
von  der  neuerlichen  Ermordung  zweier  englischer  Missionäre  und 
der  Miedrrmi'tzelung  eingeborennr  Christen   und  solcher  friedlicher 


De<  KohltubUgel  ~  Moiitlinn  -  In  i.-r  KiiietitiJl. 

Landbewohner,  die  sich  weigerten,  dem  Aufgebot  der  Boxer  zu! 
folgen  oder  deren  Forderungen  nach  Geld  und  Lebensmitteln  nicht 
gutwillig  befriedigten.  Die  Flüchtlinge  aus  Paotingfu  sollten  untee 
grossen  Gefahren  Tientsin  erreicht  haben,  doch  seien  zwei  Männei 
und  eine  Frau  den  Boxern  in  die  Hände  gefallen  und  von  ihnet 
bestiahsch  ermordet  worden.  General  N'ieh  .sollte  zwar  mit  e 
päisch  gedrillten  Truppen  von  Tientsin  zur  Bekämpfung^  dei 
räuberischen  Rebellen,  wie  sie  in  den  letzten  Edicten  genannl 
wurden,  ausgezogen  sein  und  ihnen  sogar  in  einem  förmlichoi 
Gefechte  empfindliche  Verluste  beigebracht  haben,  doch  hieas  e 
noch  am  selben  Tage,  ttie  Truppen  hätten  den  Gehorsam  vei 
w*eigert,    während  noch  andere  (Quellen  berichteten,    der    Genero 


hitte  sehr  ileutliche  Befehlo*)  erhalten,    eine    zuwartende  Haltung' 
zu  b«obachten. 

Die  Stimmung-  in  Peking-  begann,  so  sehr  man  sich  auch  be- 
iniUue,  dies  zu  bekämpfen,  gedrückt  zu  werden,  da  die  Erzählungen 
der  in  die  Hauptstadt  gekommenen  Flüchtlinge  von  den  sich 
mehrenden  Gewaltacten  der  Boxer  und  dem  Verhalten  der  chine- 
sischen Behörden  durch  jenes  des  immer  zahlreicher  in  der  Stadt 
-irl,tt>;.r  w.T.l.-n.Im  Milllär-  -hu,  r.rerui.'Lniy^fan.lün  ;  .1!.'  rhinesischon 


f.  ihren  Hass  gegen 


Soldaten  legten  sich  kaum  mehr 
<üe  Fremden  zu  verbergen. 

Tungfuhsiang  halte  Befehl  erhalten,  seine  Truppen  in  Nan- 
haitse,  dem  südlich  von  Peking  gelegenen  alten  kaiserlichen  Jagd- 
park,  zu  concentriren. 

Dies  Alles  sah  äusserst  bedenklich  aus  und  man  begann  in 
Peking  sich,  so  weit  es  eben  möglich  war,   zu  rüsten;    die    wehr- 

*t  In  Wahrlieil  war  Nieh,  dem  rormEllea  Befelil  rolgend.  gegen  die  Boxer  anf- 
(atvica  UDd  ■l:Uiir,  >weil  er  irati  guter  Ab&iLlilen  schwere  [mbümer  begingi.  ie'xaea 
lUaget  vcrtiulig  erklürl.  jedoch  in  leineni  CoTnuanda  beUisen  wonicn.  Eine  andere 
I^tninac  U«il  «In  ia  der  Pekinger  Zcitnng  noch  vor  dem  Falk  Tientsins  «rwhiencoes 
Editl  «ohl  Dicht  /u.  Nieh  war  eben  nicht  |ii>liti»ircniler  Soldat. 


56 

fähigen  Elemente  der  Fremdenbevölkerung  sollten  sich  zu  einem 
Freiwilligen-Corps  vereinigen,  ähnlich  wie  sie  in  Hongkong  und 
den  Vertragshäfen  seit  Jahrzehnten  bestehen  und  die  sich  auch 
schon  mehrfach  —  z.  B.  in  Shanghai  während  der  Taiping-Revo- 
lution  —  bewährt  hatten.  Beim  SeezoU-Inspectorat  wurde  durch 
den  ehemaligen  preussischen  Officier  Herrn  Ernst  von  Strauch 
und  auch  bei  den  zwei  europäischen  Banken  durch  die  Beamten 
ein  formlicher  Wachdienst  organisirt.  Sonderbar  genug  war  die 
Bewaffnung:  alte  Winchester,  Remington,  daneben  neue  Repetir- 
gewehre,  Schrotflinten  und  Revolver  der  verschiedensten  Systeme, 
die  Stelle  von  Bajonnetten  vertraten  mit  Draht  auf  die  Läufe  ge- 
bundene grosse  Küchenmesser,  auf  letztere  x\rt  verwandelten  sich 
sogar  harmlose  Spazierstöcke  in  blitzende  Waffen  —  aber  der 
Geist  war  ein  guter,  das  Gefühl  der  Zusammengehörigiceit  hat 
sich  nie  schöner  bethätigt  als  angesichts  der  gemeinsamen  Ge- 
fahr! So  verrann  Tag  auf  Tag,  jeder  brachte  nur  neue  Bestäti- 
gungen, dass  die  in  ihrer  Festigkeit  überschätzten  Dämme  gegen 
die  rapid  schwellende  Hochfluth  der  aufrührerischen  Bewegung 
zu  wanken  begannen,  und  langsam  mussten  sich  die  Fremden  in 
Peking  mit  der  Ueberzeugung  abfinden,  dass  die  Gesandtschaften 
nicht  nur  nicht  mehr  die  Macht  besassen,  für  ihre  im  Landesinnern 
zerstreuten  Schutzbefohlenen  erfolgreich  zu  wirken,  sondern  viel- 
mehr selbst  das  Hauptziel  des  niederträchtigen,  mit  System  aus- 
geführten Anschlages  bildeten. 

Noch  stand  der  Telegraph  offen  und  verkehrten  Couriere  nach 
Tientsin,  aber    wie  lange,  getraute  sich  Niemand   zu  beantworten. 

Am  7.  Juni  lief  die  telegraphische  Nachricht  von  der  Ankunft 
des  zweiten  Detachements  S.  M.  S.  »Zenta«  in  Tientsin  ein;  ana- 
loge Mittheilungen  erhielten  auch  die  übrigen  Gesandtschaften, 
man  wusste  somit,  dass  sich  von  Seite  der  Fremden  ein  Schritt 
zur  Wiederherstellung  der  Verbindung  mit  der  Küste  vorbereite. 

Gleichwie  aber  der  Contact  zwischen  Gesandten  und  Befehls- 
habern an  der  Küste  immer  schwieriger  zu  erhalten  war,  bis  er 
am  10.  Juni  ganz  unterbrochen  wurde,  so  muss  auch  die  Erzählung 
sich  wieder  den  Geschehnissen  auf  der  Rhede  zuwenden,  um  das 
Bild  der  materiellen  und  moralischen  Schwierigkeiten  zu  grun- 
diren,  deren  Ueberwindung  von  den  Patronen  des  verabscheuungs- 
würdigsten  Verbrechens  gegen  das  Völkerrecht  wohl  für  unmög- 
lich gehalten  wurde,  die  aber  gelang,  weil  das  Bewusstsein,  sich 
für  eine  geheiligte  Sache  einzusetzen.  Führer  und  Streiter  be- 
geisterte. 


58 


II.  Capitel. 

S.   M.  S,   »Zcnta«    mit   der    internationalen    Flotte     auf  der    Taku-Rhede.    —     Betheili- 

CUnif  an  der  Kinnahme  der  Taku-Forts.    —    Entwicklung  der  Ereignisse.    —    Was  man 

«uf  der   Khcdc  erfuhr.    —    Thätigkeit  der  Admirale  und  .selbstständigen  SchifFscomman- 

danten.   —  Eintreffen  S.  M.  S.  »Kaiserin  und  Königin  Maria  Theresia«. 

Auf  der  Taku-Rhede  entwickelte  sich  in  den  Tagen  nach  dem 
Abuanu'o  der  beiden  letzten  Schutzdetachements  für  die  Legationen 
in  IN^kin^'  ein  ungewöhnliches  Leben;  fast  täglich  liefen  neue 
SrhitVi*  der  einzelnen  Mächte  ein,  so  dass  bald  eine  stattliche 
InttM-nat ionalt»  Flotte  versammelt  war,  die  im  Juli  nicht  weniger 
i\\H  M  Krit*RssehifFc  aller  Grössen  zählte.  Vertreten  waren  Deutsch- 
land. Ivn^'land,  Krankreich,  Italien,  Japan,  Oesterreich-Ungarn, 
KussliU\d   untl  die  Vereinigten  Staaten. 

AIn  am  f).  Juni  —  tagsvorher  hatte  selbst  für  diese  ungast- 
liche K  heile  abnorm  schlechtes  Wetter  jeden  Verkehr  mit  dem 
l.iuulo  und  unter  den  Schiffen  gänzlich  verhindert  —  die  Nach- 
\W\\\  von  der  neuerlichen  Zerstörung  der  Bahn  eingelangt  war, 
)^la\^bt^^  der  tM\glische  Vice-Admiral  Sir  Edward  Seymour  nicht 
lauv;^"^'  zögern  zu  sollen  und  that  als  rangsältester  anwesender 
AdiuUal  den  tasten  Schritt  zu  dem  späteren  gemeinsamen  Vor- 
j^clvon,  indetu  er  in  einer  Conferenz  der  hiezu  eingeladenen 
MaKK*'**  Otüriert^und  selbstständigen  Schiffscommandanten  folgende 
Punkte  alH  (irund/üge  des  gemeinsamen  Verhaltens  zur  Erwägung 

l.  Uio  Mission  der  Befehlshaber  sei  eine  friedliche  und  habe 
den  Sehuiz  von  l.ebtMi  und  Eigenthum  der  eigenen  Connationalen 
/.am    /werke. 

bV  Uiese  Missii^n  soi  gegenwärtig  durchaus  nicht  gegen  die 
V  hiuo^i?«^'!^«^  Regierung  gerichtet,  mit  welcher  die  einzelnen  Staaten 
uu   r*rit>den  stt^hen.    richte    sich    vielmehr   gegen    eine  Horde   von 


Rebellen.  Boxer  genannt,    welche  die  chinesische  Regierung  ein- 
luschüchlern  und  stärker  als  letztere  zu  sein  scheine. 

3,  Sollten  sich  die  Rebellen  stärker  als  die  Regierung  zeigen, 
dann  sei  es  zum  Schutze  von  Leben  und  Eigenthum  nothwendig, 
die  chinesische  Regierung,  soweit  eben  möglich,  in  der  Aufrecht- 
erhaltung von  Frieden.  Gesetz  und  Ordnung  zu  unterstützen,  oder 
falls  die  chinesische  Regierung  überhaupt  unthätig  bleiben  sollte, 
auch  ohne  deren  Mithilfe  zu  handeln. 

4,  Alle  Schritte  sollten  in  diesem  Falle  auf  Wunsch  oder 
mit  Zustimmung  der  respectiven  Gesandten  und,  da  die  Interessen 
der  Fremden  im  Allgemeinen  bedroht  seien,  von  den  Befehls- 
habern in  gegenseitigem  Zusammenwirken  erfolgen. 

5,  Vom  Einvernehmen  mit  den  Gesandten  wäre  nur  im  Falle 
sie  in  Peking  eingeschlossen  würden,  abzusehen  und  statt  dessen 
auf  Grund  directer  Anfragen  bei  den  Heimatsbehörden  und  nur 
in  sehr  ernsten  und  dringlichen  Fällen  auch  ohne  letztere  nach 
vorheriger  gegenseitiger  Aussprache  vorzugehen. 

In  derselben  Sitzung  wurde  nach  Annahme  der  genannten 
Punkte  festgestellt,  dass  sich  zur  Zeit  in  Peking  428,  in  Tientain 
■Hl  Mann  befanden  und  9(il  Mann  noch  ausgeschifft  werden 
könnten;  ferners  wurde  vereinbart,  alle  einlangenden  Nachrichten 
von  Wichtigkeit  unverweilt  auf  das  FlaggenschifF  Sir  Edward's 
als  allen  zugängliche  Centrale  zu  senden. 

Auf  Antrag  des  französischen  Admirals  Courrejolles  wurde 
ft^mer  zum  Beschlüsse  erhoben,  im  Falle  der  Unterbrechung  der 
Verbindung  mit  Peking  den  Doyen  des  Consularcorps  in  Tientsin*) 
durch  eine  Collectivnote  zu  ersuchen; 

Die  Consuln  mögen  dafür  sorgen,  thunlichst  regelmässig 
^■achrichlen  von  Peking  zu  erhalten  —  ferners  den  Vicekönig  von 
Tschili  über  die  Sachlage  unterrichten  und  ihn  wissen  lassen,  dass 
"ir  Erhaltung  von  Friede  und  Ordnung  in  Tientsin  wie  auch  zur 
Wiedereröffnung  der  Verbindung  mit  Peking  Mannschaften  ge- 
landet würden  und  ihn  zur  Cooperation  der  chinesischen 
Truppen  auffordern. 

.A.US  diesem  mit  Absicht  beinahe  vollinhaltlich  wieder  gegebenen 
■litzungsprotokolle  ist  zu  ersehen,  dass  die  Admirale  der  grossen 
politischen  Schwierigkeit  im  weite.sten  Masse  Rechnung  trugen 
"nd  einstweilen  Alles  vermieden,  was  die  Lage  der  diplomatischen 
Vertreter  hätte  verschlimmern  können. 

Die  sich  rasch  drängenden  Ereignisse  nöthigten  alsbald  die 
Befehlshaber,  selbstständig  zu  handeln. 

*|  FranEiistscher  (ieueral-Cunsul  Comle  ilu   Chaylard. 


Deutsche,  Engländer  und  Franzosen  entsendeten  noch  am 
Nachmittage  des  5.  Juni  Mannschaften,  die  an  Bord  der  im  Peiho 
liegenden  Kanonenbooie  bequartien  und  zum  sofortigen  Abgang' 
nach  Tientsin  bereitgehalten  wurden;  am  6.  früh  gingen  weitere 
75  englische  Seesoldaten,  am  7,  morgens  ein  russisches  und,  wie 
schon  erwähnt,  das  zweite  75  Mann  starke  Detachement  voa 
■Zenta«  unter  LinienscliifFs -Lieutenant  Johann  liidrak  nach  Tientsin 
ab,  dem  die  beiden  Seecadelten  Edgar  Leschanowsky  und  Erich 
Prochaska  zugetheilt  waren.  Der  Stellvertreter  des  Commandanlen 
der  »Zenta- .  Linienschiffs-Lieutenant  v.  Kottowitz,  Hess  das  Detache- 
ment, obgleich  hinsichtlich  eines  Vormarsches  nach  Peking  noch 
nichts  bestimmt  war,  nach  Tientsin  abgehen,  weil  es  von  dort  jeden 
Augenblick  aufbrechen  konnte.  Da 
>^|^^k  noch   kein    militärischer    Commandanfc 

/        ^^Ä  der  Stadt  designirt  war,  wurde  es  bis 

jff  "V^H  ■'i'^f   Weiteres   dem  rangsältesten    eng- 

^gtLj^J  lischen    Officier,    Linien  seh  ifFs-Capitäa 

^^^t^f  Jellicoe  unterstellt.  Die  Leute  wurden 

j^^^^K  mit   Rücksicht   auf  ihre    Mobilität  er- 

^^■^  ^^^^^.  heischende   Bestimmung  nur   mit  dem 

^^^^^S^^^^^fi^^         X^othwendigsten    versehen,    ihre    feld- 
^^^^^^^^^^^^^^k        massige  Ausrüstung  musste  grössten- 
^^^^^fHv^^^^^V       iheils   improvisirt   werden,   da   Schiffe 
^^^^H^fc^^^^^  vom  Typ  «Zenta«  normaler  Weise  nur 

für  etwas  mehr  als  öO  Mann  Landungs- 
uniemchiHi-L.eüienini  Quid"  K^oirnwii.    ^^ippco  dotirt  siud.  An  Munitton  erhielt 
Edler  von  Kon.fhak.  jeder  Mann  160  magazinirte.  das  ganze! 

Detachement  aber  noch  3600  nicht 
magazinirte,  ursprünglich  für  die  Gewehrmitrailleuse  bestimmte 
Patronen,  so  dass  per  Gewehr  etwas  mehr  als  200  Schuss  verfügbaiT 
waren  —  mehr  mitzugeben  erlaubte  die  Rücksichtnahme  auf 
etwaige  Bedürfnisse  an  Bord  selbst  nicht.  Dauerproviant  nahn] 
das  Detachement  auf  sieben  Tage  mit. 

Am  6.  Juni  waren  aus  Peking  und  Tientsin  beunruhigendere, 
wenn  auch  lückenhafte  Nachrichten  eingelaufen,  ja  der  englische 
Consul  in  letzterem  Orte  hatte  unter  gleichzeitiger  Anzeige  von' 
der  Bildung  eineh  Freiwilligen-Corps  dringend  um  Verstärkungen 
der  Schutztruppen  und  die  Ermächtigimg,  Feindseligkeiten 
eröffnen,  gebeten,  da  jedes  Zuwarten  die  Gefahr  verschlimmere. 
Auf  den  letzten  Punkt  konnte  natürlich  nicht  eingegangen  werden, 
mussten  die  Fremden  ja  doch  gleich  aus  völkerrechtlichen 
Gründen  wie  aus  Rücksichten  auf  die  thatsächÜchen  Machtverhält- 


61 

nisse  jeden  Anschein  vermeiden,  als  ob  feindselige  Acte  von  ihnen 
ausgingen.  Auch  die  Gesandten  Englands,  Italiens  und  Japans  in 
Peking  hatten  um  die  Verstärkung  ihrer  Legationswachen  ersucht, 
doch  konnte  diese  nicht  über  Tientsin  hinaus. 

Die  wichtigste  Frage  blieb,  sich  in  ungestörter  Verbindung" 
mit  Tientsin  zu  halten  und  jene  mit  Peking  wieder  zu  eröffnen. 
Ueber  den  Zustand  der  Strecke  nordwärts  von  Tientsin  waren 
trotz  aller  Bemühungen  keine  absolut  verlässlichen  Daten  zu  er- 
langen, die  meisten  Informationen  liefen  darauf  hinaus,  dass  der 
Bahnkörper  intact  geblieben  sei  und  sich  die  Boxer  mit  dem 
Niederbrennen  von  Stationsgebäuden  begnügt  hätten.  Eine  unver- 
bürgte Nachricht  besagte  wohl,  dass  die  grosse  Eisenbahnbrücke 
bei  Yangtsun  in  Flammen  gesehen  worden  sei. 

Die  Lage  in  Tientsin  wurde  übereinstimmend  als  sehr  ernst 
geschildert;  man  schätzte  die  dort  versammelten,  jeden  Augenblick 
zu  Feindseligkeiten  bereiten  Boxer  allein  auf  10.000.  Trotz  der 
augenscheinlichen  Gefahrdung  dieser  Stadt  drang  der  von  Linien- 
schiffs-Lieutenant von  Kottowitz  gestellte  Antrag,  einen  Officier 
dort  mit  dem  Oberbefehl  zu  betrauen,  wofür  Contre  -  Admiral 
CourrejoUes  den  mit  Land  und  Leuten  sehr  vertrauten  russischen 
Militär- Agenten  Oberst  Wogack  vorschlug,  nicht  durch  und  wurde 
die  Erledigung  dieser  Frage  bis  zum  Augenblick,  wo  eine  Ent- 
satz-Colonne  nach  Peking  aufbrechen  sollte,  aufgeschoben. 

Die  Nothwendigkeit  eines  solchen  Entsatzes  stellte  sich  in 
den  folgenden  Tagen  immer  dringender  heraus,  nachdem  Nach- 
richten über  das  Verhalten  der  zum  Schutze  der  Eisenbahn  auf- 
gebotenen chinesischen  Truppen  unter  General  Nieh  vorlagen; 
diesen  zufolge  hätte  das  reguläre  Militär  die  Bahnstrecke  nördlich 
von  Yangtsun  verlassen  und  seien  gegen  3000  Mann,  theilweise  die 
Bahn  benützend,  auf  dem  Wege  nach  Lutai.  Hieraus  ergab  sich 
die  Folgerung,  dass  seitens  der  Regierung  nichts  mehr  zur  Ver- 
hinderung der  Bahnfrevel  der  Boxer,  geschweige  denn  zur  Wieder- 
herstellung des  Betriebes  geschehe,  und  andererseits  auch  die 
Nothwendigkeit,  mit  einer  Concentration  chinesischer  Streitkräfte 
im  Küstenstriche  zu  rechnen,  welche  gewiss  nicht  als  freundlicher 
Act  angesehen  werden  konnte. 

Ueber  die  Aussichten  eines  Versuches,  Peking  zu  entsetzen, 
über  die  Stärke  und  Zusammensetzung  eines  dahin  zu  entsendenden 
Corps  und  über  die  einzuschlagende  Route  war  angesichts  der 
Zwangslage  nicht  viel  zu  discutiren :  das  ganze  Unternehmen  konnte 
nur  gelingen,  wenn  die  Fremden  im  Stande  waren,  die  Chinesen 
durch  rasches  Handeln  zu  verblüffen. 


62 

Vor  dieser  Ueberzeugung  mussten  die  rein  militärischen,  nur 
zu  gerechtfertigten  Bedenken  zurücktreten,  die  dagegen  sprachen, 
mit  einer  Handvoll  unzureichend  ausgerüsteter  Leute,  auf  so  grosse 
Entfernung  von  der  einzig  sicheren  Basis  —  die  Schiffe  —  in  ein 
von  offenen  und  noch  versteckten  Feinden  wimmelndes,  ressourcen- 
armes Land  vorzudringen;  vielleicht  liess  sich  die  chinesische 
Regierung  durch  eine  demonstrative  Machtentfaltung  noch  ein- 
schüchtern, bevor  man  sich,  die  Gesandtschaften  in  Peking  einem 
ungewissen  Schicksal  überlassend  und  sich  auf  die  Erhaltung  der 
Peiho-Mündung  und  von  Tientsin  beschränkend,  auf  einen  offenen 
Krieg  vorbereitete. 

Die  verantwortungsvolle  Lage  der  Befehlshaber  von  Taku 
wurde  durch  den  Mangel  präciser  Informationen  von  den  Ministern 
selbst,  mit  denen  ja  noch  Depeschen  gewechselt  werden  konnten, 
erschwert,  da  diese  in  keiner  der  bisher  eingelangten  Mittheilungen 
den  Admiralen  die  Ermächtigung,  nach  eigenem  Ermessen  der 
Lage  entsprechend  zu  handeln,  ertheilt  hatten. 

Das  Commando  »Zenta«  erhielt  am  9.  Juni  die  vom  Marine- 
Commando  am  7.  Juni  in  Wien  aufgegebene  Depesche:  »Weiter 
im  Einvernehmen  mit  Gesandtschaft  verhalten ;  falls  Communication 
mit  dieser  unterbrochen,  bei  internationalem  Vorgehen  analog  wie 
die  anderen  Mächte  vorgehen.«  Analoge  Weisungen  waren  seitens 
ihrer  Regierungen  auch  an  die  übrigen  Befehlshaber  ergangen, 
nur  die  Vereinigten  Staaten  hatten  ihrem  Contre-Admiral  Kempff 
ausdrücklich  vorgeschrieben,  zum  Schutze  von  Leben  und  Eigen- 
thum  amerikanischer  Staatsbürger  wohl  conform,  jedoch  nicht  ge- 
meinsam mit  den  übrigen  Befehlshabern  vorzugehen. 

In  einer  am  9.  Juni  vormittags  abgehaltenen  Sitzung  wurde 
beschlossen,  die  Garnison  von  Tientsin  weiter  zu  verstärken  und 
je  eine  deutsche,  englische  und  französische  armirte  Dampfbarkasse 
dorthin  zu  entsenden,  um  den  Fluss  innerhalb  des  Stadtgebietes 
überwachen  zu  können ;  das  englische  Transportschiff  »Humber« 
war  nach  Peitaho  abgegangen,  um  die  dort  lebenden  Fremden  zu 
beschützen  und  nöthigenfalls  aufzunehmen. 

Um  IIV2  Uhr  nachts  erhielt  Sir  Edward  vom  englischen 
Gesandten  in  Peking  folgende  alarmirende,  um  5Va  Uhr  nachmittags 
aufgegebene  Depesche:  »Hiesige  Situation  äusserst  ernst;  wenn 
nicht  Anstalten  zu  einem  sofortigen  Vorgehen  auf  Peking  getroffen 
werden,  ist  es  zu  spät.«  Das  war  deutlich!  Der  englische  Vice- 
Admiral  liess  allsogleich  dieses  Telegramm  mit  einer  Zuschrift, 
in  welcher  er  seine  Absicht  aussprach,  alle  verfügbare  Mannschaft 
ans  Land    zu  setzen    und  sofort    den  Entsatz   einzuleiten,    an    die 


63 

Commandanten  aller  Nationen  versenden   und  erklärte,   selbst  die 
Oberleitung  der  Expedition  zu  übernebnien. 

Durch  neu  hinzugekommene  Schiffe  verstärkt,  konnten  am 
10,  Juni  morgens  die  Deutschen  500,  die  Engländer  900  und  die 
Russen  240  Mann  ans  Land  setzen ;  »Zentas«  Mannschaften  standen 
in  Tientsin  schon  bereit. 

Der  erste  Schritt  ins  Kriegerische  hinüber  war  somit  gethan 
und  die  internationale  Flotte  musste,  des  grössten  Theiles  ihrer 
Combattanten  entblösst,  sich  mit  dem  Zuwarten  begnügen;  Vice- 
Admiral  Seymour  telegraphirte  jedoch,  kaum  in  Tientsin  angekommen 
und  durch  den  Augenschein  vom  kritischen  Charakter  der  Lage  noch 
besser  informirt,  dringend  um  sofortigen  Nachschub  für  Tientsin. 
Linienschiffs-Lieutenant  von  Kottowitz  bot  die  letzten  überhaupt 
noch  verfügbaren  20  Mann  an,  doch  trat  erst  eine  Woche  später  die 
erwünschte  Gelegenheit  ein.  auch  diese  kleine  Schaar  zu  verwenden, 
da  inzwischen  die  Russen  aus  dem  nahen  Port  Arthur  an  2000  Mann 
sibirische  Schützen  und  zwei  neu  angekommene  englische  Schiffe 
ihre  Detachements  ausgeschifft  hatten. 

Nach  einer  am  IL  eingelaufenen  Meldung  des  Detachements- 
Commandanten  in  Tientsin,  Linienschiffs-Lieutenant  Indrak,  waren 
tagsvorher  25  Mann  unter  Seecadet  Erich  Prochaska  mit  der  Colonne 
Vice-Admirals  Seymour  gegen  Peking  abgegangen,  die  restlichen 
50  wurden    für    die  Vertheidigung  der  Stadt  zurückbehalten;    am 
selben  Tage  wurde  auch  bekannt,     dass    der  Telegraph   zwischen 
Peking  und  Tientsin  nicht  mehr  functionire.  Dies  bedeutete  zwar 
den  Eintritt  einer  längst  befürchteten  Calamität,  gleichzeitig  aber 
auch  hinfort  absolute  Selbstständigkeit  der  militärischen  Vertreter. 
Auf  der  Rhede  selbst   hatte    man    zwar  kaum  eine  Action  seitens 
der  chinesischen,  im  Golfe  von  Petschili  anwesenden  Kriegsschiffe 
zu  gewärtigen,    doch    mahnte    die  Anwesenheit    der    chinesischen 
Torpedoboote  im  Peiho  immerhin  zur  Vorsicht  —  für  europäische 
Torpedoboots-Commandanten   wäre    die  Sache   in    einer  ähnlichen 
Situation  allerdings  sehr  verlockend  gewesen  —  und  musste  daher 
ein  recht  anstrengender,  verschärfter  Wachdienst  gehalten  werden. 
Seeleute,  Musikanten  und  momentan  entbehrliche  Maschinenmann- 
schaften wurden  in  aller  Eile  als  Bemannungen   der  Schnellfeuer- 
kanonen eingedrillt  und  wetteiferten  im  Bestreben,    sich  in   ihren 
neuen  Rollen  mit  Ehren  sehen  lassen  zu  können. 

»Zenta«  wurde,  soweit  es  noch  möglich  war,  gefechtsklar 
gemacht  und  erhalten  ;  zur  Nachtzeit  lag  Munition  zum  sofortigen 
Gebrauch  bei  den  Geschützen  und  Schnellfeuerkanonen  bereit, 
die  grossen   Scheinwerfer   wurden   gegen    die    Flussmündung  ge- 


64 

richtet,  um  verdächtige  Fahrzeuge  allsogleich  mustern  zu  können, 
und  die  dienstfreie  Hälfte  der  Bemannung  schlief  gerüstet  neben 
ihren  Gefechtsposten  —  nur  allzu  oft  aufgerufen,  um  schlechten 
Wetters  halber  Arbeiten  an  der  Vertäuung  vorzunehmen  oder  um 
ein  Boot  zu  bemannen,  das  Nachrichten  überbringen  oder  holen 
sollte. 

In  den  folgenden  Tagen  bis  zum  15.  Juni  wuchs  die  Spannung 
mehr  und  mehr;  von  der  Colonne  Seymour  trafen  nichts  weniger 
als  erfreuliche  Nachrichten  ein.  Die  Schwierigkeiten  auf  dem 
Wege  nach  Peking,  als  welchen  der  Führer  der  Expedition  die 
Eisenbahnlinie  gewählt  hatte,  wuchsen  immer  mehr,  schon  am 
zweiten  Tage  hatte  sich  die  Unmöglichkeit  erwiesen,  die  Repara- 
turen am  Bahnkörper  in  dem  nothwendigen  Tempo  auszuführen, 
und  auf  die  Scharmützel  mit  Boxern  folgten  bald  förmliche  Ge- 
fechte, in  welchen  reguläre  kaiserliche  Truppen  auf  Seite  der 
Boxer  kämpften. 

Die  Gewaltthätigkeiten  der  mordenden  und  brandstiftenden 
Boxer  in  der  unmittelbaren  Umgebung  von  Tientsin  wurden  immer 
häufiger  und  offener. 

Diese  Thatsachen  stiessen  auch  den  letzten  Zweifel  an  der 
böswilligen  Haltung  der  chinesischen  Regierung  um  und  Hessen 
deutlich  erkennen,  dass  alles  bisher  Vorgefallene  nur  ein  Vorspiel 
weit  ernsterer  Ereignisse  gewesen  sei. 

Auch  auf  der  Strecke  Tongku — Tientsin  hatte  man  Wahr- 
nehmungen gemacht,  die  auf  Vorbereitungen  hinwiesen,  den 
Fremden  den  Verkehr  darauf  abzuschneiden,  und  aus  diesem 
Grunde  war  ein  scharfer  Patrouillendienst  durch  einen  mit  z\vei 
Projectoren  und  zwei  Schnellfeuerkanonen  armirten  Eisenbahnzug 
etablirt  worden.  Hiezu  schiffte  »Zenta«  am  14.  Juni  einen  entbehr- 
lichen elektrischen  Scheinwerfer  sammt  Dynamo  und  zwei  Be- 
dienungsleuten aus.  Der  Scheinwerfer  wurde  auf  dem  Tender 
einer  Locomotive  installirt  und  leistete  vorzügliche  Dienste. 

Am  15.  Juni  brachte  der  deutsche  Vice-Admiral  Bendemann 
in  der  nunmehr  vom  russischen  Vice-Admiral  Hiltebrandt  präsi- 
dirten  Versammlung  der  commandirenden  Officiere  ihm  aus  sehr 
vertrauenswürdigerQuellezugekommeneNachrichten  zur  allgemeinen 
Kenntniss,  dass  2000  Mann  chinesische  Truppen  mit  40  Geschützen 
von  Lutai  gegen  Taku,  zur  Verstärkung  der  Fortsbesatzungen  an 
letzterem  Orte,  vielleicht  auch  um  die  Station  Tschun-lian-tscheng 
zu  besetzen,  im  Anmarsch  seien,  im  Peiho  Minen  gelegt  und 
Torpedos  vorbereitet  werden  und  somit  chinesischerseits  die  Ab- 
sicht  bestehe,    jede   weitere  Landung   mit   Gewalt   zu  verhindern. 


Die  Bahnverwaltung  in  Tongku  war  nämlich  ch inesisch erseits  be- 
auftragt worden.  Züge  in  der  für  die  angegebene  Truppenmacht 
erforderlichen  Zahl  bereitzustellen,  und  die  Vorbereitungen,  die 
submarine  Vertheidigung  zu  activiren,  waren  der  Aufmerksamkeit 
der  im  Flusse  stationirten  Kanonenboote  nicht  entgangen. 

Um  die  Abfahrt  der  für  die  chinesischen  Truppen  bestimmten 
Züge  zu  verhindern  und  auch  sonst  den  Bahnhof  Tongku  gegen 
alle  Eventualitäten  zu  schützen,  wurde  letzterer  in  der  folgenden 
Nacht  mit  300  japanischen,  120  deutschen  und  20  österreichisch-unga- 
rischen Matrosen,  letztere  unter  Linienschiffs- Fähnrich  Ernst  Stenner 
und  Seecadet  Ernst  Petri,  besetzt;  die  Kanonenboote  im  Flusse 
erhielten  den  Befehl,  bei  der  geringsten  Feindseligkeit  seitens  der 
Chinesen  unverzüglich  einzugreifen  und  das  Bombardement  gegen 
die  Forts  zu  eröffnen. 

Am  IB.  Juni  lagen  nicht  nur  von  mehreren  Seiten  volle  Be- 
stätigungen der  vom  Admiral  Bendemann  tagsvorher  mitgetheilten 
Angaben,  sondern  auch  über  das  Schicksal  der  Entsatz-Expedition 
Seymour  und  die  Lage  in  Tientsin  so  ernste  Nachrichten  vor, 
dass  ein  entscheidender  Schritt  unternommen  werden  musste,  um 
»ich  des  Schlüssels  jeder  Verbindung  mit  dem  Inneren,  derTaku- 
Forts,  zu  bemächtigen  und  dadurch  die  bereits  gelandeten  Truppen 
vor  gänzlicher  Abschneidung  zu  bewahren. 

Die  Lage  war  ohnedies  schon  eine  recht  schwierige:  in 
Peking  die  Gesandtschaften  und  ihr  Anhang  mit  etwas  mehr  als 
^00  Mann  Schutztruppen  ganz  von  der  Aussenwelt  abgeschnitten, 
iwischen  Peking  und  Tientsin  über  2000  Mann  durch  zahllose 
Iloxerhorden  und  eine  wenn  auch  nach  Zahl  nicht  genau  bekannte 
Uebermacht  chinesischer  Truppen  festgelegt, 
so  dass  sie  voraussichtlich  gar  nicht  mehr 
vorwärts  und  nur  unter  noch  nicht  abseh- 
baren Schwierigkeiten  nach  Tientsin 
zurück  konnten,  in  dieser  Stadt  un- 
gefähr 2000  Mann  zum  Schutze  der 
ausgedehnten  Fremdennieder- 
lassung und  der  Bahn  gegen- 
über ca.  öOOO  Mann  regulärem 
Militärund  10. OOO  Aufständischen, 
und  zwi.schen  dieser  Etape  und 
der  See  noch  das  wohlbefestigte 
Taku,  dem  die  Chinesen  aus  den 
Peitang- Forts,  Lutai  und  Shanhai- 
kuan,  wo  zusammen  mindestens 


1. 


66 

15.000 — 20.000  Mann  lagen,  jeden  Augenblick  beträchtliche  Ver- 
stärkungen zuschieben  konnten! 

Diese  ganz  ungefähre,  sicherlich  eher  günstige  numerische  Zu- 
sammenstellung, bei  der  noch  auf  die  so  sehr  ins  Gewicht  fallenden 
Mängel  in  der  Ausrüstung  der  mit  aller  Eile  ans  Land  gesetzten 
Truppen  und  auch  auf  ihren  Mangel  an  Artillerie  Bedacht  ge- 
nommen werden  musste,  unterstützte  den  wieder  vom  deutschen  Vice- 
Admiral  Bendemann  ausgehenden  Antrag,  den  Vicekönig  von  Tschili 
und  den  Commandanten  der  Taku-Forts  zur  Uebergabe  letzterer 
aufzufordern,  widrigenfalls  am  17.  Juni  um  2  Uhr  morgens  der 
Angriff  auf  letztere  erfolgen  würde,  in  überzeugendster  Weise. 

Bei  der  Abstimmung  erklärte  sich  der  als  jüngstes  Mitglied 
der  Conferenz  zuerst  befragte  provisorische  Commandant  S.  M.  S. 
»Zenta«  sofort  für  die  Annahme  des  Antrages,  alle  anderen 
Befehlshaber  folgten  ihm  im  gleichen  Sinne,  nur  der  amerikanische 
Contre-Admiral  bedauerte,  durch  den  Wortlaut  seiner  Instructionen 
an  der  Theilnahme  verhindert  zu  sein. 

Da  man  einer  ablehnenden  Antwort  des  Vicekonigs  und  des 
Fortscommandanten  sicher  war,  wurden  noch  im  Laufe  des  Tages 
und  vor  Ueberreichung  der  schriftlichen  Aufforderung  zur  Ueber- 
gabe die  letzten  Reserven  von  den  Schiffen,  d.  s.  250  Engländer, 
200  Russen  und  25  Italiener,  von  »Zenta«  noch  Seecadet  Rudolf 
Burgstaller  und  zwei  Unterofficiere  mit  einem  Proviantnachschub  für 
Tientsin,  ans  Land  gesetzt;  die  Aufforderung  zur  Uebergabe  der 
Forts*)  sollte  an  beiden  Stellen  erst  um  Mitternacht  erfolgen. 

*)  Dieses  interessante  Scliriftstück  hat  folgenden  Wortlaut:  »Die  vereinigten 
Mächte  haben  seit  Beginn  der  Wirren  ohne  Widerstand  Detachements  ans  Land  gesetzt, 
um  ihre  Staatsangehörigen  und  das  diplomatische  Corps  gegen  die  unter  dem  Namen 
Boxer  bekannten  Rebellen  zu  beschützen. 

Ganz  zu  Anfang  haben  die  Repräsentanten  der  kaiserlichen  Gewalt  ihre  Pflichten 
scheinbar  verstanden  und  sichtliche  Anstrengungen  gemacht,  die  Ordnung  wieder  herzu- 
stellen. Gegenwärtig  aber  zeigen  sie  deutlich  ihre  Sympathien  für  die  Feinde  der 
Fremden,  indem  sie  Truppen  gegen  die  Eisenbahnlinien  dirigiren  und  die  Einfahrt  in 
den  Peiho  mit  Minen  versehen.  Diese  Acte  beweisen,  dass  die  Regierung  ihre  feier- 
lichen Verpflichtungen  gegenüber  den  Fremden  vergisst,  und  nachdem  die  Befehlshaber 
der  vereinigten  Streitkräfte  die  Verpflichtung  haben,  in  fortwährender  V.erbindung  mit 
den  Detachements  am  Lande  zu  verbleiben,  haben  sie  beschlossen,  die  Forts  von  Taku 
vorübergehend  —  im  Guten  oder  mit  Gewalt  —  zu  besetzen.  Der  letzte  Termin  bis  zu 
ihrer  Uebergabe  an  die  AUiirten  ist  bis  2  Uhr  Morgens  des  17.  (Juni). 

Vorstehendes  wird  gleichzeitig  dem  Vicekönig  von  Tientsin  und  dem  Comman- 
danten der  Forts  mitgetheilt  werden.« 

Gezeichnet : 
Hiltebrandt  (Russland).  James  Bruce  (England).  G.  Casella  (Italien). 

Bendemann  (Deutschland).  M.  Nagamine  (Japan).  Kottowitz  (Oesterrcich- 

CourrejoUes  (Frankreich).  Ungarn). 


67 

Den  Angriff  auf  die  Taku-Forts  konnten  nur  die  im  Peiho 
liegenden  Kanonenboote  und  die  bereits  ausgeschifften  Landungs- 
truppen unternehmen;  den  grossen  Schiffen  verwehrte  ihr  Tief- 
gang, sich  der  Küste  so  weit  zu  nahem,  um  die  Werke  deutlich 
sehen  und  direct  beschiessen  zu  können,  die  Anwendung  des 
indirecten  Schusses,  der  hinsichtlich  der  Distanz  allein  für  die 
schweren  Schiffsgeschütze  wohl  möglich  gewesen  wäre,  verbot 
sich  von  selbst  durch  die  Rücksicht  auf  die  innerhalb  der  Fluss- 
mündung operirenden  Kanonenboote  und  Truppen. 

Die  Beschränktheit  der  Mittel  zum  Angriff  forderte  aber 
umso  gebieterischer,  das  Wagniss  zu  unternehmen,  noch  bevor  es 
den  Chinesen  gelingen  mochte,  die  Fortsbesatzungen  zu  verstärken 
und  das  Fahrwasser  zu  verlegen ;  in  diesen  vor  vierzig  Jahren 
begangenen  Fehler,  der  damals  einen  Misserfolg  der  alliirten 
englisch-französischen  Flotte  herbeigeführt  hatte,  durfte  man  unter 
keinen  Umständen  wieder  verfallen. 

Im  Flusse  lagen   acht    Kanonenboote:     »Iltis«  der  deutschen, 
»Algerine«  der  englischen,  »Lion«  der  französischen,  »Atago«  der  japa- 
nischen, »Giljak«,»Bobr«  und  »Korejec«  der  russischen,  Radkanonen- 
boot »Monocacy«  der  amerikanischen  Flagge,  ferner  zwei  englische 
Torpedobootszerstörer    »Fame«  und  »Whiting«    und    ein  russisches 
Torpedoboot.     Der     rangsälteste     Commandant     innerhalb     dieser 
Flottille,  der  sich  wegen  Festsetzung    des   Angriffsplanes  mit  den 
Commandanten  der  übrigen  Nationen  verständigen  sollte,  war  der 
russische     Linienschiffs-Capitän     Dobrovolsky,     Commandant     des 
»Bobr« ;  als  Führer  der  gelandeten  Truppen  fungirte  der  deutsche 
Capitän  zur  See  Pohl,    dem    das    kleine    österreichisch-ungarische 
Detachement    unter    Linienschiffs-Fähnrich    Stenner    direct   unter- 
stellt war. 

In  einer  in  Tongku  um  6Va  Uhr  abends  abgehaltenen  Zu- 
sammenkunft der  commandirenden  Officiere  wurden  nun  folgende 
Grundzüge  aufgestellt: 

Nach  Ablauf  der  für  die  Uebergabe  normirten  Frist  sollten 
die  Kanonenboote,  von  denen  »Atago«  durch  eine  Maschinen- 
havarie bewegungsunfähig  gemacht  war  und  »Monocacy«  nach 
dem  Beschlüsse  des  amerikanischen  Admirals  am  Bombardement 
keinen  Antheil  nehmen  sollte,  und  die  beide  daher  zur  Deckung, 
respective  Bewachung  des  Bahnhofes  in  Tongku  vor  Anker  ver- 
blieben, in  der  aus  der  Skizze  ersichtlichen  Ordnung  —  zuerst 
die  beiden  nördlichen  Forts  auf  dem  linken  Peiho-Ufer  nieder- 
kämpfen und  sich,  nachdem  diese  von  den  gelandeten  Truppen 
besetzt   worden,    dem    auf   dem    rechten  Ufer    gelegenen    Südfort 

Fl* 


zuwenden.  Capitän  zur  See  Pohl  würde  beim  Beginne  der  Be- 
schiessung  vom  Bahnhofe  in  Tongku  gegen  das  nächste,  das  Nord- 
westfort, aufbrechen,  den  Sturm  im  Augenblicke  unternehmen, 
wenn  die  Widerstandskraft  der  Geschütze  gebrochen,  dann  sich 
des  Nordforts   bemächtigen    und  schliesslich,    nachdem    auch    die 


[t.l  A1t«la« 
S  lltü 


Artillerie  des  Südforts  von  den  Kanonenbooten  niedergerungen 
worden,  mit  bereitgehaltenen  Dampfbarkassen  und  Booten  auf 
das  rechte  Ufer  übersetzen  und  das  letzte  Fort  besetzen.  Den  eng- 
lischen Torpedobootszerstörern  und  dem  russischen  Torpedoboot 
oblag  es,    sofort    nach  Beginn    der   Action    die    vier    chinesischen 


Hochseeboo«^  und  den  kleinen  Kreuzer  vor  Jem  Arsenal  in  Taku 
wegzunehmen. 

Die  Stunde,  bis  zu  welcher  die  Uebergabe  erfolgen  sollte, 
war  mit  Rücksicht  darauf  gewählt  worden,  dass  dann  Hochwasser 
herrschen  und  die  Bewegungen  der  Kanonenboote  erleichtern 
würde.  »Bobr-  sollte  mit  dem  Schlag  von  2  Uhr  das  Bombarde- 
ment eröffnen  und  auf  seinen  zweiten  Schuss  alle  übrigen  fünf 
Schiffe  mit  ihrem  Feuer  einfallen;  der  Coramandant  des  ■Btis- 
war  vom  Capitän  zur  See  Pohl  beauftragt,  den  Moment,  in  welchem 
von  Bord  aus  entscheidende  Erfolge  gegen  die  Geschütze  des  Nord- 
west-, beziehungsweise  Südforts  erkennbar  würden,  durch  dasHissen 
eines  schwarzen  Ballons  zu  markiren.  Zur  Vertheidigung  des  Bahn- 
hofes und  als  Rückendeckung  sollten  130  Japaner  dort  verbleiben, 
Linienschiffs- Capitän  Dobrovolaky  hatte  es  übernommen,  die 
Zustellung  des  Ultimatums  in  Tientsin  und  Taku  zu  besorgen; 
aus  bisher  unaufgeklärten  Gründen  geschah  dies  jedoch  noch 
lange  vor  Mitternacht,  die  Angaben  über  den  Zeitpunkt  variiren 
zwischen  7  und  Ü  Uhr  abends.  Vom  Vicekönig  in  Tientsin  kam. 
trotzdem  das  Telephon  nach  Tongku  noch  functionirte.  keine  Ant- 
wort, hingegen  antwortete  der  Fortscommandant  dahin,  dass  er 
persönlich  gegen  die  Uebergabe  der  Forts  nichts  einzuwenden 
habe,  ohne  direclen  Befehl  seiner  Vorgesetzten  aber  nichts  thun 
könne.  Diese  Antwort  wurde  um  11  Uhr  nachts  durch  den  russi- 
schen Schiffslieutenant  Bakhmetieff  überbracht. 

Die  Schiffe  und  Fahrzeuge  der  Allürten  lagen  von  Einbruch 
der  Nacht  an  dampfklar  und  gefechtsbereit  und  mit  Ausnahme 
von  •litis«  und  -Lion«  auf  ihren  für  die  erste  Kampfesphase  be- 
stimmten Posten:  gegen  10  Uhr  wurden  sie  kurze  Zeit  durch  die 
elektrischen  Scheinwerfer  der  Forts  angeleuchtet,  wahrscheinlich 
wollten  sich  die  Chinesen  nochmals  ihrer  Lage  vergewissern. 

Die  Nacht  war  ruhig  und  mondhell,  die  Ruhe  aber  nur 
wheinbar,  denn  noch  gab's  Manches  in  aller  Stille  zu  ordnen  und 
vorzubereiten.  Wo  die  Spannung  grösser,  ob  auf  der  Rhede 
draussen.  wo  man  an  Bord  der  Schiffe  zu  einem  ewig  dünkenden 
unthätigen  Warten  verurtheilt  war.  oder  auf  den  Kanonenbooten 
und  bei  den  Detachements  innerhalb  der  Flussmündung,  ist  schwer 
ni  sagen;  aber  hier  wusste  man  die  Entscheidung  nahe  und 
Führer  wie  Mannschaften  konnten  kaum  ihre  Ungeduld  bemeistern, 
e&dlicb  einmal  loszuschlagen  und  in  einem  ernsten  Ringen  gegen 
anscheinend  übermächtigen  Widerstand  zu  zeigen,  was  ein  Häuf- 
lein entschlossener,  disciplinirter  und  von  ihrer  Sache  begeisterter 
Streiter  zu  leisten  im  Stande  sei! 


Maschinenmaat  Arnold  Hoffmaiin.  der  mit  noch  einem  Mann 
zur  Bedienung  des  Scheinwerfers  auf  einem  Patrouillenzuge  i 
maodirt.  eben  jedoch  dienstfrei  war,  meldete  sich  bei  Linienschiffs- 
Fähnrich  Stenner  mit  der  Bitte,  sich  derSturmcolonne  anschliessen  z 
dürfen;  da  jedoch  der  Scheinwerfer  bei  der  Vertheidigung  de» 
Bahnhofes  gerade  in  einem  kritischen  Moment  höchst  nothwendig 
werden  konnte,  musste  ihm  der  Officier  die  Bitte  abschlagen, 
beauftragte  ihn  aber,  sobald  das  Südfort  genommen  sein  werde, 
was  ja  gewiss  erst  bei  vollem  Tageslicht  zu  erhoffen  stand,  so 
schnell  als  möglich  mit  dem  von  den  Leuten  zurückgelassenen 
Gepäck,  Proviant  und  hauptsächlich  Trinkbarem  nachzurücken. 

Bleiern  schlichen  die  Stunden  bis  Mitternacht;  endlich  fanden ' 

auch    die   Ungeduldigsten    ein    bischen    Schlaf,    um    sich    für    das 

Kommende     —     und     was     sollte    da 

^^1%^  kommen  !    —    zu  stärken. 

flk|fl^  Da  plötzlich  um  12  Ubr  bOMinuten 

^^^^^^B  sauste  vom  Nordwestfort  her  der  erste 

^^^^^^H  .Schuss   über   den  Bahnhof  gegen  die 

A  ^^^^^B  Kanonenboote  —  die  Chinesen  hatten 

^^^^^^^^  begonnen 

^^^flH^^^^H^h  Am  besten  wird  wohl  Linienschiffis- 

^^^^^^M^^R^^^H         Fähnrich  Stenner  selbst  das  Folgende 

^^^^^^^^KM^^^m  daher  sei  ihm  das  Wort  ge- 

^^^^^^^^^^r  >Das  erste  Geschoss  pfiff  über  die 

^^^^^^  Köpfe  der  am  Bahnhof  lagernden  Mann- 

LinicMcbiffs  tshn.icii  ötrnn«  schaftpn     hinweg,    ihm     folgte    gleich 

darauf  ein  zweites,   das  5Ü— 100  Metep 

vor  der  Bahnhofsmauer  einschlagend  crepirte.  worauf  die  Kanonade! 

allgemein  wurde, 

.Algerine'  und  die  russischen  Kanonenboote  erwiderten  so* 
fort  das  feuer.  während  .Iltis"  und  ,Lion'  Anker  lichteten  un^ 
erst  in  ihre  Position  einlaufend,  das  Feuer  aufnahmen. 

Die  Torpedobootszerstörer  setzten  sich  in  Bewegung,  bC'- 
mächtigten  sich  der  chinesischen  Torpedoboote  und  schleppten' 
sie  nach  Tongku  aus  dem  Feuer.  Die  Mannschaften  der  Landung»« 
Corps  sammelten  sich  hinter  der  Mauer  des  Bahnhofes,  die  gegen 
Geschützfeuer  wohl  nur  einen  moralischen  Schulz  bot,  Capida 
zur  See  Pohl  sandte  zu  den  in  der  Nähe  bivouakirenden  Japanei 
und  Russen  Patrouillen  mit  der  Verständigung,  dass  er 
das  Nordwestfort  vorrücke.  Während  des  Vorrückens  schlosseil 
sich    zuerst     Japaner    und     Küssen     dem     dtrutschcn    und    ö^teri 


reichisch-ungarischen  Detachement  an,  etwas  später  die  eben  mit 
Dampfbarkcissen  und  Booten  gelandeten  Engländer  und  Italiener, 
im  Ganzen  war  die  vorrückende  Colonne  825  Mann  stark  ge- 
worden. 

Der  Anspruch  der  Engländer,  ihnen,  als  den  am  stärksten 
vertretenen  (250  Mann)  die  Töte  zu  überlassen,  fand  seitens  der 
übrigen  Nationen  Widerspruch,  so  dass  sie  sich  begtiügen  mussten, 
nur  ihre  mit  Sprengmaterial  ausgerüsteten  Leute  an  die  Spitze 
der  Colonne  zu  senden,  während  ihr  Gros  hinter  dem  deutsch- 
österreichischen  Detachement  anschloss. 

Capitän  zur  See  Pohl  besprach,  während  sich  die  Colonne 
ordnete,  mit  den  Ofßcieren 
der  einzelnen  Abtheilungen 
noch  die  letzten  Anord- 
nungen und  nun  gings  vor- 
wärts, auf  einer  Strasse, 
zu  beiden  Seiten  sumpfiges 
Terrain  ohne  jedwede  Cul- 
turen.  Die  Mondhelle  wurde 
durch  eine  leichte  Be- 
wölkung beeinträchtigt,  so 
dass  man  eben  noch  die 
Conto uren  des  Nordwest- 
forts  erkennen  konnte,  beim 
Aufblitzen  der  Schüsse 
waren  die  Geschützslände 
jedoch  deutlich  sichtbar. 
DasBombardementwar 
im  vollsten  Gange,  die  Kanonenboote  unterhielten  zu  dieser  Zeit 
noch  ein  langsames  Feuer,  das  sie  offenbar  nach  dem  Aufblitzen 
der  chinesischen  Schüsse  regelten;  die  Chinesen  sandten  jedoch 
nach  der  jedesmaligen  Schussabgabe  der  Kanonenboote  Salven 
aus  Maschinengewehren  herüber.  Andererseits  war  ihnen  auch  die 
Vorrückung  der  Truppe  nicht  entgangen  und  suchten  sie  dieselbe 
durch  ein  lebhaft  genährtes  Feuer  aufzuhalten ;  von  den  ma.ssenhaft 
in  nächster  Nähe  der  Truppe  einschlagenden  Granaten  explodirte 
aber  dank  der  Beschaffenheit  des  Bodens  und  vielleicht  auch  wegen 
mangelhafter  Adjustirung  der  Zünder  nur  der  geringste  Theil, 
so  dass  keine  Verluste  entstanden. 

Das  eigentliche  Vorfeld  des  Nordwestforts  wird  durch  eine 
lehmige,  sanft  ansteigende  Ebene  ohne  jede  andere  Deckung 
als  die  des  Strassendammes  gebildet ;  dort  auf  ungefähr  4000  Meter 


72 

vom  Fort  formirte  sich  die  Truppe  in  drei  Treffen  und  blieb 
unter  dem  Schutze  der  Dunkelheit  in  dieser  Position,  zum  An- 
griffe bereit,  liegen. 

Das  Nordwestfort  ist  eigentlich  zur  Wirkung  gegen  See  und 
Fluss  bestimmt;  seine  Kehle  ist  offen,  konnte  aber  durch  drei 
moderne,  12  Centimeter  Schnellade-Geschütze  mit  Panzerschutz- 
schilden, zwei  ältere  15  Centimeter  Krupp'sche  Geschütze  und 
mehrere  alte  Vorderlader  vertheidigt  werden ;  während  des  Still- 
liegens  konnte  man  nun  deutlich  beobachten,  dass  die  Vorderlader 
nicht  mehr  feuerten  —  wahrscheinlich  waren  sie,  ganz  nach 
chinesischer  Manier,  um  Schrecken  einzujagen,  überhaupt  nur  ein- 
mal abgefeuert  worden.  Hingegen  wurden  die  Schnellade-  und 
die  Krupp'schen  Geschütze  in  äusserst  lebhafter  Thätigkeit  er- 
halten. Die  Kanonenboote  concentrirten  deshalb  ihr  Feuer  auf 
diese  Geschützgruppe;  trotz  eines  mörderischen  Feuers  hielten 
diesmal  die  Chinesen  bewunderungswürdig  aus. 

Es  begann  bereits  zu  tagen  und  so  wurden  die  Truppen  um 
3  Uhr  20  Minuten  hinter  den  Strassendamm  zurückgezogen,  wo 
sie  mit  Ungeduld  das  Zeichen  zum  Vorrücken  erwarteten. 

Aus  der  neuen  Stellung  konnte  man  die  Schiffe  und  das 
Nordwestfort  deutlich  beobachten. 

Der  Anblick,  den  das  ganze  Bild  bot,   war  ein  grossartiger. 

Das  Bombardement  war  mit  der  zunehmenden  Tageshelle 
stärker  geworden,  die  Kanonenboote  entwickelten  ihre  ganze  Ge- 
schützkraft und  hatten  sich  zum  Theile  auch  schon,  durch  das  von 
dort  erhaltene  Feuer  belästigt,  mit  den  Werken  auf  dem  rechten 
Peiho-Ufer  engagirt. 

Die  Luft  war  von  dicken,  verschiedenfarbigen  Rauchwolken 
erfüllt,  die,  von  den  schweren  Geschützen  der  Russen  und  den  alt- 
artigen der  Chinesen  herrührend,  zeitweilig  jede  Aussicht  be- 
nahmen und  in  dem  Zwielicht  durch  das  Aufblitzen  der  Schüsse 
secundenlang  Feuerfarbe  annahmen. 

Es  war  eine  Hollenmusik;  fast  keine  Secunde  verging,  ohne 
dass  ein  Schuss  fiel.  Inmitten  des  ohrenzerreissenden  Lärmes,  dem 
noch  das  Knallen  der  explodirenden  Geschosse  eine  besonders 
scharfe  Note  verlieh,  unterschied  man  klar  das  Dröhnen  der 
20  und  22*5  Centimeter  Geschütze  von  ,Korejec*  und  »Bobr*,  den 
harten,  metallenen  Ton  der  Schnellfeuerkanonen,  die  heller  klingen- 
den Serien  aus  den  37  Millimeter  Maschinenkanonen  des  ,Iltis* 
und  das  Geknatter  der  Gewehrmitrailleusen. 

Deutlich  konnte  man  hüben  und  drüben  die  Treffer  wahr- 
nehmen;   die  Chinesen  schössen  viel    präciser,    als  man    erwartet. 


Von  den  Schnelladern  des  \ordwestforts  blieb  endlich  nur  mehr 
einer  in  Action,  aber  der  wurde  wirklich  mit  Bravour  ausgenützt. 
Mehrmals  waren  in  seiner  nächsten  Nähe  Granaten  einschlagen 
und  crepiren  gesehen  worden  und  hatte  das  Geschütz  bis  zu  einer 
Minute  lang  geschwiegen,  dann  aber  musste  eine  frische  Bemannung 
an  Stelle  der  ausser  Gefecht  gesetzten  getreten  sein,  denn  immer 
w-ieder  wurde  von  dorther  Schuss  auf  Schuss  abgegeben. 

Die  Zeit  schien  unendhch  lang  und  noch  immer  nicht  gab 
.Iltis'  das  verabredete  Zeichen.  Ua.  um  3  Uhr  35  Minuten,  er- 
folgte eine  enorme  Explosion,  der  kurz  darauf  zwei  kleinere 
folgten;  ein  grosses  Pulverdepot  in  den  südlichen  Forts  war  auf- 
geflogen*) —  momentan  stellten  alle  Kanonenboote  und  selbst  das 
Nordwestfort  das  Feuer  ein  und  horte  man  von  den  Schiffen 
hundertstimmiges  Hurrah.  Fast  im  selben  Augenblicke  wurde  die 
Truppe  in  der  ganz  ungedeckten  rechten  Flanke  von  einem  un- 
sichtbaren Gegner  mit  kleinen  Granaten,  glücklicherweise  ohne 
Erfolg,  beschossen:  vielleicht  kamen  diese  Grüsse  von  einem 
armirten  chinesischen  Minenleger,  der  sich  zwischen  den  zahlreichen 
am  Ufer  vertäuten  Dschunken  verborgen  hatte. 

Endlich  um  3  Uhr  öü  Minuten  war  der  so  tapfer  bediente 
12  Centimeter  im  Nordwestfort  zum  Schweigen  gebracht  und 
hisste  .Iltis'  das  verabredete  Signal  zum  Vorgehen.  Die  Truppe 
rückte  sogleich  theilweise  in  breiten  Schwarmlinien  über  das  offene 
Feld,  theilweise  in  compacterer  Formation  unter  der  Deckung 
des  Strassen  dämm  es  vor  und  wurde  von  lebhaftem  Gewehrfeuer 
»US  dem  Fort  empfangen.  Das  Österreichisch-ungarische  Detachement 
ßhrte  einen  Theil  der  Vorrückung  in  letzterer  Deckung  aus ; 
da  jedoch  der  Winkel  zwischen  Strassenzug  und  Schusslinie  so 
spitz  war,  dass  man  ohne  Gefährdung  der  Vordermänner  nicht 
ifhiessen  konnte,  wurde  die  Deckung  aufgegeben  und  in  der  Zeit 
bis  4Uhr  40  Minuten  in  langen  Sprüngen,  während  der  Haltepausen 
feuernd,  bis  auf  800  Schritt  vom  Fort  herangerückt;  dort  bog 
die  Strasse  nach  rechts  ab,  neuerdings  eine  vortreffliche  Deckung 
bielend,  aus  der  ein  wirksames  Feuer  gegen  die  aus  Schiess Charten 
feuernden  chinesischen  .Schützen  abgegeben  wurde.  Die  kleine ' 
Abtheilung  war  sehr  rasch  mit  grosser  Ruhe  vorgegangen  und  zeigte 
eine  gute  Feuerdiscrplin. 

Die  Chinesen    schössen    meistens    aus    älteren    Hinterladern, 

doch     liess     das     eigenthümliche     Pfeifen     von     Stahlmantelge- 

Khossen  erkennen,  dass  sie  auch  moderne,  kleincalibrige  Gewehre 

*}  Der   die  Explosion    herbtifÜhrpiidc  Treffet  wiirde  von  otchrcrcD  Schiffen  bean- 

ipradit :  d«>  Vndieasi  danin  isi  poch  hDate  atritlig. 


in  Action  gebracht  hatten.  An  dieser  Stelle  fielen  ein  japanischer 
Officier  und  ein  englischer  Matrose,  tödtltch  getroffen,  als  erste 
Opfer  der  Sturmcolonne. 

Die  Deckung  des  Strassendammes  ausnützend,  konnte  man 
wieder  sprungweise  bis  auf  400  Schritt  herankommen ;  auf  diese 
Distanz  wurde  durch  ein  lebhaftes  Feuer  der  letzte  kräftige  Wider- 
stand der  Chinesen  gebrochen. 

Bei  der  raschen  Vorrückung  waren,  wie  nicht  zu  vermeiden, 
Angehörige  aller  Nationen  an  die  Spitze  gekommen  und  nun,  als 
das  Wanken  des  Feindes  bemerkbar  geworden,  begann  unter 
brausendem  Hurrah  der  Sturm  auf  die  Wälle. 

Auf  der  dem  Flusse  zugewendeten  Seite  war  eine  Brücke  über 
den  breiten  Wassergraben  intact  geblieben  und  über  diese  stürzten 
sich  die  Stürmenden  auf  das  verrammelte  Thor;  letzteres  wurde 
gesprengt,  gleichzeitig  aber  hieben  sich  die  Leute  Stufen  in  die 
steilen  Wälle  und  um  4  Uhr  50  Minuten  waren  letztere  erstiegen, 
die  wenigen  nicht  geflohenen  Chinesen  trotz  hartnäckiger  Gegen- 
wehr niedergemacht.  Die  österreichisch -ungarische  Flagge  ging  — 
da  kein  anderer  Flaggenmast  mehr  frei  war  —  neben  einer  eng- 
lischen hoch! 
Nord- Fort  Im      Nordwestfort 

wurde   sehr  viel  Muni- 
tion und  namentlich  bei 
den     Geschützen     eine 
Menge    Gefallener    ge- 
funden. Dort  lagen   sie 
zumeist  in  Gruppen,  wie 
sie     von      crepirenden 
Granaten  niedergemäht 
worden,   die  verzerrten 
Gesichter  von  Staub  und 
Pulverdampf   aschgrau 
gefärbt  —  ein  entsetz- 
licher Anblick.  Die 
tapfere  Bemannung  des 
zuletzt    in    Action    ge- 
standenen  12  Centi- 
meter  Geschützes  fand  man  dort  beisammen,  ebenso  eine  Gruppe, 
die  beim   Herbeitragen   der    Munition   von   ihrem  Schicksal   ereilt 
worden. 

Da  der  Angriff  einseitig  erfolgt  war,  dürfte  der  grösste 
Theil    der  verschont   gebliebenen  Besatzung    beim  Sturme,  wahr- 


Kcheiolich  unter  Mitnahme  von  Verwundeion  und  einig-en  Todten, 
südwärts  geflüchtet  sein.  Deshalb  und  weil  zu  einer  Bejfehung' 
des  ganzen   ausgedehnten  Werkes   die  Zeit  fehlte,   kann  der  Ver- 


■.n  GmchUIuctau»  a1 


lust  der  Chinesen  an  diesem  Punkte  kaum  annäherungsweise  an- 
gejfeben  werden  —  sicherlieh  betrug  er  aber  weit  mehr  als  die 
tm  Fnrt  angetroffenen,  auf  hundert  geschätzten  Todten. 

Von  der  Mannschaft  der  ,Zenta".  die,  nachdem  sie  eine  so 
schöne  Feuertaufe  erhalten,  zum  Gebet  angetreten,  fehlte  Niemand, 
auch  war  keiner  verwundet;  Seecadet  Petri  hatte  die  Leute  sehr 
gut  zusammengehalten. 

Nach  einem  kurzen  PatrouiUengange  durch  das  Fort  vereinigte 
sich  die  kleine  Abtheilung  wieder  mit  dem  deutschen  Detachement, 
nm  g^en  das  nächste,  das  Nordfort  vorzumarschiren. 

Die  Kanonenboote  hatten  inzwischen  Anker  gelichtet  und 
stMierten  weiter  öussabwärts.  ankerten  dann  und  nahmen,  nach- 
ilcm  das  Nordfort  das  Feuer  bereits  eingestellt  hatte,  das  Südfort 
unter  Feuer. 

Vom  Nordwest-  zum  Nordfort  führt  ein  gedeckter  Weg ;  auf 
iliesem  wurde,  während  das  Südfort  gegen  denselben  und  die 
Kanonenboote  seine  Geschosse  schleuderte,  behutsam  vorgeschritten. 
Aus  dem  Nordfort  fielen  nur  Gewehrsclküsse,  einige  Geschütze, 
di«  den  Verbindungsweg  hätten  wirksam  bestreichen  können, 
scliitmen  verlassen  zu  sein,  die  Granaten  des  Südforts  erzielten 
^cgcn  die  vorgehende  Colonne  keinen  Erfolg. 


76 

Indessen  erdröhnte  wieder  eine  ungeheuere,  die  erste  an 
Stärke  weit  übertreffende  Explosion,  nach  mehrfacher  Beobachtung 
eine  doppelte,  ein  SchiesswoU-  und  ein  Pulvermagazin  auf  dem 
rechten  Ufer  waren  zerstört.  Die  Alles  erzittern  machende  Detonation 
warf  einen  Staub-  und  Feuerkegel  von  vielleicht  400  Meter  Höhe 
auf;  wieder  brachen  Schiffsbemannungen  und  gelandete  Streiter  in 
frenetischen  Jubel  aus,  gleich  darauf  bedeckte  sie  aber  ein  die 
Luft  minutenlang  verfinsternder  Staubregen. 

Rasch  ging's  nun  auf  das  Nordfort  zu ;  dessen  Besatzung  floh 
nach  wenigen  Schüssen,  offenbar  durch  die  Einnahme  des  Nach- 
barforts und  die  Explosion  auf  dem  gegenüberliegenden  Ufer  ganz 
demoralisirt  —  hätte  sie  die  erwähnten  Geschütze  und  einige  der 
zahlreichen,  später  im  Südfort  gefundenen  Feldgeschütze  herbei- 
gebracht und  spielen  lassen,  wäre  die  Vorrückung  den  Angreifem 
theuer  zu  stehen  gekommen. 

Das  Nordfort  wurde  somit  leichten  Kaufes  besetzt  und 
leistete  nur  mehr  das  Südfort  aus  mehreren  modernen  Schnellade- 
Geschützen  grösseren  Calibers  Widerstand  gegen  die  Beschiessung 
der  Kanonenboote.  Deshalb  Hess  ich  das  erste  beste  Geschütz, 
das  gegen  das  Südfort  feuern  konnte,  von  einigen  Matrosen- 
kanonieren meines  Detachements  und  des  deutschen  bemannen  und 
gab,  selbst*)  zielend  und  abfeuernd,  einen  Schuss  auf  eines  der 
gegen  die  Schiffe  feuernden  Geschütze  ab.  Zwar  traf  ich  das 
Geschütz  selbst  nicht,  wohl  aber  das  unmittelbar  darunter  befindliche 
Munitionsdepot,  das  mit  einer  weithin  vernehmbaren  Explosion 
aufflog. 

Nach  diesem  ersten  Schusse  gaben  dann  die  österreichisch- 
ungarischen und  deutschen  Kanoniere  noch  mehrere  mit  gutem 
Erfolge  aus  demselben  Geschütze  ab,  doch  feuerte  nur  mehr 
ein  Geschütz  des  Südforts  noch  einigemale,  bis  auch  dieses  bei- 
läufig um  6  Uhr  morgens  schwieg.  Gerade  zur  rechten  Zeit,  denn 
einige  der  Kanonenboote  hatten  ihren  Mu nitions vor rath  fast  ganz 
erschöpft ! 

Um  G  Uhr  25  Minuten  Hess  Capitän  zur  See  Pohl  mit  dem 
Uebersetzen  auf  das  rechte  Ufer  beginnen,  was  vorläufig  nur  eine 
deutsche  Dampf  barkasse  mit  Booten  in  Schlepp  besorgte,  so  dass 

*)  Linienschiffs-Fähnrich  Stenner  halte  das  Geschütz  halb  geladen  —  das  Geschoss 
bereits  eingeführt  —  vorgefunden ;  eine  eingehende  Untersuchung  des  Geschützes  war 
natürlich  ausgeschlossen,  so  liess  dieser  schneidige  Officier  nur  fertig  laden  und  richten, 
schickte  die  Leute  vor  der  Schussabgabe  weg,  um,  falls  das  Rohr  in  P'olge  einer  von 
aussen  nicht  erkennbaren  Havarie  springen  sollte,  wenigstens  seine  Leute  nicht  zu  ge- 
fährden. Distanz  und  auch  Elevation,  es  war  nämlich  nur  eine  Gradeintheilung  aber 
keine  Schiesstafel  beim  Geschütz,  schätzte  er  ebenfalls  selbst. 


das  .Zenta'-Detachement    erst  mit    der    zweiten  Uebcrfuhr   an  die 
Reihe  kam. 

Als  wir  das  andere  Ufer  erreichten,  sahen  wir  die  früher 
überschifften  Detachemenls  ohne  Widerstand  in  das  Südfort  ein- 
marschiren  und  die  Chinesen  auf  einer  gegen  das  Dorf  Taku 
führenden  Strasse  abziehen.  Sogar  eine  Sänfte  wurde  unter  ihnen 
ausgenommen;  in  der  verliess  wohl  der  Militär- Mandarin  das 
Fort.  Um  ihnen  den  Weg  abzuschneiden,  war  es  zu  weit  und  die 
Mannschaft  wohl  auch  schon  zu  stark  ermüdet:  das  , Zenta'-Detache- 
ment begnügte  sich  daher,  den  Abzug  durch  einige  wohlgezielte 
Gewehrsalven    zu    beschleunigen,    was   auch  vollkommen  gelang. 


Einige  Kanonenboote  fielen  hiebei  mit  ihren  Mitrailleusen  ein. 
Durch  das  Glas  konnte  man  beobachten,  wie  die  Kulis  die  Sänfte 
rtwas  unsanft  niederstellten  und  der  Herr  Mandarin  sich  zu  Fuss 
fortbewegte,  ja  unter  dem  Ansporn  des  unheimlichen  Kugel- 
pfeifens  sogar  in  einen  für  seine  Würde  bedenklichen  Laufschritt 
**t«e!  Der  Mann  hatte  sein  Gesicht  verloren!*) 

Der  nordwestliche  Theil  des  ausgedehnten  Südforts  wurde 
von  den  Engländern,  der  südliche  von  den  Deutschen  und  unserer 
kleinen  Abtheilung  besetzt.  Um  0  Uhr  45  Minuten  waren  somit 
*lle  Werke  bis  auf  die  Strand batlerie,  das  sogenannte  neue  Fort 


•)  In  China  Ijndl.iufiger  Aoadmck  dafür, 
1b    «abren     kaon ;     •Gexicht    verlierci»    un 


ch)    einmal   mehr 
iiliul^gct    Motiv 


78 

und  ein  kleines,  vier  Kilometer  entferntes  Landwerk,  die  jedoch 
nicht  mehr  kämpften,  genommen ;  während  die  genannten  Ab- . 
theilungen  —  Russen,  Japaner  und  Italiener  blieben  in  den  ge- 
nommenen Werken  auf  dem  linken  Peiho-Ufer  —  noch  das  Süd- 
fort besetzten,  flogen  aus  einem  brennenden  Magazin  massenhaft 
die  Gjeschosse  explodirender  Patronen  wie  Raketen  senkrecht  in 
die  Höhe,  Alles  umher  unsicher  machend.  Derartige  kleine  Ex- 
plosionen dauerten  noch  mehrere  Tage  hindurch  fort,  denn  man 
konnte  die  Brände,  die  sich  aus  dem  Glimmen  des  unter  den 
Lehm  gemischten  Gehäcksels  entwickelten,  nur  mit  schwerer  Mühe 
dämpfen. 

Die  k.  und  k.  Flagge  wurde  vom  Nordwestfort  herüber- 
geholt und  mit  der  deutschen  zusammen  auf  einem  Flaggenmaste 
gehisst.« 

Soweit  die  Relation  von  LinienschifFs-Fähnrich  Stenner,  in 
der  er  das  brave  Verhalten  des  Seecadetten  Petri  und  seiner 
kleinen  Schaar,  von  der  wunderbarer  Weise  keiner  verwundet 
worden,  besonders  hervorhebt,  der  auszeichnenden  Behandlung, 
die  der  deutsche  Capitän  zur  See  Pohl,  der  umsichtige  und  ent- 
schlossene Führer  der  ganzen  Operation  zu  Lande,  ihm  und  seinen 
Leuten  bewies,  und  der  freudigen  gegenseitigen  Unterstützung 
des  deutschen  und  des  »Zenta«-Detachements  dankbar  gedenkt. 

Als  ergänzende  Episode  sei  noch  erzählt,  dass  Maschinen- 
maat HofFmann,  als  er  sah,  dass  der  Bahnhof  nicht  angegriffen 
wurde,  auf  eigene  Verantwortung  mit  dem  ihm  zugetheilten  Mann 
sich  an  der  Wegnahme  der  chinesischen  Torpedoboote  betheiligte, 
dort  eine  chinesische  Flagge  erbeutete  und  nach  der  Einnahme 
der  Werke  als  erste,  von  den  nach  Labung  lechzenden  Streitern 
mit  Enthusiasmus  begrüsste  »Proviant-Colonne«  im  Südfort  ein- 
rückte —  das  hiezu  nöthige  Fahrzeug  hatte  er  requirirt. 

Um  7  Uhr  55  Minuten  dampfte  der  arg  zerschossene  »Iltis« 
gegen  die  Barre  und  signalisirte  der  internationalen  Flotte:  »Die 
Festung  ist  genommen.« 

Damit  waren  die  fernen  Zuschauer,  welche  das  Bombarde- 
ment und  seine  Begleiterscheinungen,  die  furchtbaren  Explosionen, 
in  der  denkbar  grössten  Spannung  verfolgt  hatten,  von  einem 
schweren  Alp  erlöst  und  in  die  überschwellende  Begeisterung 
über  den  Erfolg  dieses  denkwürdigen  Sonntagsmorgens  mischte 
sich  die  Zuversicht,  dass,  was  auch  noch  kommen  würde,  der 
frische  Wagemuth    doch    zum    endlichen  Triumphe  führen  müsse. 

Die  Einnahme  der  Taku-Forts  ist  eine  so  glänzende  Waffen- 
that,    dass    Einzelnheiten    darüber    anzuführen     wohl    angebracht 


80 

erscheint.  Das  Hauptverdienst  an  dem  Gelingen  des  kühnen, 
gegen  die  nach  Angabe  deutscher  Officiere  angelegten,  stark  ar- 
mirten  und  von  der  Mehrzahl  nach  europäisch  gedrillten  Truppen 
vertheidigten  Erdwerke  gebührt  den  Kanonenbooten,  von  denen 
nur  »Korejec«  und  »Bobr«  schwere,  jedoch  nicht  mit  Schnellade- 
Vorrichtung  ausgestattete  Geschütze  führten  und  Panzerschutz 
besassen ;  ohne  die  vorherige  Erschütterung  der  Widerstandskraft 
der  Werke  durch  das  ausgezeichnet  geleitete  Feuer  dieser  an 
sich  so  verwundbaren  Schiffe  hätte  das  kleine  Landungs-Corps 
beim  Ansturm  zerschellen  müssen. 

Fast  das  ganze  Bombardement  hatten  die  Kanonenboote  vor 
Anker  durchgemacht  und  demzufolge  auch  stark  durch  Treffer 
gelitten;  die  Chinesen  kannten  Distanzen  und  die  verwundbarsten 
Stellen  der  Schiffe  sehr  gut  und  hatten,  wie  die  ersten  Schüsse 
erwiesen,  ihre  Geschütze  noch  vor  Anbruch  der  Nacht  gerichtet. 
Späterhin,  als  Positionsänderungen  eingetreten  waren,  schössen 
sie  sich  gut  ein;  die  ersten,  meist  Takelagen,  Schlote  und  Auf- 
bauten erreichenden  Treffer  wurden  durch  tiefer  fallende  Schüsse 
gefolgt  —  Alles  Zeichen,  dass  die  Lehren  der  europäischen  In- 
structoren  fruchtbaren  Boden  gefunden  hatten.  Hingegen  war 
es  ein  Glück  für  die  Angreifer,  dass  die  Zünder  der  Granaten 
grösstentheils  —  sei  es  in  Folge  fehlerhafter  Adjustirung,  sei  es 
wegen  eingetretener  Deteriorirung  des  Materials  —  nicht  functio- 
nirten ;  dadurch  wurden  die  Schiffe  vor  umfangreicheren  Zerstörungen 
und  noch  zahlreicheren  Verlusten  an  Menschenleben  bewahrt. 

Immerhin  waren  beide  noch  ernst  genug. 

»Iltis«  erhielt  16  Granattreffer,  wovon  einer  den  Bug  durch- 
schlug, die  übrigen  Schlote,  Deckaufbauten,  sowie  die  Commando- 
brücke  zerstörten,  die  zwei  Gewehrmitrailleusen  und  fünf  37  Milli- 
meter Maschinenkanonen  ausser  Gefecht  setzten.  Bald  nach  dem 
Beginne  fiel  ein  Officier;  der  Commandant,  Corvetten-Capitän 
Lans,  wurde  durch  einen  Schuss  in  den  linken  Unterschenkel  sehr 
schwer  verletzt,  führte  aber,  sich  mit  den  Händen  anklammernd, 
mit  heroischem  Aufgebot  aller  Kräfte  das  Commando  weiter,  bis 
er  hinweggetragen  werden  musste.  Während  des  Transportes  von 
der  Brücke  herab  wurde  die  Stiege  noch  zerschmettert  und  Cor- 
vetten-Capitän Lans  mit  Splittern  übersäet.  Im  Ganzen  betrugen 
die  Verluste  des  »Iltis«  je  einen  todten  und  schwerverwundeten 
Officier,  7*)  Mann  todt  und  14  Verwundete. 

*)  Diese  Ziffer  ist  deutschen  Darstellungen  entnommen ;  in  der  ersten,  als  officiell 
geltenden  Relation,  die  russische  Officiere  zusammenstellten,  waren  irrig  nur  vier  Todte 
angegeben. 


81 

»Algerine«  erhielt  mehrere  Schüsse  durch  die  Bordwände, 
Boote  und  Aufbauten,  verlor  zwei  schwerverwundete  Officiere  und 
sieben  Mann  Verwundete. 

»Whiting«  (englischer  Torpedobootszerstorer)  erhielt  eine 
funfzollige  Granate  in  den  Kesselraum,  so  dass  ein  Kessel  ausser 
Betrieb  gesetzt  werden  musste. 

»Lion«  wurde  durch  eine  15  Centimeter  Granate  ge- 
troffen, die  die  Bordwand  unterhalb  der  Commandobrücke  durch- 
schlug und  knapp  über  dem  Kessel  passirend  im  Segeldepot 
crepirte.  Der  daraus  entstandene  Brand  wurde  rasch  gelöscht. 
Sonstige  Treffer  erreichten  die  Takelage,  so  dass  das  Schiff  mit 
dem  Verlust  von  einem  Schwer-  und  drei  Leichtverwundeten 
davonkam. 

»Giljak«  hatte  am  meisten  zu  leiden.  Gleich  zu  Beginn  traf 
eine  Granate  das  Hauptdampfrohr,  wodurch  eine  Menge  Leute 
verbrüht  wurden  ;  bald  darauf  durchschlug  ein  zweites  Geschoss 
den  Schiffskörper  1 V«  Fuss  unter  Wasser  und  schlug  in  das  Depot 
der  75  Millimeter  Patronen  ein,  von  denen  100  Stück  successive 
explodirten.  Merkwürdigerweise  war  der  hieraus  entstandene 
Schaden  relativ  gering,  hingegen  zog  das  Schiff  durch  das  Schuss- 
loch  unter  der  Tauchungslinie  so  viel  Wasser,  dass  sein  Comman- 
dant,  weil  in  Folge  der  schweren  Havarie  am  Dampfrohre  die 
Pumpen  nicht  bethätigt  werden  konnten,  es  leicht  auf  den  Strand 
setzte.  Trotzdem  setzte  »Giljak«  das  Feuer  fort  und  wurde  das 
Rohr,  noch  während  der  Kampf  im  vollen  Gange  war,  reparirt. 
Eine  heroische  Leistung,  die  durch  einen  Gesammtverlust  von 
8  Todten   und   47    Verwundeten,    darunter  je    ein    Officier,    noch 

besser  illustrirt  wird. 

Auf  »Bobr«  wurde  das  neunzöUige  (22*5  Centimeter)  Ge- 
schütz nach  seinem  vierten  Schusse  durch  eine  Granate  ausser 
Gefecht  gesetzt,  auf  »Korejec«,  der  sechsmal  getroffen  worden, 
entstanden  zwei  Brände,  die  jedoch  alsbald  gelöscht  wurden; 
beide  Schiffe  zusammen  hatten  einen  Verlust  von  9  Todten 
und  22  Verwundeten  zu  beklagen,  so  dass  die  Verluste  auf 
den  russischen  Schiffen  17  Todte  und  (59  Verwundete  aus- 
machten. 

»Monocacy«  wurde  einmal  getroffen,  doch  verursachte  das 
Geschoss  keinen  nennenswerthen  Schaden  und  wurde  auch  Nie- 
mand verwundet,  was  ein  umso  glücklicherer  Zufall  ist,  als  sich 
viele  Flüchtlinge  aus  Tientsin,  meist  Frauen  und  Kinder,  an  Bord 
befanden. 

»Atago«  blieb  unverletzt. 

Winterbalder :  Kampfe  in  China.  6 


Bestückung  de 

Die  Uebersicht  der  Bestückung  der  Forts  zeigt  die  Zahl  und 

das  Caliber  der  Geschütze  in  folgender  Art: 
a)  Gesammtzahl  der  Kanonen; 

6)  Kanonen  mit  der  Schussrichtung  gegen  die  See ; 
c)  Kanonen  mit  der  Schussrichtung  gegen  den  Fluss; 


Nordwestfort 

Nordfort 

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Gegossene  Kanonen  verschieden  et  Art 

Eiserne  Vorderlader  . 

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In  Summa  haben  folgende  Geschütze  auf  die  Kanonenboot 
geschossen : 


*]  Dürfte  3  beinen. 


I  -  Forts. 


i)  Kanonen,  welche  bei  Beginn  des  Kampfes  auf  die  Kanonen- 
boote schiessen  konnten ; 

e)  Kanonen,  welche  thatsächlich  auf  die  Kanonenboote 
schössen,  wie  man  sich  den  nächsten  Tag  durch  Prüfung 
der  Aufsätze  und  Lafetten  überzeugte. 


Südfort 

Neues  Fort 

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1 

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118 

63 

51 

33 

4  Schnelladekanonen  grossen  Calibers, 
15  »  mittleren        » 

1  Kanone  mittleren  Calibers    ) 
11  Kanonen  kleinen         ■  | 

2  gezogene  Vorderlader, 

~33~ 


nicht  Schnellader, 


Bestückung  der  Kanonenboote. 

i  Bombardement  der  Forts  theilgenommcn  haben. 


(DcDUchlaDd)  •Ulis«: 

88  mm  SchnelUde  .        .    . 
37    ■     Maschincakanonen 
Gcwehrmilraillcusen    .    .    . 
(England)  lAlgerine'  : 

100  mm  Schnflkcic      .    . 
47    .  .  ... 

37    .     Maxim 

(Franlircich)   -Lion- : 


Revolveikaoünen 
Dichl  Seh  Del  lader 


<;? 


•I  SchnelircaerkanoDci 
37       •     Hatchkiss-RevolverkaDiiDen 
lRu55!iind)  «Korejec« : 

SO  rm  Dicht  ScImeUadcr 


ir>  . 


(Ru^sbnU)  •Giljak<: 


^chueilfcuerkanoDea    . 


2'fi  2.riütT  SchncUreucikan 
37  mm 

Mitfailleusen 


1190 
3174 


Mit  folgenden  Kanonen  konnte  gleichzeitig  gegen  die  Forts 
gefeuert  werden: 

SchDellfeutrkanunen  (miltltreä  Caliber) |       Ö     .1 

Iklein«  Cilibcr)      ,27 

Nicht  .Schnellffucrk.iuoncn  (grosses  Caliber) ,|       S     | 

imillUrea  Caliber)    .    .     .    .   j       4 

(kleiac<>  Caliber)      '    -    '    '         ^ 
Mitral  lleuseu fi 


Totale  .    . 


48 


85 

Von  den  Landungstruppen  erlitten  nur  die  Engländer,  I  Mann 
todt,  6  verwundet,  die  Japaner,  1  Officier  und  2  Mann  todt,  2  Mann 
sehr  schwer  und  2  leichter  verwundet,  und  die  Russen,  1  Mann 
todtlich,  2  schwerer  verwundet,  Verluste.  Im  Ganzen  hatte  somit 
die  Unternehmung  den  Alliirten  9  Officiere  und  132  Mann  ge- 
kostet, während  die  Chinesen,  weil  sie  ihre  Verwundeten  und 
wahrscheinlich  auch  Todten  noch  während  des  Gefechtes  weg- 
geschafft hatten,  kann  man  ihre  Verluste  nur  annähernd  schätzen, 
öOO — 800  Todte  gehabt  haben  dürften.  35  Gefangene  ergaben  sich 
mit  Freude  in  ihr  Schicksal,  sogleich  als  Lastkulis  verwendet  zu 
werden.  Die  vorstehenden  Tabellen  ermöglichen  einen  genauen 
Vergleich  der  Bestückung  der  chinesischen  Forts  mit  jener  der 
angreifenden  Kanonenboote  und  geben  auch  den  Munitionsverbrauch 
letzterer  an  —  insgesammt  25.889  Schuss  der  verschiedensten 
Caliber. 

Von  63  chinesischen  Geschützen,  welche  den  Fluss  be- 
streichen konnten,  haben  aber  thatsächlich  nur  33  in  den  Kampf 
eingegriffen,  denen  seitens  der  Schiffe  48  allerdings  meist  klein- 
kalibrige  Schnellfeuerkanonen  gleichzeitig  entgegengesetzt  werden 
konnten.  Dies  zeigt,  dass  die  Forts  noch  nicht  genügend  bemannt 
gewesen  sind ;  von  den  33  Geschützen  wurden  zehn  ausser  Gefecht 
gesetzt.  Durch  dsis  Bombardement  wurden  im  Ganzen  drei  grosse 
und  acht  kleine  Explosionen  von  Pulvermagazinen  verursacht,  die 
im  Verein  mit  den  Geschosstreffern  der  Alliirten  im  Inneren  der 
Forts  arge  Verwüstungen  anrichteten. 

Gleich  nach  der  Besetzung  des  Südforts  wurde  es  abpatrouil- 
Hrt,  dabei  noch  der  eine  und  der  andere  versprengte  Chinese  aus 
seinem  Versteck  hervorgeholt  und  zum  Gefangenen  gemacht;  nach- 
mittags Hess  Capitän  zur  See  Pohl  das  scheinbar  verlassene  Süd- 
ostfort und  die  Strandbatterie  ohne  nennenswerthen  Widerstand 
vorübergehend  besetzen.  Sicherheitshalber  waren  vorerst  darauf 
einige  Schüsse  aus  einem  Geschütz  des  Südforts  abgegeben  und 
sodann  eine  Geschützbemannung  zum  eventuellen  sofortigen  Ein- 
greifen zurückgelassen  worden. 

Bei  dieser  Gelegenheit  erbeutete  Seecadet  Petri  eine  Gatling- 
Kanone  sammt  Protze  und  eine  47  Millimeter  Schnellfeuerkanone 
System  Maxim-Nordenfeldt.  Wegen  der  grossen  Ausdehnung  der 
beiden  Werke  und  der  geringen  Anzahl  verfügbarer  Mannschaft 
konnte  an  eine  dauernde  Besetzung  nicht  gedacht  werden;  man 
machte  daher  die  Geschütze  durch  Wegnahme  oder  Zerstörung 
der  Verschlüsse  unbrauchbar,  einige  der  im  Südostfort  vor- 
gefundenen Feldgeschütze  wurden  sammt  Munition  in  das  besetzt 


86 

zu  haltende  Südfort    geschafft    und    dort  so  placirt,    dass    sie   die 
Zugänge  vom  Dorfe  Taku  her  unter  Feuer  nehmen  konnten. 

Noch  vor  Abend  wechselten  Russen  und  Engländer  ihre 
bisherige  Position ;  erstere  zogen,  200  Mann  stark,  ins  Süd-,  letztere 
ins  Nordwestfort. 

Wegen  der  Brandgefahr,  die  bei  dem  Vorhandensein  sehr 
bedeutender,  alle  Vermuthungen  weit  übertreffender  Munitions- 
vorräthe  für  die  Besatzung  leicht  verhängnissvolle  Folgen  hätte 
bereiten  können,  musste  sobald  als  möglich  mit  der  Vernichtung 
des  nicht  Verwendbaren  begonnen  werden,  eine  ebenfalls  heikle 
Arbeit,  die  einige  Wochen  in  Anspruch  nahm  und  einigen  un- 
vorsichtig gewordenen  Leuten  das  Leben  kostete. 

Im  Südfort  wurde  ferner  eine  modern  eingerichtete  Zünd- 
station für  unterseeische  Minen,  sowie  eine  complete  elektrische 
Scheinwerfer- Anlage  gefunden ;  erstere  wurde  desarmirt,  letztere 
dagegen  in  Stand  gesetzt,  um  sie  zur  Signalisirung  mit  den 
Schiffen   verwenden  zu  können. 

Am  Abend  empfing  die  Besatzung  die  Nachricht  vom  An- 
rücken einer  grösseren  Menge  Boxer  und  hielt  deshalb  strenge 
Bereitschaft ;  doch  verging  die  Nacht  ohne  Zwischenfall. 

»Zenta«  benöthigte  die  Mannschaft  dringend  an  Bord;  des- 
halb wurde  das  Detachement  Stenner  am   18.  Juni  einberufen. 

Bei  dessen  Abgehen  hielt  Capitän  zur  wSee  Pohl  eine  An- 
sprache, in  der  er  dem  schneidigen,  so  erfolgreichen  Vorgehen 
der  kleinen  Truppe  hohes  Lob  zollte;  die  deutschen  Matrosen 
gaben  ihren  scheidenden  österreichisch  -  ungarischen  Waffen- 
gefahrten Sträusschen  aus  rothen  und  weissen  Blumen  mit,  die 
das  Gärtchen  des  Mandarinenhauses  hatte  liefern  müssen,  um  die 
Farben  der  kaiserlichen  und  königlichen  Kriegsflagge  zu  ver- 
körpern. Davon  hatte  dem  blumenliebhaberischen  Besitzer  gewiss 
nichts  geschwant! 

Dem  Detachement  Stenner  war  es  beschieden,  unsere  Flagge 
zum  erstenmale  so  weit  von  der  Heimat  als  siegreicher  Eroberer 
auf  einer  fremden  Festung  wehen  zu  lassen. 

Auf  der  Rhede  war  inzwischen  der  an  Stelle  »Hai-Tiens«  ge- 
tretene chinesische  Kreuzer  »Hai-Yung«  sammt  seinem  Admiral 
zum  Gefangenen  der  internationalen  Flotte  gemacht  worden.  Das 
ging  friedlich  und  recht  eigenartig  zu.  »Hai-Yung«  war  während 
des  ganzen  Bombardements  scheinbar  dampfklar,  die  Geschütze  je- 
doch ostentativ  mit  ihren  Persenningen  bedeckt,  unmittelbar  neben 
der  »Zenta*  gelegen  —  allerdings  dicht  neben  ihm  ein  japanischer 
Torpedobootszerstörer,    bereit,    um  beim    ersten   Anzeichen   einer 


Ftindselig'keit  svine  Torpedos  gegen  das  Schiff  zu  lancirdi.  Xach- 
dem  »Iltis«  die  Einnahme  der  Taku- Forts  gemeldet  hatte,  wurde  der 
chinesische  Contre-Admiral  eingeladen,  in  der  Conferenz  zu  er- 
»cheinen.  Dort  klärte  ihn  Vice-Admiral  Bendemann  über  die  Vor- 
gänge am  Morgen  auf,  wobei  er  betonte,  dass  die  Chinesen  es 
gewesen,  die  das  Feuer  eröffneten  und  dadurch  die  Kanonenboote 
iu  energischem  Vorgehen  zwangen;  hierauf  wurde  er  gefragt, 
welche  Instructionen  die  Regierung  in  Peking  ihrem  Admiral  ge- 
geben    habe.      Yeh- 


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Tschu-Kwee  antwor- 
tete, er  sei  ange- 
wiesen auf  derRhede 
m  bleiben  und  eine 
zuwartende  Haltung 
tu  beobachten.  Auf- 
ini.'rksam  gemacht. 
dass  es  unter  den 
obwaltenden  Verhält- 
nisseti am  vortheil- 
liaftcsten  für  ihn  sei. 
«ch  den  Anordnun- 
gen des  Rathes  der  fremden  Befehlshaber  unbedingt  zu  fügen, 
«klärte  er  sich  bereit,  auf  der  Rhede  unter  Bewachung  der 
fremden  Schiffe  zu  bleiben  und  keinen  Fluchtversuch  zu  unter- 
nehmen. Aus  eigenem  Antriebe  fügte  Yeh-Tschu-Kwee  bei,  er 
bedaui're  das  unbegreifliche  Vorgehen  seiner  Regierung,  das  er 
absolut  verurtheilen  müsse,  ferner  dass  am  1(5,  Juni  Befehl  ge- 
kommen sei.  keine  Fremden  mehr  landen  zu  lassen;  seines  Wissens 
habe  der  Vicekönig  Vü-Lü  am  selben  Abend  einen  reitenden  Boten 
(Bit  der  Bitte  nach  Peking  gesendet,  gegen  die  Boxer  endlich 
Stellung  zu  nehmen  und  sie  zu  unterdrücken. 

•Hai-Yung«  wurde  noch  am  17.  nachmittags  zwischen  einem 
deutschen  und  einem  russischen  .Schlachtschiff  vertäut  und  unter  aller 
scfauldigen  Höflichkeit  um  die  Abgabe  der  Geschütz  verschlusse 
Und  einiger  kleiner,  aber  unentbehrlicher  MaschinenbestandtheÜe 
«^ucht.  Höflichkeit  gegen  Höflichkeit  und  die  erbetenen  Nippes 
«anderlfn  auf  das  deutsche  Schiff! 

Die  Leichen  der  bei  Taku  Gefallenen  und  später  ihren  Wunden 
Erlegt-nen  musslen,  um  ihre  Gräber  nicht  der  Gefahr  ruchloser 
Schändung  preiszugeben,  in  offener  See  versenkt  werden  —  so 
Kurde  noch  so  mancher  zu  Lande  gefallener  Seemann  dem  ihm 
müttMrlichen  Element  zurückgegeben! 


88 

Von  Tientsin  war  noch  am  17.  früh  morgens  an  den  russi- 
schen Vice- Admiral  Hiltebrandt  eine  Nachricht  des  Oberst  Wogack 
gelangt,  worin  er  die  Hoffnung*  aussprach,  dass  es  der  Besatzung 
gelingen  werde,  die  Stadt  zu  halten  —  also  mussten  schon  Feind- 
seligkeiten ausgebrochen  sein  oder  mindestens  unmittelbar  bevor- 
stehen; in  der  Nacht  zum  18.  verbreitete  sich  das  Gerücht,  dass 
die  Chinesen  nachmittags  die  Stadt  zu  beschiessen  begonnen 
hätten.  Von  Tongku  ausgeschickte  Patrouillenzüge  konnten  nicht 
weit  über  die  von  den  Russen  besetzte  Station  Tschun-lian-tscheng 
vordringen,  da  eine  kleinere  Brücke  zerstört  worden  war. 

Bis  zum  20.  Juni  blieb  man  thatsächlich  über  die  Vorgänge 
in  Tientsin  im  Unklaren  ;  an  diesem  Tage  erst  überbrachte  der 
Engländer  Wats,  der  sich,  von  nur  drei  Kosaken  begleitet,  durch- 
geschlagen hatte,  der  internationalen  Flotte  verlässliche  Auskünfte 
über  die  seit  17.  Juni  dauernden  Kämpfe  und  die  Bitte  um 
schleunigste  Hilfe.  Weitere  Ergänzungen  über  die  Kämpfe  in 
Tientsin  brachte  am  21.  abends  ein  französischer  Officier,  der  in 
einem  kleinen  Boote  bis  Tschun-lian-tscheng  gekommen,  den  Rest 
des  Weges  nach  Tongku  auf  der  Bahn  zurückgelegt  hatte. 

Glücklicherweise  waren  schon  am  18.  Juni  die  erste  Staffel 
amerikanischer  Truppen  von  den  Philippinen,  1000  Mann  russische 
Truppen  unter  General  Stessel  und  ungefähr  600  Mann  deutsche 
Matrosen,  die  Ablösung  für  ausgediente  Mannschaft  des  Kreuzer- 
geschwaders, eingetroffen,  deren  Ausschiffung  sich  allerdings  durch 
schlechtes  Wetter  verzögert  hatte;  diese  Truppen,  zu  denen  noch 
am  22.  Juni  ein  von  Vice-Admiral  Bendemann  erbetenes  Halb- 
bataillon Seesoldaten  aus  Tsingtan  und  90ü  mit  »Terrible«  ange- 
kommene Engländer  stiesscn,  mussten  sich  von  Tongku  aus  ihren 
Weg  nach  Tientsin  gegen  einen  übermächtigen  Feind  erkämpfen. 
Am  21.  Juni  schon  war  es  östlich  von  Tongku  zu  einem  ernsten 
Zusammenstoss  mit  der  Vorhut  auf  10.000  Mann  geschätzter  chinesi- 
scher Truppen  gekommen,  dievonLutai  her  anmarschirten;  das  Gefecht 
endete  mit  dem  Rückzug  der  Chinesen,  die  aber  noch  Zeit  fanden, 
die  grosse,  aus  22  in  Holz  gebauten  Jochen  bestehende  Eisenbahn- 
brücke zu  verbrennen.  Vorderhand  war  dies  eher  ein  Vortheil  für 
die  Alliirten,  die  dadurch  auch  gegen  chinesische  Unternehmungen 
von  dieser  Seite  her  so  ziemlich  gesichert  wurden.  Eine  aus  Eng- 
ländern und  Amerikanern  bestehende  Colonne  war  schon  vor  dem 
deutsch-russischen  Verstärkungs-Corps  aufgebrochen,  durch  die 
Chinesen  jedoch  einige  Zeit  aufgehalten  worden,  so  dass  sie  erst 
mit  letzterem  am  23.  Juni  mittags  ihren  Bestimmungsort  Tientsin 
erreichte. 


89 

Seit    17.  Juni    war   jede    telegraphische  Verbindung    mit  der 
Welt    via  Taku — Tongku  abgeschnitten;    die  SchifiFe  waren  daher 
bezüglich  ihres  Verkehres  mit  der  Heimat  auf  die  beiden  nächst- 
gelegenen   Häfen    Port  Arthur  und    Tschifu    und  das  weiter    ab- 
liegende Tschemulpo  angewiesen.  Der  nähere  russische  Hafen  bot 
aber  den  Nachtheil,  dass  chiffrirte  Depeschen,  um  die  es  sich  vor- 
wiegend handelte,  entweder   gar  nicht,  oder  nur  mit  grosser  Ver- 
spätung    zur    Beförderung    gelangten,    so    dass    schliesslich    alle 
Nationen  bis  auf  die  Russen  ihre  Telegramme  über  Tschifu  leiteten. 
Zwischen   den  englischen  Schiffen    auf    der  Rhede    und  dem 
Lande  wurde  bald  nach  der  Einnahme    der  Taku-Forts   eine  Ver- 
bindung  durch  Marconi^sche   (drahtlose)  Telegraphie   eingerichtet, 
die  sich  vorzüglich  bewährte;  Ende  August  errichteten  auch,    wie 
vorgreifend   bemerkt   sei,    die    Deutschen   eine   solche   Station   im 
Südfort.    Ansonst     war    man    im     Verkehr    mit    dem    Lande   auf 
Dampfboote   oder    bei    Nacht   auch   auf  Signalisirung   mit  Schein- 
werfern beschränkt. 

Zufolge  Vereinbarung  innerhalb  der  internationalen  Flotte  — 
auch  die  amerikanische  Regierung  schien  inzwischen  die  ihren 
Admiral  etwas  isolirenden  Instructionen  den  thatsächlichen  Be- 
dürfnissen entsprechend  verändert  zu  haben  —  ging  täglich  eines 
der  vor  Taku  liegenden  Schiffe  im  Post-  und  Depeschendienste 
nach  Tschifu  ab,  das  nun  als  nächste  Ressourcenstation  überhaupt 
eine  äusserst  wichtige  Rolle  zu  spielen  begann. 

Dies  traf  besonders  für  »Zenta«  zu,  welches  Schiff  sich  als 
alleiniger  Vertreter  der  österreichisch-ungarischen  Flagge  schon 
aus  diesem  Grunde  unmöglich  längere  Zeit  von  Taku  entfernen 
durfte. 

In  Tschifu  hatte  sich  bisher    die  Bevölkerung   dank    der  Be- 
sonnenheit  und  Energie    des    gewiss    auch    von  Deutschland   zum 
Vortheile  der  AUiirten   beeinflussten  Gouverneurs  von  Schantung, 
Yuanschikkai,  ziemlich    ruhig  verhalten,  so    dass  eine   militärische 
Besetzung  dieses  Platzes  durch  die  Fremden   schon  aus  rein  poli- 
tischen Gründen  nicht    in  Betracht  kam;    dennoch  war    die    hoch- 
gehende Aufregung  im  inneren  Schantung  und  in  Tschili  insoferne 
nicht    ohne    empfindliche  Folgen    geblieben,    als  sich    der  handel- 
treibenden   und  arbeitenden  Chinesenbevölkerung  Angst    vor  dem 
Ausbruche  schwerer  Unruhen,  vielleicht  auch  vor  Repressalien  der 
Fremden  bemächtigte,  die  gerade  in  diesem  Augenblicke,  wo  die 
HUfsmittel  dieses  Handelsplatzes  so  sehr  beansprucht  wurden,  eine 
wesentliche    Behinderung    in    der   glatten  Abwickelung  der  Liefe- 
rungen herbeiführte. 


90 

Militärpatrouillen  durchstreiften  zwar  die  Stadt  und  hielten 
die  Emissäre  der  Boxer,  die  zweifellos  auch  hier  sich  einzu- 
schleichen gewusst  hatten,  von  ihrer  haranguirenden  Thätigkeit 
ab,  doch  waren  die  ansässigen  Europäer  durchaus  nicht  ganz 
sicher,  dass  sich  diese  Beschützer  nicht  einmal  in  Angreifer  ver- 
wandeln würden,  und  hatten  deshalb  unter  sich  ein  eigenes,  vom 
deutschen  Consul  Lenz  geführtes  Freiwilligen  -  Corps  gegründet, 
das  zur  Nachtzeit  den  Sicherheitsdienst  versah. 

Am  22.  Juni  abends  traf  »Zenta«  zum  erstenmale  die  Reihe  nach 
Tschifu  abzugehen;  bei  der  Ankunft  daselbst  herrschte  unter  der 
Fremdencolonie  einige  Beunruhigung,  da  man  nach  umlaufenden 
Gerüchten  einen  Angriff  der  Boxer  und  vielleicht  auch  übergelaufener 
Soldaten  befürchten  zu  müssen  glaubte.  Jedenfalls  wäre  die  Fremden- 
colonie, im  Falle  sich  die  Besatzungen  der  beiden  im  Südosten  und 
Westen  in  dominirender  Lage  befindlichen  Forts  auf  die  Seite  der  Auf- 
rührer geschlagen  hätten,  verloren  gewesen ;  die  tägliche  Anwesenheit 
von  ein  bis  zwei  fremden  Kriegsschiffen  wirkte  zwar  beruhigend, 
doch  hätten  auch  diese  allein  kaum  die  momentanen  Folgen  eines 
verrätherischen  Gewaltstreiches  abwenden  können.  Während  des 
zweitägigen  Aufenthaltes  in  Tschifu  —  »Zenta«  musste  bei  dieser 
Gelegenheit  alle  Vorräthe  ergänzen  —  fiel  nichts  direct  Be- 
unruhigendes vor.  Der  provisorische  Schiffs-Commandant  trat  mit 
dem  ansässigen  österreichischen  Unterthan  Baron  Max  Babo  in 
Verbindung.  Dieser  stellte  sich  in  wahrhaft  patriotischer  Weise  zur 
Besorgung  alles  Nöthigen,  namentlich  auch  hinsichtlich  der  Ueber- 
mittlung  vertrauenswürdiger  Nachrichten  vollkommen  zur  Ver- 
fügung und  hat,  wie  vorgreifend  hervorzuheben,  nicht  nur  »Zenta«, 
sondern  allen  nachfolgenden  österreichisch-ungarischen  Kriegs- 
schiffen in  jeder  Beziehung  aufopferungsvoll  die  dankenswerthesten 
Dienste  geleistet,*)  woran  den  königlich  englischen,  mit  der  Ver- 
tretung betrauten  Consul  wohl  die  Ueberlastung  mit  Agenden 
seiner  eigenen  Nation  verhinderte. 

Am  24.  Juni  abends  brachte  »Humber«  aus  Peitaho  eine  An- 
zahl flüchtiger  Fremder,  meist  Angestellte  der  Kohlenwerke  bei 
Kaiping ;  einer  derselben,  der  Oesterreicher  Peter  Stampfel,  wurde 
auf  sein  Ersuchen  sogleich  auf  «Zenta«  aufgenommen.  Die  Flucht 
nach  Peitaho  war,  seiner  Darstellung  nach,  mit  knapper  Noth  am 
18.  Juni  geglückt. 

Auf  Ersuchen  des  Consular-Corps  liess  Linienschiffs- Lieutenant 
von  Kottowitz    bei  der    um  8    Uhr   abends    erfolgenden    Abfahrt 

*)  Baron  Max  Babö  wurde  in  Anerkennung  seiner  hervorragenden  Leistungen  »cit- 
her  zum  österreichisch-ungarischen  Honorar- Viceconsul  ernannt. 


am  24.  Juni  15  Mann  unter  Seecadet  Ernst  Petri  als  Wache 
zurück,  die  sich  aber  vor  der  Nothwendigkeit  activen  Eingreifens 
am  Lande  verborgen  halten  sollte,  um  eine  Beunruhigung  der 
Chinesen  zu  vermeiden;  die  befürchteten  Ruhestörungen  blieben 
aus  und  die  Wache  konnte  einige  Tage  später  auf  dem  deutschen 
Kreuzer  »Gefion«  nach  Taku  einrücken. 

•Zenta«  selbst  hatte  am  25.  Juni  in  Taku  die  Nachrichten  vom 
Rückzuge  der  Colonne  Seymour  in  das  Arsenal  von  Hsiku  vorgefunden 
und  von  dem  ersten  Gerüchte  Kenntniss  erhalten,  dass  die 
Fremden  unter  chinesischer  Escorte  Peking  verlassen  hätten;  am 
26.  Juni  langte  bei  der  internationalen  Flotte  die  bestimmte 
Meldung  ein,  dass  es  der  verstärkten  Tientsiner  Besatzung  ge- 
lungen sei,  das  Seymour'sche  Expeditions-Corps  in  Hsiku  zu  be- 
freien und  letzteres,  allerdings  durch  schwere  Verluste  geschwächt, 
Tientsin  wieder  erreicht  habe.  Der  kühne  Versuch,  den  Ge- 
sandtschaften in  Peking  Hilfe  zu  bringen,  war  somit  endgiltig 
gescheitert  und  blieb  man  noch  mehrere  Tage  über  die  Schicksale 
jener  aut  Vermuthungen  und  die  widersprechendsten  Gerüchte 
beschränkt. 

Während  der  letzten  Tage  war  die  Aufmerksamkeit  der  ver- 
bündeten Flotte  vollauf    und    ausschliesslich    durch    die  Vorgänge 
an   der  Peiho-Mündung    und    im    nächsten  Räume    auf  der  Linie 
gegen   Peking   gebunden   gewesen    und    seit  der   Wegnahme    der 
Flusssperre  war  man  sich  bewusst,  sich  im  vollen  Kriegszustande 
zu  befinden ;  nun  warf  sich  aber  die  Frage,  auf  welches  Gebiet  sich 
letzterer  ausdehnen  würde,  unabweisbar  auf.  Den  Befehlshabern  war, 
wie  gesagt,    keine  Antwort    des  Vicekönigs  von  Tschili    auf    die 
Forderung,    die  Taku-Forts  zu  übergeben,   geschweige   denn   eine 
Enunciation  der  Central-Regierung   in  Peking  zugegangen,  welche 
den  Eintritt  des  Kriegszustandes    in  aller  Form   angezeigt   hätte; 
auch    verblieben    die    Gesandten    Chinas    an    den  Höfen,    wo  sie 
accreditirt   waren.     Freilich   kannte    man    einstweilen    die    an    die 
Vicekönige  ergangenen  Befehle  der  Gewalthaber  in  Peking  nicht, 
doch  stand,  wie  die  Beispiele  aus  den  Kriegen  mit  China  während 
der  letzten  40  Jahre  lehrten,  noch   immer    zu  hoffen,    dass   der   in 
Tschili  de  facto  eingetretene  Kriegszustand  sich  auf  diese  Provinz 
beschränken   lassen  werde,    selbst    wenn    Peking    die    gewaltsame 
Vertreibung  der  Fremden  angeordnet  haben  würde. 

Von  dieser  Absicht  geleitet,  hatte  die  Admirals-Conferenz 
schon  am  20.  Juni  den  Antrag  des  englischen  Contre-Admirals 
James  Bruce  einstimmig  angenommen,  eine  Proclamation  an  das 
chinesische  Volk    zu    erlassen,    worin    die  Erklärung    abgegeben 


94 

nächsten  Interessen  über  die  ofiFenkundigen  Absichten  seiner  Re- 
gierung stellt,  zeigt  wohl  die  Thatsache,  dass  schon  8 — 10  Tage 
nach  dem  Bombardement  von  Taku  dort  ansässige  kleine  Handels- 
leute auf  die  Rhede  kamen,  um  Fische,  Hühner,  Eier  und  Gemüse 
anzubieten.  Durch  Flaggen  der  fremden  Nationen  und  Pässe  ge- 
schützt, betrieben  sie  einen  für  beide  Theile  vortheilhaften,  immer 
schwunghafteren  Kleinhandel ! 

Nachdem  es  am  23.  Juni  geglückt  war,  Tientsin  zu  verstärken 
und  einige  Tage  später  auch  die  zerstörte  Eisenbahnbrücke  durch 
russische  Truppen  wieder  hergestellt  worden  war,  bestand  trotz 
der  fortdauernden  hartnäckigen,  durch  eine  Concentration  chinesi- 
scher Truppen  unter  den  Generalen  Sung,  Nieh  und  Mah  sich  sehr 
ernst  gestaltenden  Kämpfe  um  den  Besitz  der  Stadt,  doch  seit  dem 
26.  Juni  wieder  eine  halbwegs  gesicherte  Verbindung  mit  der  See, 
so  dass  »Zenta«  bereits  am  28.  ihrem  Detachement  in  Tientsin 
Proviant  und  hauptsächlich  Munition  zuschieben  konnte. 

Damit  war  freilich  der  gesammte  Vorrath  nn  Gewehrpatronen 
an  Bord  erschöpft  und  musste,  um  für  Nothfalle  gedeckt  zu  sein, 
die  Gefälligkeit  des  russischen  Vice  -  Admirals  in  Anspruch  ge- 
nommen werden,  da  es  sich  gezeigt  hatte,  dass  glücklicherweise 
die  russischen  Patronen  in  die  Mannlicher-Gewehre  pzussten. 

Durch  einen  Brief  von  Linienschiffs-Lieutenant  Indrak  waren 
an  Bord  der  »Zenta«  Details  über  den  Verlauf  der  Seymour-Ex- 
pedition  bekannt  geworden;  von  den  mitgezogenen  25  Mann 
war  einer  gefallen,  einer  nicht  sehr  schwer  verwundet,  einer 
schwer  erkrankt,  Alles  zusammengenommen  noch  ein  unverhofft 
glimpflicher  Ausgang. 

Am  28.  Juni  traf  in  Taku  ein  am  19.  Juni  in  Peking  von 
Sir  Robert  Hart  geschriebener  und  durch  einen  chinesischen 
Emissär  nach  Tientsin  beförderter  Brief  ein  —  seit  nahezu  drei 
Wochen  die  erste  Kunde  von  den  bedrängten  Fremden !  Sie  ent- 
hielt, dass  die  Gesandten  am  19.  vom  Tsungli-Yamen  unter  der 
Motivirung,  die  Wegnahme  der  Taku-Forts  bilde  einen  casus  belli, 
aufgefordert  worden  waren,  binnen  24  Stunden  unter  chinesischer 
Escorte  Peking  zu  verlavssen,  sie  aber  dieser  letzteren  Zusicherung  miss- 
trauen ;  ferners  befinde  sich  die  Fremdencolonie,  durch  chinesische 
Truppen  und  Boxer  vollständig  eingeschlossen,  in  einer  äusserst 
bedrängten  Lage  und  habe  der  grösste  Theil  in  der  englischen 
Gesandtschaft  Zuflucht  gesucht.*) 

*)  Diese  Nachricht  mag  wohl,  durch  die  englische  und  die  ihr  afHlliirte  Presse 
einseitig  wiedergegeben,  den  Anstoss  zur  Verbreitung  der  lange  geglaubten  Mythe  ge- 
geben haben,   dass  sich  Alles  auf  die  englische  Gesandtschaft  zurückgezogen  habe. 


Diesem  Briefe  narh  wurde  im  Zusammenhalte  damit,  dass 
über  das  Schicksal  der  Pekinger  Fremden  nichts  weiter  bekannt 
geworden  war,  angenoromen,  dass  sie  die  Stadt  nicht  verlassen 
hätten;  zwei  Tage  später  verlautete,  dass  es  mit  ihren  Vorräthen 
an  Proviant  schlecht  stehe.  Nach  ferneren  zwei  Tagen,  am  2.  Juli 
ergänzte  ein  neuerlicher  Brief  Sir  Robert's  vom  25.  Juni  das  noch 
immer  unklare,  aber  recht  düstere  Bild  von  der  Lage  in  der 
Hauptstadt  durch  die  Mittheilung  von  der  Ermordung  des  deutschen 
Gesandten.  Baron  Ketteier,  am  20.  Juni  und  von  der  Zerstörung 
der  österreichisch- ungarischen,  belgischen,  italienischen  und  hollän- 
dischen Gesandlschaftsgebäude  und  der  engen  Cernirung  der 
übrigen.  Selbstredend  schloss  auch  dieses  Schreiben  mit  einer 
Aufforderung  um  schleunigste  Hilfe. 

Das  waren  traurige  Tage  an  Bord  der  Schiffe  —  selbst  das 
Bewu&staein,  das  Aeusserste  gethan  zu  haben,  konnte  nicht  über 
ilie  Unmöglichkeil  hinweghelfen.  Anderes  zu  thun,  als  auf  das  Ein- 
treffen von  ausgiebiger  Verstärkung  zu  warten  —  warten  und 
noch  einmal  warten,  in  einer  Situation,  wo  sich  in  der  nächsten 
Stunde  eine  fürchterliche  Katastrophe  ereignen  konnte  I 

Trotzdem  zu  dieser  Zeit  jeder,  der  nur  irgendwie  konnte, 
Tient-sin  verliess,  trat  doch  am  30.  Juni  der  bemerkenswerthe 
Fall  ein,  dass  einer  unserer  Landsleute,  der  auf  einer  Reise  um 
die  Welt  begriffene  Graf  Alexander  Hoyos,  den  provisorischen 
Commandanten  der  »Zenta*  ersuchte,  ihm  behilflich  zu  sein,  nach 
Tieniain  zu  gelangen.  Auf  die  damit  verbundenen  Fährlichkeiten  auf- 
merksam gemacht,  erklärte  Graf  Hoyos  doch,  sie  gerne  auf  sich 
*ii  nehmen,  um  selbst  an  die  Stelle  zu  gelangen,  wo  auch  seine 
tind.ileute  kämpften,  und  ging,  von  dem  zur  mündlichen  Bericht- 
srsiattung  gesendeten  Scecadetten  Leschanowsky  begleitet,  mit 
«nem  Empfehlungsschreiben  an  den  Detachements-Commandanten 
in  Tientsin  ab.  Dort  blieb  er  bis  zum  ü.  Juli,  hatte  somit  vollauf 
liBlegenheit,  Zeuge  der  Kämpfe  zu  sein,  während  welcher  er  dem 
«Herreichisch- ungarischen  Detachement  sich  mehrfach  nützlich  zu 
machen  wusste.  Diese  Episode  mit  ihren  vielseitigen  Eindrücken 
i"eranla.sfite  den  noch  im  ersten  Mannesalter  stehenden  Reisenden, 
sogleich  nach  seiner  Rückkehr  vom  Kriegsschauplatze  um  seine 
Einreihung  in  den  diplomatischen  Dienst  in  China  zu  bitten,  den  er 
drei  Monate  später  bei  der  Rückkehr  des  k.  und  k.  Gesandten 
BarOn  Czikann  als  dessen  Attache  antrat. 

Am  I.  Juli  kam  der  Consulalsbeamte  Vincenz  Gottwald  von 
■fientMn  an  Bord;  seine  Schicksale  waren  sehr  bewegte  gewesen. 
Vom  Generalconsulate  zu  Shanghai  als  Aushilfe  zur  Gesandtschaft 


96 

nach  Peking  bestimmt,  hatte  er  gehofift,  mit  der  Seymour'schen 
Expedition  seinen  neuen  Dienstesposten  noch  zu  erreichen  und 
sich  deshalb  dem  kleinen  österreichisch-ungarischen  Detachement 
unter  Seecadet  Prochaska  angeschlossen.  Auf  dem  Rückzuge  ver- 
lor er  seine  ganze  bewegliche  Habe  und  wartete  nun  eine  weitere 
Verfügung  ab,  bis  er  in  der  ersten  Hälfte  Juli  von  Consul  Pisko 
in  sein  früheres  Amt  berufen  wurde. 

Die  auf  »Zenta«  Zurückgebliebenen  erfuhren  am  3.  Juli,  dass 
S.  M.  S.  »Kaiserin  und  Königin  Maria  Theresia«  den  Suezcanal 
mit  der  Bestimmung  nach  China  passirt  habe  —  ein  kleiner  Licht- 
schimmer in  der  dunklen  Stimmung  aufgezwungener  Unthätigkeit. 

Zwei  Tage  später  kamen  von  Tientsin  wieder  schlechtere 
Nachrichten;  10.000  Mann  reguläre  chinesische  Truppen  unter 
General  Mah  waren  von  Norden  gegen  die  Stadt  gekommen,  so 
dass  die  Fremdenbesatzung  sich  gegen  20.000  Mann,  die  Boxer- 
banden gar  nicht  gerechnet,  halten  musste  und  Vice-Admiral 
Seymour  neuerlich  um  Verstärkungen,  namentlich  an  Artillerie  bat. 

Die  Schiffe  konnten  solche  aber  nicht  mehr  entsenden,  umso- 
weniger  als  gleichzeitig  Gerüchte  von  einer  Concentration  chine- 
sischer Streitkräfte  an  der  Küste  bei  Shanhaikuan  auftauchten; 
auch  der  russische  Admiral  erklärte,  dass  bedeutendere  Nachschübe 
weder  aus  Port  Arthur,  noch  Wladiwostok  mehr  beigestellt  werden 
könnten;  die  wenigen  entbehrlichen  anglo-chinesischen  Truppen 
aus  Weihaiwei  befanden  sich  bereits  in  Tientsin  und  die  Deutschen 
vermochten  aus  bereits  angedeuteten  Gründen  ebenfalls  nicht, 
Tsingtau  seiner  Garnison  zu  entblössen.  Mit  einem  Worte,  die  Re- 
serven der  nächsten  Umgebung  waren  erschöpft. 

In  dieser  Zwangslage  ersuchte  die  Conferenz  der  Befehls- 
haber den  japanischen  Contre- Admiral  Deva,  bei  seiner  Regierung 
die  sofortige  Absendung  aller  verfügbaren  Truppen  —  eine 
13.000  Mann  starke  Division  wusste  man  in  Hiroschima  bereit  —  an- 
zusprechen und  zur  Klarlegung  des  Sachverhaltes  ein  fliegendes 
Geschwader  zur  Beobachtung  der  Küste  zwischen  Taku  und 
Shanhaikuan  zu  detachiren.  Der  japanische  Admiral  sagte  bereit- 
willigst zu  und  erklärte  die  betreffende  Depesche  in  doppelter 
Ausfertigung  über  Tschemulpo  und  Tschifu  absenden  zu  wollen, 
damit  sie  mit  Sicherheit  rasch  ankomme.  Die  Gründe,  warum  die 
japanische  Regierung  bisher  nur  relativ  kleine  Truppenmengen 
entsendet  hatte,  sind  jedenfalls  auf  dem  Felde  der  Diplomatie  zu 
suchen,  denn  die  Mobilisirung  und  der  Transport  einer  Truppen- 
division hätte  ihr  vom  militärischen  Standpunkte  aus  gar  keine 
Schwierigkeiten  bereitet.    Das  fliegende  Geschwader  sollte    aus  je 


iMtfUM*.- 


98 

einem  SchifiFe  der  vertretenen  Nationen  bestehen,  alle  angetroffenen 
chinesischen  Schiffe  aufbringen  und  etwaige  fremde  auf  Kriegs- 
contrebande  untersuchen;  von  der  anfanglich  beabsichtigten  Be- 
schiessung  Shanhaikuan's  wurde  in  Erwägung,  dass  man  den  Erfolg 
eines  Bombardements  mangels  Landungstruppen  nicht  ausnützen 
können  würde,  abgesehen. 

Vorgreifend  sei  erwähnt,  dass  die  unter  dem  Befehl  des 
deutschen  Capitäns  zur  See  Pohl  aus  je  einem  deutschen,  eng- 
lischen, franzosischen,  japanischen  und  russischen  Schiffe  bestehende 
Expedition  am  7.  Juli  abging,  jedoch  gar  nichts  Beunruhigendes 
vorfand  und  daher  drei  Tage  später  nach  Taku  zurückkehrte. 

Für  den  6.  Juli  wurden  seitens  Frankreich  1400,  seitens 
Russland  1800  Mann    je  mit  einer  Gebirgsbatterie  erwartet. 

Am  5.  Juli  rückte  Maschinenmaat  Hoffmann  mit  dem  nun  am 
Lande  nicht  mehr  benöthigten  Scheinwerfer  und  dem  Bedienungs- 
mann ein;  am  selben  Tage  kamen  viele  Flüchtlinge  aus  Tientsin 
auf  die  Rhede,  um  sich  nach  Japan  einzuschiffen.  Die  Stadt  hatte 
durch  das  Bombardement  der  Chinesen  derart  gelitten,  dass  die 
noch  zurückgebliebenen  Frauen  und  Kinder  entfernt  werden 
mussten.  Eine  Dame  mit  ihren  Kindern,  Frau  Detring,  geborene 
Oesterreicherin,  fand  an  Bord  der  »Zenta«  Aufnahme,  bis  sich  nach 
einigen  Tagen  eine  PaSvSage  nach  Japan  ergab;  Herr  Stampfel, 
der  von  seiner  langjährigen  Thätigkeit  als  Bohrmeister  in  China 
her  äusserst  interessante  Aufschlüsse  über  die  Grubenverhältnisse 
zu  geben  gewusst  hatte,  verliess  schon  am  5.  Juli  Taku. 

In  der  Conferenz  am  H.  Juli  legte  der  amerikanische  Contre- 
Admiral  Kempff  im  Auftrage  seiner  Regierung  den  versammelten 
Officieren  eine  bedeutungsvolle,  den  Umschwung  in  der  Ansicht 
der  leitenden  Staatsmänner  charakterisirende  Frage  vor :  wie  viel 
Truppen  nach  Ansicht  der  Admirale  noch,  nebst  den  bereits  aus- 
geschifften, nothwendig  sein  würden,  um  Peking  einnehmen  zu 
können.  Man  einigte  sich  auf  die  Zahl  von  60.000;  nach  einer 
russischen  Zusammenstellung  befanden  sich  damals,  die  Schutz- 
detachements  in  Peking  eingerechnet,  bereits  530  Officiere  und 
17.040  Mann  mit  70  Geschützen  und  32  Maschinengewehren  am 
Lande,*)  die  sammt  den  eben  eingetroffenen  kleinen  Verstärkungen 
—  zusammen  20.000  Mann  —  für  die  Besetzung  des  Raumes 
Taku — Tientsin  als  nothwendig  erachtet  wurden. 

Am  9.  Juli  Morgens  liefen  bereits  japanische  Truppentrans- 
porte ein,    so  dass  dem  neuerlichen  Ansuchen   des  Vice-Admirals 

*)  In  numerischer  Reihenfolge:  Russen  8300,  Japaner  4000,  Engländer  2600, 
Franrosen  1200,  Deutsche  1100,  Amerikaner  300,  Oesterreich-Ungam  123,  Italiener  100. 


i^Bl. 


99 

Seymour    um    Verstärkungen    für   Tientsin    diesmal    entsprochen 
werden  konnte. 

Dort  war  inzwischen  eine  Verschiebung  der  Lage  eingetreten, 
welche  zur  Ergreifung  entschiedener  Offensive  drängte,  wollte 
man  sich  nicht  jeder  Aussicht  auf  baldige  Aufhebung  der  Belage- 
rung seitens  der  Chinesen  begeben. 

Der  Gouverneur  von  Russisch-Ostsibirien,  Vice-Admiral 
AlexeieflF,  war  mit  dem  letzten  Transporte  nach  Taku  gekommen, 
begab  sich  am  8.  Juli  nach  Tientsin  und  übernahm  —  wie  es 
heisst,  nach  einer  vorausgegangenen  heftigen  Controverse  —  von 
dem  nach  Taku  zurückkehrenden  englischen  Vice-Admiral  den 
Oberbefehl. 

Die  nächsten  Tage  brachten  anfanglich  russischerseits  demen- 
tirte,  bald  jedoch  durch  Thatsachen  bekräftigte  Nachrichten,  dass 
auch  in  der  Mandschurei  ernste  Unruhen  ausgebrochen  seien;  in 
Tientsin  waren  seit  dem  Abgange  Sir  Edwards  einige  Vorstösse 
mit  wechselndem  Erfolge  gemacht  worden.  Fortwährend  trafen 
neue  Verstärkungen  ein  und  am  13.  lagen  Mittheilungen  der 
Regierungen  Englands,  Frankreichs  und  Japans  vor,  wonach  im 
Ganzen  20.000  Mann  unterwegs  waren. 

Die  Befehlshaber  der  Flotte  beschlossen  ihrerseits,  das  circa 
12  Seemeilen  stromauf  von  Tongku  am  rechten  Peiho-Ufer  ge- 
legene chinesische  Fort  Sitscheng  besetzen  zu  lassen,  dessen  Be- 
mannung sich  zwar  bisher  ruhig  verhalten  hatte,  das  aber,  wenn 
sich  das  Gerücht  vom  Anrücken  von  8000  Mann  chinesischer 
Truppen  auf  dem  Kaisercanal  bewahrheitete,  einen  zu  guten 
Stützpunkt  für  die  neuerliche  Bedrohung  der  Communication  der 
Alliirten  abgegeben  hätte.  Die  Besetzung  erfolgte  am  16.  Juli 
durch  russische  Truppen  ohne  Widerstand. 

Der  mit  dem  Commando  über  alle  Taku-Forts  und  die  im 
Flusse  liegenden  Kanonenboote  betraute  russische  Contre-Admiral 
Wesselago  hatte  eine  Operation  gegen  die  östlich  von  Taku  ge- 
legenen Peitang-Forts  beantragt,  doch  unterblieb  eine  solche,  weil 
man  Tongku  gut  vertheidigt  wissend  im  gegenwärtigen  Augen- 
blicke die  Kräfte  nicht  durch  Unternehmungen  von  secundärer 
Bedeutung,  wie  gegen  diese  passiven  Besatzungstruppen,  verzetteln 
wollte  und  durfte. 

Am  14.  Juli  endlich,  also  vier  Wochen  nach  der  Einnahme 
der  Taku-Forts,  meldeten  die  dort  errichteten  Feldtelegraphen, 
dass  die  Chinesenstadt  von  Tientsin  nach  einem  harten,  vierund- 
zwanzigstündigen  Kampfe  am  selben  Morgen  von  den  Fremden 
eingenommen   und   dadurch    ganz  Tientsin  wieder  in  ihren  Besitz 


100 

gefallen  sei.  Fast  gleichzeitig  mit  dieser  lang  ersehnten  Freuden- 
botschaft langte  jedoch  eine  vom  29.  Juni  datirte  Nachricht  aus 
Peking  ein,  welche  die  dortige  Situation  als  verzweifelt  schilderte. 
Diese  und  das  seit  einigen  Tagen  colportirte  Gerücht  von  einem 
Massacre  der  Fremden  in  der  Hauptstadt  rief  neuerdings  tief- 
gehende Aufregung  hervor. 

Unter  solchen  Umständen  begegnete  die  am  16.  Juli  via 
Shanghai  verbreitete  Kunde  eines  vorgeblichen  Augenzeugen, 
dass  die  Fremden  in  Peking  thatsächlich  niedergemetzelt  worden 
seien,  nicht  mehr  einer  absolut  ablehnenden  Aufnahme ;  ja,  sie 
schien  glaubwürdig,  da  Scheng  Taotai,  einer  der  reichsten,  mit 
den  Fremden  in  reger  geschäftlicher  Verbindung  stehenden  Chi- 
nesen, persönlich  den  Consuln  die  betreffende  Mittheilung  über- 
bracht hatte. 

<,  24  Stunden  später  erfolgte  aber  durch  Scheng  selbst  der 
Widerruf;  in  solcher  Art  wechselten  über  die  in  Peking  Ein- 
geschlossenen die  widersprechendsten  Informationen,  so  dass 
schliesslich  in  der  zweiten  Hälfte  Juli  die  mehrfach  durch 
Yuanschikkai  übermittelten  Nachrichten  vom  Wohlbefinden  der 
Gesandten  auch  keinen  festen  Glauben  mehr  zu  erwecken  ver- 
mochten. Besonders  verdächtig  machte  solche  Mittheilungen  wohl  der 
nie  fehlende  Zusatz,  dass  die  Regierung  die  Gesandten  beschütze. 

»Zenta«  erhielt  am  15.  Juli  eine  Depesche  des  Marine-Com- 
mandos,  dass  die  Entsendung  von  österreichisch-ungarischen  Land- 
truppen nicht  beabsichtigt  sei. 

Nachdem  von  nun  an  fast  täglich  Transporte  eintrafen  und 
Truppen  landeten,  konnten  die  Kriegsschiffe  der  betreffenden 
Nationen  langsam  ihre  gelandeten  Contingente  reduciren,  was 
sich  umso  noth wendiger  erwies,  als  die  Ausschiffung  und  Ansland- 
setzung  der  Truppen  und  die  Nachschübe  an  Kriegsmaterial  und 
Proviant  ohne  das  Eingreifen  der  Schiffsbemannungen  nicht  recht- 
zeitig hätten  bewerkstelligt  werden  können. 

Das  Tientsiner  Detachement  von  »Zenta«  blieb,  da  es  an 
Bord  nicht  absolut  benöthigt  wurde,  am  Lande  und  sollte  am 
Vormarsche  gegen  Peking  theilnehmen;  beim  Angriffe  auf  die 
City  hatte  es  fünf  Verwundete,  darunter  einen  Schwerverwun- 
deten*) gehabt,  ausserdem  war  unter  den  Leuten  von  der  Seymour- 
Expedition  Dysenterie  stark  aufgetreten.  Für  diese  Abgänge 
leistete  das  Schiff  Ersatz  und  sandte,  von  dem  durch  Vice- Admiral 
Togo    übermittelten     grossherzigen    Anerbieten     des    japanischen 

*)  Sanitätsmatrose  Toso,  Schuss  durch  beide  Arme  und  den  Rumpf,  die  Leber 
durchbohrend;  erstaunlicherweise  aufgekommen,  doch  invalid. 


101 

Rothen  Kreuzes,  beziehungsweise  der  Regierung  Gebrauch 
machend,  den  Schwerverwundeten  und  einige  bedenklich  Erkrankte 
mit  dem  HospitalschifiFe  »Hakuai  Maru«  nach  Japan;  dort  fanden 
sie  theils  durch  Vermittlung  des  österreichisch-ungarischen  Con- 
sulates  in  Yokohama  in  dem  deutschen,  von  dem  hochverdienten 
Ober-Stabsarzt  Dr.  Koch  vortrefiFlich  geleiteten  Hospital,  theils 
durch  Vermittlung  des  französischen  Contre-Admirals  Courrejolles 
In  Hiroschima,  wo  unter  Leitung  des  Linienschiffs-Fähnrichs  Martini 
eine  französische  Reconvalescenten-Anstalt  eingerichtet  worden 
war,  die  aufmerksamste  Pflege. 

Ein  glücklicher  Umstand  war  es,  dass  in  den  Tientsiner 
Arsenalen  nach  der  Einnahme  grosse  Quantitäten  Mannlicher- 
Gewehre*)  und  zugehörige  Munition  gefunden  wurden,  so  dass  das 
Detachement  Indrak  sich  nicht  nur  selbst  reichlich  mit  Munition 
versehen,  sondern  auch  an  das  Schiff  einige  20.000  Patronen  ab- 
geben konnte. 

Die  Befehlshaber  der  internationalen  Flotte  waren  nunmehr 
in  die  Lage  versetzt,  dem  am  13.  Juli  von  den  Consuln  in  Shanghai 
erneuerten  Ansuchen  um  einige  Schiffe  stattzugeben  und  zur  Be- 
obachtung auch  einige  in  den  Yangtse  zu  entsenden,  was  nach 
dem  20.  Juli  geschah.  Consul  Pisko,  der  seit  der  Cernirung  Pekings 
auch  die  diplomatischen  Agenden  Oesterreich-Ungarns  in  China 
führte  und  mit  dem  der  provisorische  Schiffscommandant  in  regster 
Verbindung  stand,  hatte  ebenfalls  eine  Schutzwache  für  das  General- 
Consulat  in  Shanghai  gewünscht,  aber  beim  besten  Willen  konnte 
letzterer  keine  Leute  mehr  abgeben. 

Vice-Admiral  Seymour  begab  sich  am  23.  Juli  nach  Wusung. 
Zwar  hatten  sich  gleichzeitig  mit  dem  durch  die  rege  Bauthätig- 
keit  der  Chinesen  an  den  Wusung-Forts  motivirten  Ansuchen  der 
Shanghaier  Consuln  um  militärischen  Schutz  auch  Gerüchte  ver- 
breitet, dass  von  Nanking  8000  Mann  und  aus  Schantung  7000 
Mann  Yuanschikkai's  auf  dem  Wege  gegen  Tschili  seien,  doch 
stellte  es  sich  bald  heraus,  dass  diese  vagen  Informationen  jeden 
thatsächlichen  Hintergrundes  entbehrten. 

Die  Bahnverbindung  mit  Tientsin  war  seit  8.  Juli  bis  auf 
etwa  zehn  Kilometer  südlich  der  Stadt  selbst  —  bis  zum  sogenannten 
Railway-head,  seit  17.  Juli  aber  bis  in  die  Stadt  selbst  im  Betrieb; 
letzterer  verblieb  zufolge  Majoritätsbeschlusses  der  Admirals-Con- 
ferenz  den  Russen,  die  ja  auch  die  Wiederherstellung  besorgt  hatten. 
Am  23.  Juli  begann  die  Northern  Cable  Company  im  Auf- 
trage  der   internationalen  Befehlshaber   die  Legung   eines   Kabels 

*)  Zum  Theile  Steyrer,  zum  Theile  Tientsiner,  chinesisches  Fabrikat. 


102 

von  Tschifu  nach  Taku,  die  LinienschifiFs-Lieutenant  von  Kottowitz 
schon  im  Juni  in  Anregung  gebracht  hatte ;  das  Kabel  sollte  im 
Südfort  ans  Land  geführt  und  die  Legungskosten  gemeinsam  von 
den  alliirten  Mächten  getragen  werden,  am  8.  August  functionirte 
es  zum  erstenmale. 

Fast  gleichzeitig  mit  dem  Falle  Tientsins  war  Lihungtschang 
zum  Vicekonig  von  Tschili  ernannt  worden;  allgemein  sah  man 
dies  als  ein  Zeichen  an,  dass  die  massgebenden  Kreise  Chinas 
anfingen,  an  dem  erhofften  Erfolg  des  ganzen  gewaltsamen  An- 
schlages gegen  die  Fremden  zu  zweifeln  und  deshalb  die  Schlau- 
heit des  schon  zweimal  als  Retter  in  der  Noth  bewährten  Li 
ins  TreflFen  schicken  wollten.  Am  16.  Juli  erfuhr  man  seine  Abreise 
von  Canton  gegen  Norden;  die  Befehlshaber  beschlossen  eine 
Woche  später  in  vertraulicher  Sitzung,  ihn  einstweilen  keinesfalls 
landen  zu  lassen.  Dafür  sprachen  gewichtige  Gründe.  Offenbar 
sollte  Li  den  Unterhändler  spielen  ;  an  Negociationen  war  jedoch, 
so  lange  die  Gesandten  in  Peking  nicht  befreit  waren,  gar  nicht 
zu  denken,  ganz  abgesehen  von  der  Doppelträgerei  des  neu- 
ernannten Vicekönigs,  der,  mit  seinen  Sympathien  und  Interessen 
ganz  auf  Russlands  Seite  stehend,  nicht  versäumt  hätte,  die  Einig- 
keit der  operirenden  Mächte  durch  sein  bekannt  geschicktes 
Ränkespiel  zu  erschüttern. 

Um  endlich  über  die  Gesandten  Positives  zu  erfahren,  ent- 
schieden sich  die  Befehlshaber  auf  Antrag  des  provisorischen 
Commandanten  der  »Zenta«,  den  Gouverneur  von  Schantung  auf- 
zufordern, er  möge  zum  Beweise  seiner  oft  betheuerten  Loyalität 
gegen  die  Fremden  die  Zusendung  von  directen  Nachrichten  der 
Gesandten  an  die  commandirenden  Officiere  erwirken.  Als  Be- 
dingung wurde  gestellt,  dass  die  Nachrichten  die  eigenhändige 
Unterschrift  der  betreffenden  Gesandten  tragen  müssten,  gleich- 
zeitig aber  auch  zugestanden,  dass  die  fraglichen  Mittheilungen  in 
einer  den  chinesischen  Beamten  verständlichen  Sprache*)  abgefasst 
sein  dürften. 

Dieses  Verlangen  stellte  allerdings  die  Geschicklichkeit 
Yuanschikkai's  auf  eine  harte,  auf  den  ersten  Blick  fast  wie  un- 
bestehbar  aussehende  Probe ;  in  China  spinnen  sich  aber  noch  viel 
zahlreichere  unsichtbare  Fäden  zwischen  einflussreichen  Persönlich- 
keiten als  anderswo  und  ausserdem  konnten  die  Admirale  diesen 
Schritt  ganz  gut  unternehmen,  ohne  ihrer  Würde  etwas  zu  ver- 
geben, da  sie  ihre  Stellung,  nicht  als  Feinde  Chinas,  sondern  bloss 

*)  Unter  den  Beamten  des  Tsungli-Yamen  gab  es  stets  Interpreten  für  die 
deutsche,  englische,  franrösische,  italienische,  japanische  und  russische  Sprache. 


108 

als  Beschützer  ihrer  bedrohten  Connationalen  zu  handeln,  in  allen 
bisherigen  Noten  an  chinesische  Functionäre  und  in  der  Procla- 
mation  an  das  chinesische  Volk  sehr  geschickt  definirt  hatten. 
Yuanschikkai  bestand  die  Probe,  die  ihm  nach  seiner  Aussage 
durch  die  Feindseligkeiten  der  Boxer  in  Tschili  gegen  seine 
Couriere  noch  schwerer  gemacht  wurde ;  allerdings  liefen  die  Be- 
weise davon  erst  zu  einer  Zeit  ein,  wo  schon  sicherere  Nachrichten 
über  die  Gesandten  zur  Kenntniss  der  internationalen  Flotte  ge- 
drungen waren. 

Der  Vormarsch  von  Tientsin  auf  Peking  wurde  mit  allem 
Eifer  vorbereitet;  die  zahllosen  Schwierigkeiten,  Truppen  und 
Material  mit  den  unzureichenden  Mitteln  einer  einzigen,  eben  erst 
wieder  nothdürftig  in  Stand  gesetzten  Bahn  und  requirirten  Fluss- 
fahrzeugen vorzuschieben,  verzögerten  einerseits  das  Tempo  in 
den  materiellen  Vorbereitungen  bis  an  die  Grenze  der  Geduld, 
andererseits  konnten  sich  die  Generale  der  verschiedenen  Nationen, 
durch  die  ganz  unzuverlässigen,  meist  nur  gerüchtartigen  Nach- 
richten über  die  Bewegungen  und  Absichten  des  Gegners  irre- 
geführt, erst  nach  einiger  Zeit  ein  halbwegs  klares  Bild  der  Situa- 
tion machen.  Einestheils  schienen  ihnen  die  verfügbaren  Truppen 
und  namentlich  die  Transportmittel  der  Zahl  nach  ungenügend, 
andemtheils  wünschten  sie,  dass  man  abwarte,  bis  die  Zeit  des 
bisher  glücklicherweise  ohnedies  sehr  massig  gefallenen  Sommer- 
regens verstrichen  sei,  kurzum,  eine  Anfrage  der  Admirals-Con- 
ferenz  w^urde  damit  beantwortet,  dass  man  nicht  vor  dem  15.  August 
von  Tientsin  aufbrechen  können  werde. 

Als  daher  am  2ö.  Juli  an  Bord  der  »Zenta«  eine  vom  23. 
datirte  Depesche  des  Commandanten  der  »Maria  Theresia«  aus 
Singapore  mit  dem  Auftrage,  Informationen  nach  Hongkong  ent- 
gegenzuschicken, eintraf,  konnte  nur  der  15.  August  als  voraus- 
sichtlicher Termin  für  den  Beginn  des  Vormarsches  angegeben 
werden.  LinienschifiFs-Lieutenant  von  Kottowitz  fügte  seinem  Tele- 
gramm noch  bei,  dass  »Maria  Theresia«,  um  noch  rechtzeitig  ihr 
Detachement  ans  Land  zu  setzen,  längstens  am  11.  August  vor 
Taku  eintreflFen  und  schon  in  Hongkong  für  eine  entsprechende 
Anzahl  Tragthiere  Vorsorge  treffen  müsste,  deren  Beschaffung  in 
Tschili  gar  nicht  mehr  thunlich  und  in  Tschifu  nur  sehr  proble- 
matisch war.  Ueber  die  Situation  in  Peking  war  in  Taku  augen- 
blicklich ausser  ganz  und  gar  rückhaltslosen,  mitunter  recht  phanta- 
sievollen Gerüchten  —  z.  B.  der  Kaiser  sei  durch  Gift  gestorben, 
die  Kaiserin- Witwe  durch  Gift  irrsinnig  geworden  und  Prinz 
Tuan  habe  sich   zum   Kaiser    ausrufen    lassen   —    nichts    Anderes 


104 

bekannt,  als  dass  man  jeden  Tag  des  Schlimmsten  gewärtig*  sein 
müsse. 

Am  27.  Juli  erhielt  »Zenta«  die  telegraphische  Verständigung, 
dass  Contre-Admiral  Rudolf  Graf  Montecuccoli-Polinago  mit  den 
Kreuzern  »Kaiserin  Elisabeth«  und  »Aspern«  nach  Ostasien  abge- 
gangen sei. 

Vom  Tientsiner  Detachement  sollten,  vorausgesetzt,  dass  es 
gelinge,  die  nothwendigen  Tragthiere  zu  beschaffen,  60  Mann  am 
Vormarsche  theilnehmen  und  sich  einer  deutschen  Matrosencolonne 
von  200  Mann  unter  Capitän  zur  See  Pohl  anschliessen,  falls 
»Maria  Theresia«  nicht  früher  einträfe  und  der  Commandant 
letzteren  Schiffes,  Linienschififs-Capitän  Victor  Ritter  Bless  von 
Sambuchi,  keine  anderen  Befehle  zu  ertheilen  fände. 

Am  30.  Juli  endlich  wurden  auf  der  Rhede  authentische 
Nachrichten  aus  Peking  vom  21.  Juli,  und  zwar  von  einem  japani- 
schen Officier,  dem  deutschen  Geschäftsträger  und  dem  englischen 
Gesandten  herrührend,  bekannt;  diese  brachten  sehr  wichtige 
Details  über  die  noch  behauptete  Position  in  der  Stadt,  dass  die 
Munition  zur  Neige  gehe  und  der  Proviant  nur  mehr  für  14  Tage 
reichen  werde,*)  ferners,  dass  seit  17.  Juli  eine  Art  Waffenstill- 
stand herrsche,  chinesischerseits  vom  Prinzen  Tsching  »imd  An- 
deren« gefertigte  Briefe  an  die  Gesandten  eingelaufen  seien,  worin 
die  Minister  aufgefordert  wurden,  zuerst  ihre  Legationen  zu  ver- 
lassen und  sich  ins  Tsungli-Yamen  zu  begeben,  dann  aber  aus  Peking 
unter  chinesischer  Escorte  abzuziehen,  was  aber  abgelehnt  worden. 
Dem  Briefe  des  Japaners  entnahm  man  die  Anzahl  der  Todten 
und  Verwundeten  auf  Seite  der  Fremden,  62  und  112,  die  Stärke 
der  cemirenden  chinesischen  Truppen  3000 — 4000  Mann  nächst  den 
Legationen,  die  Besatzung  der  Thore  mit  circa  2000  Mann  und 
dass  in  Nanhaitse  circa  10.000,  bei  Tschang-tscha-wan  3500  bia 
4000  Mann  Chinesen  stünden,  endlich,  dass  der  Kaiser  und  die 
Kaiserin- Witwe  sich  in  Peking  befanden.  Der  englische  Minister 
schloss  seinen  Brief  mit  der  Aufforderung,  den  Entsatz  derart  zu 
beschleunigen,  dass  die  zurückweichenden  chinesischen  Truppen 
verhindert  würden,  sich  auf  die  Legationen  zu  stürzen. 

So  wenig  beruhigeiid  diese  Informationen  namentlich  hin- 
sichtlich Munition  und  Proviant  lauteten,  so  boten  sie  doch  vor 
Allem  die  (lewissheit,  dass  die  Fremden  in  Peking  allen  sie  todt- 
sagenden  Gerüchten  /um  Trotz  sich  noch  hielten,  denn  es  war 
nicht  anzunehmen,  liass  die  l^hinesen  in  der  Zwischenzeit  seit  Ab- 

•)  IVr  jai^uischc  i>lVuicr  j;iU>  an,  nur  mehr  3?»*»  l\itrv>nen  y>ei  Gewehr  tii  haben 
und  dass  Proviant  bloss  für  >cch>   lap?  erul^i^jt?» 


105 

gang  des  Briefes,  d.  i.  in  neun  Tagen  das  erreicht  haben  sollten, 
was  ihnen  vor  der  Aufnahme  von  Verhandlungen,  binnen  vier 
Wochen,  nicht  gelungen  war.  Jedenfalls  war  aber,  wenn  man  auch 
im  Stillen  hoffte,  es  stehe  um  Lebensmittel  und  Munition  doch 
besser  als  angegeben,  die  höchste  Eile  geboten. 

Am  1.  August  wurde  an  Bord  der  »Zenta«  der  Auszug  aus 
einem  Briefe  des  in  Peking  eingeschlossenen  Times -Corre- 
spondenten  Dr.  Morrison  an  den  Zolldirector  in  Tientsin  zuge- 
stellt; dieser  besagte  ohne  nähere  Angaben,  dass  das  österreichisch- 
ungarische Detachement  in  Peking  vier  Todte,  darunter  den 
Fregatten-Capitän  von  Thomann,  habe.  Die  Kunde  war  zu  traurig, 
um  ohne  anderweitige  Bestätigung  geglaubt  zu  werden;  eine  Um- 
frage bei  den  anderen  Nationen  ergab  ein  negatives  Resultat,  weil 
keine  derselben  Einzelnheiten  über  die  Verluste  des  »Zenta«- 
Detachements  besass  —  man  musste  sich,  so  schwer  es  auch  fiel, 
mit  dem  Gedanken  vertraut  machen,  dass  der  verehrte  Commandant 
nie  wieder  an  Bord  zurückkehren  werde! 

Am  darauffolgenden  Tage  lag  die  vollinhaltliche  Verlustliste 
<ier  Fremden  in  Peking,  wie  sie  Dr.  Morrison  mitgetheilt  hatte,  vor ; 
ein  Irrthum  war  leider  nicht  mehr  anzunehmen. 

Am  4.  August  kündigte  ein  von  »Maria  Theresia«  in  Hongkong 
drei  Tage  vorher  aufgegebenes  Telegramm  die  Ankunft  letzteren 
Schiffes  für  den  6.  August  abends  und  die  vom  englischen  Com- 
modore  Powell  zugesagte  Absendung  von  30  von  »Maria  Theresia« 
angekauften  Maulthieren  mit  einem  englischen  Transportdampfer 
^n;nach  einer  Mittheilung  des  Baron  Babö,  welcher  über  ergangenes 
Ersuchen  in  Tschifu  nach  Tragthieren  Umschau  gehalten  hatte,  waren 
^on  für  den  8.  August  12  Stück  verschiflFungsbereit  —  sonach  war 
Alles  wohl  vorbereitet,  um  das  von  »Maria  Theresia«  auszuschiffende 
und  das  Tientsiner  Detachement  von  »Zenta«  an  dem  für  den 
15.  August  angesetzten  Vormarsch  theilnehmen  zu  lassen. 

Inzwischen  hatten  sich  die  Generale  über  Andrängen  des  Com- 
mandirenden  der  japanischen  Expeditions- Armee,  General-Lieutenant 
Yamagutschi,  aber  entschlossen,  die  Chinesen  aus  ihrer  Stellung 
bei  Peitsang  zu  vertreiben  und  waren,  von  dem  Beispiel  der  Japaner 
mitgerissen,  mit  ihren  Truppen  zur  Verfolgung  der  zurück- 
weichenden Chinesen  und  damit  zum  Entsätze  Pekings  aufgebrochen. 

Dadurch  kamen  die  österreichisch-ungarischen  Marine-Mann- 
schaften um  die  so  heisserhoffte  Gelegenheit,  beim  Angriffe  auf 
die  chinesische  Hauptstadt  mitzukämpfen ! 

Am  7.  August  morgens  lief  »Kaiserin  und  Königin  Maria 
Theresia«    auf  der  Taku-Rhede  ein,    von    der  Bemannung  »Zentas« 


106 

mit  stürmischen  Hurrahs  begrüsst,  die  durch  mehr  als  zwei 
Monate  allein  die  Flagge  unter  den  schwierigsten  Umständen  mit 
Ehren  vertreten  hatte. 

»Maria  Theresia«  hatte  am  23.  Juni  morgens  Pola  verlassen 
und  mit  ganzer  Kraft  dampfend  die  reichlich  9000  Seemeilen 
messende  Strecke  nach  der  Peiho-Mündung  inclusive  der  unum- 
gänglich nothwendigen  Aufenthalte  zur  Ergänzung  der  Kohle  und 
Instandsetzung  der  Kessel  und  Maschinen  in  Port  Said,  Aden, 
Singapore  und  Hongkong  in  44 '/^  Tagen  zurückgelegt.  Aerger  als 
die  Beschwerden,  welche  die  Passage  des  Rothen  Meeres  und  die 
Durchquerung  des  Indischen  Oceans  zu  dieser  Jahreszeit  mit  sich 
brachten,  wo  der  den  schwersten  Seegang  erzeugende  Südwest- 
Monsun  in  seiner  vollen  Stärke  weht  und  denen  auch  ein  Heizer 
erlag,  war  der  anfangliche  Mangel  zuverlässiger  Nachrichten  über 
die  Schicksale  der  in  Tientsin  und  Peking  bedrängten  Kameraden 
und  späterhin  die  Sorge  empfunden  worden,  ob  es  trotz  aller  Eile 
noch  gelingen  werde,  zur  Theilnahme  am  Entsätze  Pekings  zurecht 
zu  kommen. 

In  Taku  eingetroffen,  übernahm  Linienschiffs-Capitän  Victor 
Ritter  Bless  von  Sambuchi  den  Befehl  über  beide  .Schiffe  und 
die  fernere  Vertretung  Oesterreich- Ungarns  im  internationalen 
Admiralsrathe. 


III.  Capitel. 


Ihii  öslerrcichisch-UDgaTiEchc  Delachemetil  ia  TienlsJn.  —  Belhciligung  an  der  Scymour- 
EippditiiiQ.  —  Kämpfe  in  und  um  Tientsin.  —  Erslürmuog  der  Cily.  —  Provisorische 
Rfgierung    in    TiintMn.     —    Vorbereitungen     zum    Vormarsch    auf   Peking.    —     Gefecht 


Das  aus  dem  Linienschiffs -Lieutenant  Johann  Indrak  als 
Commandanten,  den  Seecadetten  Edgar  Leschanowslcy,  Erich 
Prochaska  und  73  Mann  bestehende,  ursprünplich  zur  Verstärkung 
der  PekinjTpr  Le^^ationswache   bi'stimmtf    lletacht-ment    traf  nach 


einer  durch  schweren  Seegang  stark  verzögerten  Ueberfahrt  auf 
"Ittn  Schleppdampfer  -Peiho"  am  7.  Juni  gegen  9  Uhr  vormittags 
'"Tongku  und  kurz  nach  Mittag  mit  der  Eisenbahn  in  Tientsin  an. 
Nirgends  war  Auffälliges  bemerkt  worden,  erst  auf  dem 
ßalmhofe  in  Tientsin,  in  dessen  Nähe  Truppen  des  Generals  Nieh 


108 

ein  ausgedehntes  Zeltlager  bezogen  hatten,  erregte  ein  schier 
endloser  Zug  Kulis  einige  Aufmerksamkeit,  die,  aus  der  City 
kommend,  ganz  neue  Repetirgewehre  in  die  Chinesenstadt  am 
linken  Ufer  schleppten.  In  der  Station  selbst  harrten  75  Mann 
englische  Marine-Infanterie  des  Abganges  eines  Zuges,  mit  dem  sie 
gegen  Peking  befordert  werden  sollten  —  vergebliches  Warten, 
denn  der  Vicekönig  Yü-Lü  Hess  in  letzter  Stunde  sagen,  der  Zug 
dürfe  nicht  abgehen.  Das  Detachement  Indrak  erhielt  in  dem  der 
Firma  Mackenzie  &  Co.  gehörigen  Hause  im  englischen  Settle- 
ment  Quartiere  zugewiesen,  die  der  liebenswürdige  Tientsiner  Chef 
des  Hauses,  Herr  Osborne,  nach  besten  Kräften  wohnlich  ein- 
zurichten bestrebt  war. 

LinienschifFs-Lieutenant  Indrak  meldete  sich  seinen  Instruc- 
tionen gemäss  allsogleich  beim  ältesten  englischen  Officier  und 
stattete  dem  englischen  Consul  Carels  einen  Besuch  ab.  Ersterer 
machte  ihn  mit  den  bisher  getroffenen  Alarm-  und  Vertheidigungs- 
Dispositionen  bekannt,  wonach  dem  Detachement  der  »Zenta«,  da 
an  einen  Abgang  nach  Peking  vorderhand  nicht  zu  denken  sei, 
die  Ueberwachung  eines  Theiles  des  englischen  Settlements  bis 
an  den  Erdwall  und  auf  letzterem  die  Besetzung  eines  nahezu  einen 
Kilometer  langen   Stückes  westlich  vom  Race-course-Thore  zufiel. 

Noch  war  in  der  Stadt  selbst  Alles  ruhig,  wenngleich  die 
Boxer  sich  schon  in  der  nächsten  Umgebung  recht  ungenirt  be- 
merkbar machten.  Am  9.  Juni  um  9Vs  Uhr  abends  rief  der 
Doyen  des  Consular-Corps,  der  französische  Generalconsul  Comte  du 
Chaylard,  alle  seine  CoUegen  und  sämmtliche  Detachements- 
Commandanten  zu  einer  dringenden  Besprechung  zusammen.  Der 
britische  Consul  las  der  Versammlung  eine  eben  eingelangte 
Depesche  seiner  Gesandtschaft  in  Peking  vor,  in  welcher  diese  mit- 
theilte, dass  die  Situation  der  Fremden  eine  sehr  kritische  und 
schleunige  militärische  Hilfe  unumgänglich  noth wendig  sei;  Mr. 
Carels  schloss  seine  Mittheilung  mit  dem  Vorschlag,  am  nächsten 
Morgen  so  früh  als  möglich  Truppen  mit  der  Bahn  nach  Peking 
zu  entsenden,  und  stützte  sich  hiebei  auf  die  allerneuesten  Infor- 
mationen über  den  Zustand  der  Bahn. 

Eine  Recognoscirung  mittelst  Locomotive  bis  Yangtsun  hatte 
nämlich  ergeben,  dass  der  Bahnkörper  und  insbesondere  das 
wichtigste  Object,  die  grosse  Brücke  bei  der  genannten  Stadt  nur 
in  geringem  Masse  beschädigt  und  noch  vollkommen  befahrbar 
sei;  die  Recognoscirenden,  Mr.  Campbell  und  Lieutenant  Wright, 
hatten  in  Yangtsun  mit  General  Nieh  gesprochen  und  den  Eindruck 
gewonnen,  dass  dieser  sich  gefreut  habe.  Fremde  zu  sehen« 


109 

Resultat  bestärkte  Mr.  Carels  in  der  HoflFnung,  dass  auf  der  rest- 
lichen Strecke  —  allerdings  zwei  Drittel  der  ganzen  Linie  Tientsin — 
Polcing  —  auch  nicht  ärgere  Schäden  zu  beheben  sein  würden. 

Letzteres  bezweifelte  allerdings  der  Einberufer  der  Versamm- 
lung und  Oberst  Wogack  wie  der  deutsche  Consul  Zimmermann 
stiiiimten  ihm  bei;  auch  wurde  der  Ansicht  Ausdruck  gegeben, 
dass  Sir  Claude  Macdonald  die  Lage  der  Gesandtschaften  in  Peking 
vielleicht  doch  zu  schwarz  geschildert  habe,  denn  sonst  hätte  ja 
doch  zumindest  noch  einer  seiner  Collegen  eine  ähnliche  Mittheilung 
ab>^esendet. 

Nach  einiger  Discussion  wurde  beschlossen,  dass  Amerikaner, 
Engländer,  Italiener,  Japaner  und  Oesterreicher-Ungarn  doch  am 
kommenden  Morgen  Verstärkungen  für  die  Legationswachen  nach 
Peking  senden  sollten,  und  Comte  du  Chaylard  erwirkte  noch  in 
derselben  Nacht  auf  telephonischem  Wege  beim  Vicekönig  Yü-Lü 
dio   Beistellung  eines  Zuges  für  5  Uhr  früh  des   10.  Juni. 

Yü-Lü  mag  sich  dabei  wohl  ins  Fäustchen  gelacht  haben, 
denn  er  wusste  gewiss  Zutreffenderes  über  den  Zustand  der  Bahn 
uixci  vorderhand  passte  es  noch  vollkommen  in  sein  Spiel,  sich  den 
Fromden  anscheinend  zuvorkommend  zeigen  zu  können. 

Die     Commandanten     der     Detachements     der     aufgezählten 
Nationen  beriethen    hierauf  noch  das  Nähere  über  die  Stärke  der 
in  Marsch  zu  setzenden  Abtheilungen ;    da   es   ausgeschlossen    war, 
sich  noch  rechtzeitig  mit  den  Befehlshabern  vor  Taku  über  diesen 
Punkt  verständigen    zu   können,   so  sollten,    um  in  Tientsin   selbst 
eine  genügende  Garnison   zurückzulassen,  nur  kleinere  Theile   der 
an  Ort    und  Stelle    verfügbaren  Truppen    nach    Peking    abgehen, 
vom  österreichisch-ungarischen  Detachement   25  Mann   unter  See- 
cadet  Erich  Prochaska.  Dieser  Abtheilung    schloss  sich   der   eben 
aus  Shanghai  angekommene  Consulatssecretär,  Herr  Vincenz  Gott- 
wald,   an,    welcher    hoffte,     auf  diese    Weise    auf   seinen     neuen 
Dienstesposten  bei  der  österreichisch-ungarischen  Gesandtschaft  zu 
gelangen. 

Zur  vereinbarten  Stunde  standen  am  10.  Juni  die  für  Peking 
bestimmten  Detachements  am  Bahnhofe  bereit.  Dort  war  inzwischen 
ein  Zug  mit  englischen  Truppen  aus  Tongku  angekommen,  in  den 
^e  Leute  der  »Zenta«  einwaggonirt  wurden ;  ein  weiterer  Zug  war 
in  Tientsin  selbst  zusammengestellt  worden. 

Mittlerweile  war  Vice- Admiral  Seymour  selbst  auch  von  Tongku 
eingetroffen  und  hatte  dem  Consular-Corps  und  den  Officieren  er- 
klart, selbst  die  Führung  der  Colonne  zu  übernehmen.  Gegen 
9*/t  Uhr  morgens   ging   der   erste,   von  Amerikanern,  Engländern, 


110 

Italienern  und  dem  Detachement  Prochaska  besetzte  Zug,  bald 
darauf  der  zweite  mit  Engländern,  Franzosen  und  Japanern  ab; 
die  telegraphische  Mittheilung  davon  nach  Peking  war  die  letzte 
auf  dieser  Linie  beforderte. 

Die  Verspätung  im  Abgange  war  dadurch  verursacht  worden, 
dass  Bahnarbeiter,  fast  durchwegs  Südchinesen,  Werkzeuge  und 
Material,  namentlich  Schw^ellen  und  Schienen,  erst  hatten  ge- 
sammelt werden  müssen. 

Der  als  erster  abgegangene  Zug  setzte  sich  in  folgender 
Weise  zusammen:  Vor  der  Locomotive  war  ein  Lowry  mit  einem 
englischen  Feldgeschütz  und  zwei  Maschinengewehren  angekuppelt, 
auf  der  Locomotive  standen  neben  dem  chinesischen  Bedienungs- 
personal Posten,  hinter  ihr  folgten  zehn  offene  Wagen  mit  Arbeitern, 
Kohle  und  Baumaterial,  dann  endlich  eine  Anzahl  von  Wagen 
aller  Art  für  die  Truppen  selbst,  von  denen  einige  Leute  auch 
auf  die  Materialwagen  vertheilt  waren. 

Die  AusrüvStung  der  Truppen  war  sehr  ungleichmässig,  wie 
sie  eben  in  der  Eile  hatte  mitgegeben  werden  können ;  an  Munition 
führten  sie  angeblich  zwischen  80 — 300*)  Patronen  per  Gewehr  mit 
sich,  die  Proviantvorräthe  waren  ursprünglich  nur  für  eine  ganz 
kurze  Fahrt  —  zwei  Tage  —  bemessen  worden,  konnten  jedoch 
glücklicherweise  noch  in  den  zwei  folgenden  Tagen  durch  Nach- 
schub aus  Tientsin  für  sieben  Tage  erhöht  werden.  Das  kleine 
Detachement  »Zenta's«  hatte  zwar  aus  seinem  Cantonnement  auch 
nicht  mehr  Lebensmittel  als  für  zwei  Tage  mitgenommen,  doch 
war  ein  Nachschub  von  21  Kisten  mit  dem  Zug  aus  Tongku  mit- 
gekommen, so  dass  es  durch  eine  spätere,  auf  drei  Tage  berechnete 
Sendung  im  Stande  war,  in  der  Folge  gerade  in  einer  kritischen 
Lage  Abtheilungen  anderer  Nationen,  die  schon  auf  halbe 
Rationen  beschränkt  waren,  auszuhelfen. 

Am  Nachmittage  des  10.  Juni  sollte  ein  deutsches  Landungs- 
Corps,  400  Mann  unter  Capitän  zur  See  von  Usedom,  verstärkt 
durch  einen  Theil  der  Garnison  von  Tientsin,  folgen;  der  Vice- 
könig  machte  wegen  des  erforderlichen  Zuges  Schwierigkeiten, 
so  dass  der  Abgang  erst  erfolgte,  nachdem  Gewalt  angedroht 
worden  und  sicherheitshalber  Maschinen  -  Unterofficiere  die  Be- 
dienung der  Locomotiven  übernommen  hatten. 

Ein  vierter  Zug  mit  Franzosen  unter  Linienschiffs- Capitän  de 
MaroUes  und  Russen  kam  noch  später  tagsdarauf  nach  und  er- 
reichte die  früheren  erst  bei  Lofa.    Die  ganze    seither   unter  dem 

*)  Engländer  und  Italiener  sollen  am  wenigsten  Munition  gehabt  haben,  bei  den 
Engländern  auch  die  Dotation  der  einzelnen  Abtheilungen  verschieden 


JJamenSeymour-Expedition  bekannte  Colonne  bestand  schlie^ich, 
dieOfBctere  eingerechnet,  aus  2067*)  Mann,  die  sich  wie  folgt  auf 
die  eintelnen  Nationen  vertheilten:  Amerikaner  112,  Deutsche  450, 
Ei^länder  915,  Franzosen  150,  Italiener  40,  Japaner  54,  Oesterreicher- 
ÜDgam  26  und  Russen  312  Mann.  Feldgeschütze  führten  die 
Amerikaner  eines,  die  Engländer  zwei,  die  Franzosen  eines  und 
die  Russen  zwei  mit,  ausserdem  standen  noch  mehrere  Maschinen- 
gewehre zur  Verfügung.  Ausser  den  aufgezählten  Combattanten 
befanden  sich  noch  einige  Europäer  aus  Tientsin  als  Dolmetscher 
und  bahntechnische  Berather  in  der  Expedition,  endlich  auch 
emige  verlässliche  Chinesen  als  Diener  und  Boten. 

Wie  schon  an  früherer  Stelle  ausgeführt,  hatte  Vice-Admiral 
Seymour  den  Oberbefehl  übernommen,  zur  Fassung  wichtiger  Ent- 
schlösse berief  er  jedoch  stets  die  commandirenden  Officiere  aller 
Nationen;  in  jedem  der  vier  Züge  fungirte  der  älteste  Officier  als 
Commandant,  dem  zur  Verständigung  mit  dem  Leiter  der  Expe- 
'litinn  englische  Signalmannschaft  beigegeben  wurde. 

Der  Anfang  der  Fahrt  schien  die  sanguinischen  Hoffnungen, 
rait  denen  der  Zug  zur  Befreiung  der  bedrohten  Gesandtschaften 
unternommen  worden,  zu  rechtfertigen;  bis  Yangtsun  verlief  sie 
glatt.  In  dessen  Nähe  sah  man  die  Truppen  Nieh's  noch  immer 
lagern,  dann  erst  zeigten  sich  die  Spuren  von  Versuchen  der 
Boxer,  den  Schienenweg  unbrauchbar  zu  machen.  Immer  häufiger 
fand  man  halbverkohlte  Schwellen,  deren  freigelegte  Enden  mit 
■Stroh  umwickelt  und  angezündet  worden  waren;  bald  aber  traf 
tnan  auf  Stellen,  wo  einzelne  Schienen  weggerissen  und  wegge- 
whleppt  waren  —  an  den  Spuren  erkannte  man,  dass  die  Boxer 
mit  den  primitivsten  Mitteln  ans  Zerstörungswerk  gegangen  waren, 
die  Schraubenköpfe  an  den  Verbindungsstellen  hatten  sie  mit 
Steinen  weggeschlagen.  Von  den  zur  Bahn  gehörigen  Telegraphen- 
leitungen war  bald  hinter  Yangtsun  nichts  mehr  zu  sehen,  die 
Stations-  und  Wächterhäuschen  lagen  in  Trümmern  und  Asche; 
widlich  circa  5  Kilometer  von  Lofa  musste  gehalten  werden,  da 
eine  kleine  Brücke  abgebrochen  war. 

An  dieser  Stelle  musste  wirklich  ein  Zusammenstoss  von 
chüiesischen  Truppen  mit  Boxern  stattgefunden  haben,  denn  man 
&md  unter  der  Brücke  neben  vier  Leichen  ausgeschossene  Patronen 
kleincalibriger  Gewehre.  Dort  blieben  die  beiden  ersten  und  auch 
dtT  dritte  um  7  Uhr  abends  eingetroffene  Zug  mit  den  Deutschen 


*)  Diese  ZaLIei 
ndtrts  Quellen  vuÜi 
ik  latlüchc  Angabc. 


iind  den    oriiuiellcn  Dcpcwben 
di«  Totftblärkc  der  Coloniie  n 


Sir  Edwards  enlnommca ;   n-ich 
ir   unbedeutcDtl  (RO  M^innl  gvgcD 


über  Nacht.  Vorgesendete  Recognoscirung-spatrouillen  fanden  dti 
nächstliegenden  Dörfer  fast  ganz  verlassen,  in  einigen  als  traurigi 
Spuren  verübter  Gewaltthaten  niedergebrannte  Häuser  und  ver 
stümnielte  Leichen  von  Chinesen  jeden  Alters  und  Geschlechts 
am  Bahnkörper  selbst  konnten  zwar  zahlreiche  Beschädigungen 
jedoch  nicht  sehr  bedenklicher  Natur  constatirt  werden. 

Die  Nacht  verlief  ruhig:  um  10  Uhr  abends  war  zwar  bei  deir 
italienischen  Posten  ein  Schuss  gefallen,  doch  ergab  die  darau) 
unternommene  Streifung  des  österreichisch -ungarischen  Detach&i 
ments  und  einer  englischen  Abtheilung  ein  negatives  Resultat. 

Am  11.  Juni   morgens   konnte   die   Fahrt   fortgesetzt   werdeS 
und  fand  man  den  Wasserthurm  in  Lofa  glücklicherweise  noch  i 
weit  erhalten,  um  die  Locomotiven  zu  speisen. 

Der  eine  Fahrtag  hatte  aber  schon  hingereicht,  um  erkennen 
zu  lassen,  dass  man  nur  dann  hoffen  konnte,  die  Bahn  reparireni 
das  Ziel  zu  erreichen,  wenn  die  Herbei  Schaffung  von  Material  un<! 
Proviant  von  dem  im  Rücken  liegenden  Tientsin  fortdauernd  ge 
sichert  war;  aus  diesem  Grunde  wurde  in  Lofa  eine  kleine  ile 
Satzung  von  60  Engländern  zurückgelassen. 

Den  ganzen  Tag  des  11.  Juni  brauchte  man.  um  die  kurze 
Strecke  bis  nach  Langfang  continuirlich  nachbessernd  zurück' 
zulegen;  die  Truppen  selbst  wurden  während  der  längeren  i 
freiwilligen  Haltepausen  zur  Arbeit  und  zur  Recognoscirung  \er< 
wendet,    so   dass  sie   bald    nicht    mehr   über    Unthatigkeit    klaget 

konnten,  wohl  aber  einen  Vorgeschmach 

^^^^^k  von   den    Beschwerden    erhielten,    die 

^^^^^^^^  ihnen     bevorstanden,    wenn     man    g» 

^^^^H^l  zwungen  würde,  den  Fussmarsch  durcli 

^^^^^^H  das  sandige  Land  unter  der  gtühendeq 

^^^^^^V  Sonnenhitze  aufzunehmen. 

.^^EK^  Um  6  Uhr  abends,  etwa  drei  eng! 

^^^^^^^^^^^^  tische  Meilen  (4'8  Kilometer)  von  Lang- 

^^^^^^^^^^^^^K^^^      fang,  erfolgte  der  erste  Zusammenstoß 

^^^^^^^^^^^^^^^^^B  Boxern    —  beide  Theile   i 

^^^^^^^^^^^^^^^^^W       Episode  spannender  Neuheit. 

^^^^^^^^^^^^^^^  Man  hatte  die  Bande  schon  auf  eini 

^^^^^^^^^^  gute  Distanz  vor  dem  erstt^n  Zuge  e 

SHcad»  Erich  iTocbssiii  deckt,  als  sic  scheiubar  noch  mit  den 

Zerstörungswerk  beschäftigt  i 

kleine  vorausgeschickte  Arbeitspartie  musste  sich  vor  ihr  zurück 

ziehen,    doch  rückte    gleich  die  Besatzung  des  ersten  Zuges,  üi 

runter  auch  die  Leute  der  ■Zcnta«.  aus  und  vertrieb  die  POn^ 


anstürmenden,  nur  mit  Speeren  und  sctnvertartigen  Messern  be- 
waffneten Boxer  mit  einigen  Salven.  Ihrer  20,  nach  englischen 
Berichten  35,  bezahlten  den  Glauben  an  ihre  Unverwundbarkeit 
mit  dem  Leben  oder  mit  schweren  Wunden,  der  Rest  lief,  was  er 
nur  konnte.  Das  Bild  dieser  an  ihren  rothen  Turbanen,  Schärpen 
und  Fähnchen  weithin  kenntlichen  Leute,  wie  sie  mit  gänzlicher 
Todesverachtung  gegen  die  feuernden  Truppen  vorgingen,  um 
an  ihnen  die  Schärfe  ihrer  plumpen  Waffen  zu  versuchen,  soll 
den  Eindruck  des  Kindisch-Unverständigen  gemacht  haben  — 
immerhin  zeigte  aber  der  Vorfall,  wie  fanatisch  jeder  Einzelne 
von  seiner  ihm  vorgespiegelten  heiligen  Aufgabe  und  der  Ueber- 
leugung  der  Unverwundbarkeit  erfüllt  war.  Unter  den  noch  lebend 
gefundenen,  später  nach  Tientsin  zurückgeschickten  Boxern  zählte 
der  Aelteste  nicht  mehr  als  19,  zwei  andere  höchstens  ir>  Jahre, 
jedenfalls  ein  Beweis,  dass  die  Jugend  Chinas  der  Begeisterung 
flhijf  ist! 

An  der  Stelle,  wo  dieses  kleine  Scharmützel  sich  abgespielt, 
waren  Schienen  und  Schwellen  auf  eine  Länge  von  etwa  500  Metern 
«egperissen  worden,  so  dass  die  ganze  Nacht  verging,  übrigens 
weiter  ungestört,  bis  die  Strecke  fahrbar  gemacht  war. 

Am  V2.  Juni  mittags  erreichten  die  vier  Züge  die  gänzlich 
verwüstete  Station  Langfang:  nicht  nur  die  Stationsgebäude, 
«ondem.  was  weit  schlimmer,  auch  der  Wa,sserthurm  wurden  voll- 
«ändig  zerstört  gefunden  und  die  weitere  Strecke  gegen  die  nächste 
Station  Anting  befand  sich  in  einem  derartigen  Zustande,  dass 
tnan  auf  den  ersten  Blick  die  Noth wendigkeit  tagelanger  Arbeit 
«rkannte.  Die  Bahn  musste  eben  fast  ganz  neu  gebaut  werden, 
denn  die  Schienen  waren  verschwunden,  wahrscheinlich  weg- 
ffwchleppt  worden,  um  als  Material  zur  Anfertigung  von  Waffen 
iU  dienen.  Zudem  sprachen  mancherlei  Anzeichen  dafür,  dass  das 
ierstörungswerk  zum  Theil  allerjüngsten  Datums  und  die  Horde 
der  Verwüster  somit  gar  nicht  weit  den  Zügen  voraus  am  Werke 
»ein  müsse.  Man  musste  sich  daher  in  Langfang  auf  einen  längeren 
Aufenthalt  einrichten,  wobei  das  Vorhandensein  eines  ergiebigen 
Brunnens  sehr  zu  Statten  kam.  Die  Aufspeisung  der  Locomotiven 
(lesialtete  sich  aber  sehr  mühsam  und  zeitraubend,  da  das  Wasser 
"lit  Eimern  zugetragen  werden  musste.  .\ls  eigentliche  Stations- 
•»salzung  wurde  eine  deutsche  Abtheilung  vom  Kreuüer  »Gefion" 
bestlnunt.  die  den  von  ihr  zur  Vertheidigung  eingerichteten 
Ruinen  den  stolzen  Namen   »Fort  Gefion*  beilegte. 

Von  hier  aus  ging  ein  chinesischer  Bote  mit  kurzen  Nach- 
rtchten  von  jeder  Nation  an  ihren  Minister  in  Peking  ab.  dem  es. 

«ismk^ldnt  Kampfr  In  China.  8 


114 

den  nur  45  Kilometer  langen  Weg  quer  durchs  Gelände  benützend, 
glückte,  am  13.  Juni  nachmittags  die  Stadt  zu  erreichen. 

Vice-Admiral  Seymour  entsendete  noch  am  Abend  des  12. 
eine  46  Mann  starke  Abtheilung  englischer  Matrosen  gegen  An- 
ting,  um  womöglich  das  dortige  Stationsgebäude  zu  besetzen,  und 
Patrouillen  aller  Nationen  durchstreiften  die  Gegend  beiderseits 
der  Bahnlinie. 

Das  vorgeschobene  englische  Detachement  erreichte  Anting 
nicht  mehr,  sondern  musste  sich  nach  Besetzung  eines  an  der 
vStrecke  liegenden  Dorfes  gegen  mehrmalige  Angriffe  von  Boxern 
vertheidigen,  bis  es  beinahe  total  verschossen  am  13.  nachmittags 
wegen  Munitionsmangel  wieder  in  Langfang  einrückte. 

Ebenso  erfolglos  endete  die  Aussendung  eines  zweiten, 
stärkeren  Detachements,  das  nach  einem  Zusammenstosse  mit 
Boxern,    der  letzteren  wohl  erhebliche  Verluste  kostete,    noch  am 

13.  abends  sich  auf  die  Züge  zurückziehen  musste. 

Die  nächste  Umgebung  von.  Langfang  selbst  wurde  ganz 
verlassen  gefunden  und  suchten  nunmehr  die  Truppen,  die  mit 
ihren  Lebensmitteln  sehr  haushalten  mussten,  durch  Fouragirung 
etwas  aufzubringen,  während  an  der  Reparatur  der  Strecke  ge- 
arbeitet wurde. 

Durch  die  Oede  der  Ortschaften  zu  vertrauensselig  gemacht, 
dehnten  die  kleinen  Fourage-Commandos  ihre  Streifungen  weiter 
aus;     eine  aus  sechs  Mann  bestehende    italienische  Partie  war  am 

14.  Juni  morgens  in  ein  circa  vier  Kilometer  entferntes  Dorf  ge- 
zogen, stiess  dort  ganz  unerwartet  auf  einige  hundert  Boxer  und 
wurde  auf  dem  Rückzuge  zu  den  Waggons  fast  aufgerieben ;  nur 
ein  einziger  konnte  sich  retten.  Durch  diesen  Erfolg  ermuthigt, 
griffen  die  Boxer  die  Züge  an ;  von  einem  Weiler  gedeckt,  wurden 
sie  erst  im  letzten  Augenblicke  von  den  Zügen  aus  entdeckt  und 
durch  Schnellfeuer  der  Oester reicher- Ungarn  und  Engländer  mit 
einem  Verlust  von  100  Todten  wieder  verjagt.  Diese  Vergeltung 
konnte  allerdings  als  keine  voUwerthige  gegenüber  dem  traurigen 
Schicksal  der  fünf  Italiener  angesehen  werden,  deren  halbzerstückte 
Leichen  sogleich  geborgen  und  tagsdarauf  bestattet  wurden. 

Noch  am  Nachmittage  des  14.  Juni  wurden  vor  und  hinter 
Langfang  starke  Boxerbanden  gemeldet.  Ein  Theil  des  ersten 
Zuges  fuhr  vor  und  zersprengte  durch  einige  Schüsse  aus  einem 
Feldgeschütz  und  aus  den  Maschinengewehren  den  Gegner.  In 
Lofa,  wohin  sich  Vice-Admiral  Seymour  selbst  auf  die  um  5*/i  Uhr 
durch  eine  Draisine  überbrachte  Meldung  vom  Heranmarsche 
grösserer  Boxermassen    mit   dem    zweiten  Zuge    begab,    war    der 


115 

HauptangriflF  schon  vorüber  und  beschleunigte  das  Feuer  des  ein- 
laufenden Trains  nur  mehr  die  Flucht  der  ursprünglich  auf  2000 
Mann  geschätzten  Angreifer;  die  Besatzung  von  Lofa  hatte  einen 
Schwer-  und  einen  Leichtverwundeten,  dagegen  waren  an  hundert 
Boxer  getödtet  worden. 

Am  15.  Juni  blieben  die  Züge  noch  immer  in  Langfang  und 
wurde  die  Ausbesserung  der  Strecke  gegen  Anting  fortgesetzt; 
ein  über  Lofa  nach  rückwärts  entsendeter  Zug  brachte  gegen 
Abend  die  wenig  erfreuliche  Nachricht,  dass  im  Rücken  der  Ex- 
pedition die  Bahnstrecke  neuerdings  zerstört  worden;  gleichzeitig 
kam  auch  eine  Meldung,  dass  von  Lofa  aus  drei  grössere  Haufen 
Boxer  gesehen  worden  waren,  die  sich  gegen  Yangtsun  an- 
scheinend auch  mit  der  Absicht  bewegten,  sich  an  der  Wieder- 
zerstörung zu  betheiligen. 

Aus  Peking  kam  ein  Läufer  mit  Briefen,  die  nicht  nur  die 
dortige  Situation  als  sehr  gefährlich  bezeichneten,  sondern  auch 
die  Anwesenheit  zahlenmässig  zwar  nicht  bekannter  chinesischer 
Truppen    im  Räume    zwischen  der  Stadt  und  Langfang  anzeigten. 

Die  Lage  wurde  sohin  für  die  Expedition  selbst  kritisch. 

Am  16.  Juni  um  4  Uhr  früh  ging  ein  Zug  mit  dem  Auftrage 
ab,  den  Durchbruch  nach  Tientsin  zu  versuchen,  kehrte  jedoch  um 
3  Uhr  nachmittags  zurück,  da  die  Zerstörungen  hinter  Lofa  so 
arg  befunden  worden  waren,  dass  sie  mit  den  Mitteln,  über  die 
dieser  Zug  verfügte,  nicht  gutgemacht  werden  konnten. 

Vice-Admiral  Seymour,  der  inzw^ischen  schon  mehrere  ver- 
gebliche Versuche,  sich  mit  Tientsin  durch  chinesische  Couriere 
in  Verbindung  zu  setzen,  gemacht  hatte,  brach  nach  Erhalt  der 
Nachricht  mit  dem  einen  Zuge,  in  dem  sich  das  österreichisch- 
ungarische Detachement  befand,  gegen  Yangtsun  auf,  um  sich 
durch  Augenschein  zu  informiren.  Zwei  Züge  blieben  über  Nacht 
noch  in  Langfang,  einer  in  Lofa,  so  dass  das  Commando  in 
ersterem  Orte  nun  an  den  deutschen  Capitän  zur  See  von 
Usedom  fiel. 

Am  16.  abends  war  man  sich  schon  klar,  dass  es  kaum  mehr 
möglich  sein  werde,  Peking  auf  der  bisherigen  Route  zu  erreichen ; 
die  Arbeiten  gingen  zu  langsam  von  Statten,  als  dass  die  ohne- 
dies beschränkten  Vorräthe  an  Eisenbahnmaterial,  Proviant  und 
speciell  Munition  erlaubt  hätten,  sich  noch  länger  mit  diesem  Ver- 
suche aufzuhalten.  Bestenfalls  wäre  man  bis  Anting  gekommen^ 
aber  von  dort  zu  Fuss  weiter  zu  marschiren,  war  selbst  unter 
der  allergünstigsten  Annahme,  dass  die  Chinesen  einen  Angriff 
unterlassen  würden,    nicht   mehr   zu   wagen,    da   die  Colonne  gar 

8* 


116 

keine  Mittel  zur  Fortschaffung  ihrer  Geschütze  und  Vorräthe  besass. 
Endlich  war  die  Verbindung  mit  der  Operationsbasis  Tientsin  voll- 
ständig abgeschnitten,  wie  Sir  Edward  beim  Eintreffen  vor  Yangtsun 
am  17.  gegen  Mittag  constatirte  —  so  lange  hatte  man,  durch  die 
Reparaturen  der  Strecke  hinter  Lofa  aufgehalten,  gebraucht,  um 
die  Distanz  von  nicht  ganz  38  Kilometern  zurückzulegen. 

Bis  zum  13.  Juni  hatte  man  von  Tientsin  aus  noch  Pro- 
viant- und  Patrouillenzüge  dem  Expeditions-Corps  nachschieben 
können;  ein  Zug  mit  Kulis,  Schienen  und  Schwellen,  der  nur  eine 
schwache  Bedeckung  von  14  Mann  hatte,  konnte  weder  am  14. 
noch  am  15.  Juni  Lofa  erreichen,  musste  am  Nachmittag  letzteren 
Tages  hinter  Yangtsun  eilends  umkehren  und  passirte  noch  mit 
genauer  Noth  die  grosse  Brücke,  deren  Schwellen  schon  lichter- 
loh brannten.*) 

Vice-Admiral  Seymour  hatte  sich  angesichts  der  Sachlage 
mit  dem  Gedanken  getragen,  den  Plan,  auf  der  Eisenbahnlinie 
nach  Peking  zu  gelangen,  aufzugeben  und  nach  Heranziehung 
von  Vorräthen,  wenn  nicht  Truppenverstärkungen  aus  Tientsin, 
den  Vormarsch  auf  der  Strasse  längs  des  Peiho  zu  versuchen, 
während  man  die  Impedimenta  mit  Dschunken  auf  dem  Flusse 
vorwärts  schaffen  würde  ;  dazu  musste  sich  aber  die  ganze  Colonne 
nach  Yangtsun  zurückziehen,  wo  man  Fahrzeuge  und  Lebensmittel 
requiriren  zu  können  hoffte.  Die  Strecke  vor,  die  Stationsgebäude 
und  der  Wasserthurm  von  Yangtsun  waren  total  zerstört,  so  dass 
der  Zug  ausserhalb  der  Stadt  stehen  bleiben  musste.  Ein  Versuch, 
durch  Verhandlungen  mit  den  wenigen  noch  in  letzterem  Orte 
zurückgebliebenen  Einwohnern  Lebensmittel  zu  erhalten,  scheiterte 
daran,  dass  sie  ihr  Versprechen,  welche  zu  liefern,  wahrscheinlich 
aus  Furcht  vor  den  Boxern,  nicht  hielten ;  ebenso  erfolglos  blieb 
die  wieder  mit  chinesischen  Boten  nach  Tientsin  geschickte  Auf- 
forderung, dem  Expeditions-Corps  Dschunken  mit  Proviant  und 
Munition  nach  Yangtsun  zu  schicken,  die  Boten  kamen  gar  nicht 
mehr  in  die  zu  dieser  Zeit  schon  arg  bedrängte  Stadt. 

Am  17.  nachmittags  sandte  Sir  Edward  Botschaften  an  die 
in  Lofa  und  Langfang  verbliebenen  Züge  zurück ;  deren  Comman- 
danten  sollten  nach  eigenem  Ermessen  handeln,  das  heisst  zurück- 
kehren, wenn  sich  die  Lage  so  verschlechtert  hätte,  dass  jede 
Aussicht  auf  ein  Vorwärtskommen  mit  der  Bahn  verloren  war 
und  die  einzelnen  Züge  in  Gefahr  kämen,  von  einander  getrennt 
und  einzeln  übermächtig  angegriffen  zu  werden. 

*)  Siehe  das  deutsche  Werk  »Unsere  Marine  in  China«,  Bericht  des  Lienffnmntl 
zur  See  Wolf. 


111 


:hinittags 
,  Usedom 


Zuerst  kam  der  Zug  von  Lofa  am  IH.  Juni  na 
zurück,  am  Abend  folgten  die  beiden  von  Capitän  zur  See  % 
befehligten  Trains  aus  Langfang. 

Die  in  der  Botschaft  des  Führers  der  ganzen  Expedition 
erwähnte  Eventualität  war  nur  zu  rasch  eingetreten  und  hatte 
auMPrdeni  noch  die  viel  wichtigere  Thatsache  gebracht,  dass  die 
chinesische  Regierung  bereits  offen  die  Sache  der  Boxer  zur 
ihrigen  gemacht. 

Am  ly.  Juni.  2  Uhr  nachmittags,  waren  die  beiden  Züge  in 
Langfang  durch  Boxer  und  repruläres  chinesisches  Militär,  darunter 
auch  Cavallerie.  im  Ganzen  ungetahr  öOOO  Mann,  überfallen  worden  ; 
fwar  war  e&  gelungen,  den  Angriff  mit  einem  eigenen  Verluste 
von  tiTodten  und  51  Verwundeten  abzuschlagen  und  dem  flüchten- 
<ien  Gegner  beträchtliche,  auf  mehrere  Hunderte  von  Todten  ge- 
stützte Verluste  zuzufügen,  doch  bestand  nun  kein  Zweifel  mehr, 
ilass  63  Wahnwitz  wäre,  ein  gewaltsames  Vordringen  gegen 
Peking  zu  versuchen.  Besonders  war  es  aufgefallen,  dass  die  Boxer 
nicht  mehr  bloss  mit  ihren  «elbstangefertigten  primitiven  Waffen 
M  dem  Gefechte  theilgenommen  hatten,  sondern  vielmehr  grössten- 
thdls  mit  modernen  Gewehren  in  den  Kampf  eingetreten  waren. 
Das  Hauptverdienst  an  dem  glücklichen  Ausgange  des  Gefechtes 
gebührt  den  deutschen  Matrosen-Compagnien,  die  unter  Capitän 
'w  See  von  Usedom's*)  Führung  schliesslich  die  Stellung  des 
Feindes  stürmten  und  dadurch  die  F.ngländer,  welche  sich  auf  die 
Vertheidigung  der  Züge  beschränken  wollten,  mit  sich  rissen. 
Wie  knapp  es  aber  mit  der  Munition  bestellt  war,  zeigt  die  von 
UiMitschen  angegebene  Thalsache,  dass  sich  eine  Compagnie  im 
Laufe  des  Gefechtes  gänzlich  verschossen  hatte  und  man  froh 
war,  von  den  gefallenen  Chinesen,  die  glücklicherweise  auch  mit 
Mauscr-Ge wehren  bewaffnet  gewesen  waren,  Patronen  sammeln 
w  kSnncn.  Unter  den  erbeuteten  Bannern  und  Fähnchen  befand 
*ich  auch  eines  der  Truppen  Tung-Fuhsiang's. 

Uro  b'U  Uhr  nachmittags  trat  Capitän  zur  See  von  Usedom 
mit  beiden  Zügen  die  Rückfahrt  an;  die  eigenen  Todten  wurden 
mitgenommen,  da  zur  Bestattung  die  Zeit  fehlte. 

Am  19.  Juni  hieUen  die  commandirenden  Officiere  Kriegs- 
rah;  so  bitter  es  auch  empfunden  wurde,  so  konnte  man  sich 
^h  nicht  verhehlen,  dass  das  Expeditions-Corps  seine  vorge- 
Seckle  Aufgabe,  den  Gesandten  in  Peking  Hilfe  zu  bringen,  auf- 
Keben  und  ehebaldigst  den  Rückmarsch  nach  Tientsin  antreten 
giiSte,  solange  noch  Lebensmittel  und  haup^sächlich  Munition 
CapbäD  tut  See  von  ITeedom  wuiiic  in  clicsem  (jeftclile  v 


118 

reichten.  Dass  es  grosse  Anstrengungen  kosten  werde,  sich  aus 
der  Falle  zu  befreien,  in  die  man  gerathen  war,  lag  klar  zu  Tage. 

Als  Route  wurde  der  Weg  am  linken  Peiho-Ufer  gewählt, 
wo  man  auch  auf  einige  Ressourcen  in  den  unterwegs  zu  pas- 
sirenden  Dörfern  zählen  zu  dürfen  glaubte.  Die  Verwundeten  und 
das  schwere  Gepäck  sollten  auf  Fahrzeugen  unter  dem  Schutze 
der  marschirenden  Colonne  flussabwärts  gebracht  werden,  deren 
man  aber  nur  vier  aufbrachte,  so  dass  ausser  den  Verwundeten 
nur  Proviant  und  die  Reservemunition  der  Feldgeschütze  und 
Maschinengewehre  in  den  Dschunken  Platz  fanden ;  alles  Uebrige 
musste  zurückgelassen  werden.  Seecadet  Prochaska  stellte  die 
Decken  seiner  Mannschaft,  obwohl  man  sie  bei  der  empfindlichen 
Nachtkühle  fühlbar  entbehrte,  für  die  Verwundeten  zur  Verfügung. 

Bisher  hatten  die  Waggons  trotz  der  UeberfüUung  doch 
einen  dankbar  empfundenen  Rückhalt  und  Comfort  geboten  und 
waren  den  Truppen  so  lieb  wie  lang  bewohnte  Häuser  gew^orden, 
nun  hiess  es  aber  auch  von  ihnen  Abschied  nehmen. 

Am  19.  Juni,  4V'»  Uhr  nachmittags  wurde  nach  feierlicher 
Bestattung  der  bei  Langfang  Gefallenen  der  Rückmarsch  ange- 
treten ;  die  Amerikaner  unter  dem  unermüdlichen,  zu  allen  Wage- 
stücken bereiten  Capitän  McCalla*)  bildeten  die  Vorhut,  ihnen 
folgten  als  Gros  Franzosen,  Italiener,  Engländer,  Oesterreicher- 
Ungarn  und  Japaner,  während  Russen  und  Deutsche  die  Nachhut 
bildeten;  als  Seitendeckung  stellten  die  Engländer  Detachements. 
Der  Marsch  ging  nur  langsam  von  Statten  und  wurde  durch  das 
mehrmalige  Auffahren  der  von  den  chinesischen  Bahnarbeitern  ge- 
zogenen Dschunken,  deren  Bedienung  jedoch  besondere  Local- 
kenntnisse  und  Geschicklichkeit  erfordert,  recht  unliebsam  ver- 
zögert, so  dass  man  sich  schon  um  7  Uhr  abends  entschloss, 
zwischen  zwei  verlassenen,  brennenden  Dörfern  Nachtlager  zu 
halten.  Kaum  dass  die  Truppen  etwas  über  eine  englische  Meile 
von  Yangtsun  entfernt  waren,  sah  man  schon  beutelustige  Chinesen 
sich  auf  die  verlassenen  Züge  stürzen  und  bald  darauf  standen 
letztere  in  hellen  Flammen.  Ein  eindringliches  Memento,  hinfur  ja 
nichts  Nothwendiges  zu  vergessen  und  liegen  zu  lassen! 

Die  Nacht  verlief  ohne  Störung.  Am  Morgen  des  20.  Juni 
wurde  um  7  Uhr  aufgebrochen;  gegen  9  Uhr  meldete  die  ameri- 
kanische Vorhut,  dass  in  einem  vorliegenden  Gehölz  chinesische 
Truppen  lagen,  und  fast  gleichzeitig  eröffnete  sie  aus  ihrem  Feld- 
^.»■eschütz  das  Feuer  gegen  sie,  welches  durch  heftiges  Gewehrfeuer 

*1    Capitän    McCalla  wurde    im    Laufe    der  Expedition    nicht  wenig^"" 
mal  verwundet. 


119 

erwidert  wurde.  Nach  beiläufig  einer  Stunde  war  der  Feind  durch 
die  Tete-Truppen  vertrieben  und  setzte  die  Colonne    den  Marsch 
fort,  gerieth    aber  kurz    darauf  unter  Geschützfeuer,    welches   die 
CHinesen  aus  der  Deckung  eines  circa    1^2  Kilometer  entfernten, 
senkrecht  auf  den  Peiho  laufenden  Strassendammes  abgaben.  Erst 
gegen  Mittag    waren  sie    auch    dort    geworfen    und  konnten    die 
Truppen  Rast    machen    und    so    gut  und    schlecht  es    eben  ging 
al>l«ochen.    Alle  Bedenken    gegen    das    schmutzige  Peiho- Wasser 
wixrden  bei  Seite  gesetzt,  man  hatte  von  der  brennenden  Sonnen- 
hitze und  dem  Sand  und  Staub  so  viel  zu  leiden  gehabt,  dass  man 
sicli    glücklich  schätzte,  einen  herzhaften  Trunk  »Chäteau  Peiho« 
thun  zu  können    —    über    den  Durst    trank    doch  gewiss  Keiner! 
Um  2V2  Uhr  nachmittags  begannen   die  Chinesen  jedoch  von 
Neuem  die  Colonne  aus  einer  Stellung  zwischen  zwei  Dörfern  mit 
Shrapnels    und  Granaten    zu    bewerfen;    Amerikaner,    Franzosen, 
Engländer  und  Russen  brachten    nun   ihre  Geschütze  ebenfalls    in 
Action,     während    die  Oesterreicher  -  Ungarn,    Deutsche,    Italiener 
und  Japaner  zum  ^Schutze    der  rückwärts  befindlichen  Dschunken 
blieben.  Zwar  gelang  es  den  Chinesen,  das  Dorf,  an  welches  sich 
die  Feuerlinie    der  AUiirten  mit  ihrem  Centrum  stützte,    in  Brand 
zu  schiessen    und  auch  die    kleine  Flottille  zu  beunruhigen,    doch 
wurde  ihr  Widerstand  bald  gebrochen ;    nachdem  auch    noch    drei 
deutsche    Compagnien     ins    Gefecht     vorgezogen    worden    waren, 
stürmte    man    die    beiden  Dörfer,    wobei  die    sich  eiligst    zurück- 
ziehenden Chinesen  zwei  einpfündige  Schnellfeuerkanonen  im  Stiche 
lassen  mussten. 

Den  Anlauf  mit  Bajonnett  vertrugen  die  Chinesen  nicht,  so 
gut  und  zähe  sie  sich  im  Uebrigen  der  Vortheile  des  Terrains  zu 
bedienen  wussten. 

Durch  diese  Gefechte,  bei  denen  die  Colonne  Seymour 
glücklicherweise  nur  unerhebliche  Verluste  erlitten,  war  ihr 
Vorwärtskommen  doch  sehr  verzögert  worden.  Nach  einem  Tages- 
niarsche  von  beiläufig  13  Kilometern  wurde  in  der  bisherigen, 
nach  dem  Nachmittagsgefecht  wieder  hergestellten  Marschordnung 
bivouakirt;  unnöthig  zu  sagen,  dass  die  Chinesen  vor  ihrer  Plucht 
noch  Brand  an  die  für  sie  unhaltbar  gewordenen  Dörfer  gelegt 
nnd  dadurch  den  verbündeten  Truppen  die  Möglichkeit,  darin  etwas 
Brauchbares  aufzustöbern,  benommen  hatten. 

Auch  die  folgende  Nacht  ging  ohne  Belästigung  durch  den 
Feind  hin. 

Am  Morgen  des  21.  Juni  vertheilte  sich  das  ganze  Expeditions- 
Corps  auf  beide  Ufer,    weil  man    so    die  Länge    der  Colonne    auf 


120 

die  Hälfte  verkürzen,  sich  gegenseitig  und  namentlich  die  Fahrzeuge 
mit  den  Verwundeten  besser  unterstützen  konnte. 

Das  kleine  Detachement  von  »Zenta«  wurde  von  diesem  Tage 
an  dem  deutschen  Landungs- Corps  unterstellt  und  hatte  am  Vor- 
mittag dieses  Tages  zusammen  mit  der  Compagnie  des  Kreuzers 
»Gefion«  und  einer  Compagnie  Russen  die  Deckung  der  Dschunken. 

Kurz  nach  dem  Aufbruche  erschien  in  der  linken  Flanke  der 
am  linken  Ufer  marschirenden  Colonne  chinesische  Cavallerie,  die 
jedoch,  durch  Geschützfeuer  abgehalten,  keine  Attaque  riskirte  und 
sich  damit  begnügte,  den  ganzen  Tag  über  durch  Gewehrfeuer 
zu  belästigen.  Gleichzeitig  wurde  aber  die  Colonne  am  rechten 
Ufer,  welche  hauptsächlich  aus  Deutschen  und  Russen  bestand 
und  vom  Capitän  zur  See  von  Usedom  geführt  wurde,  von  vorne 
mit  Geschützfeuer  und  in  der  rechten  Flanke  durch  Infanterie 
lebhaft  beschossen.  Man  war  eben  an  einer  scharfen  Flussbiegung 
angelangt  und  die  erste  Granate  fiel  mitten  unter  die  Boote, 
glücklicherweise  ohne  Schaden  zu  thun ;  auf  letztere  schien  sich 
die  ganze  Aufmerksamkeit  der  chinesischen  Artillerie  zu  concen- 
triren  und  empfand  man  es  als  eine  wahre  Erleichterung,  als  es 
unter  vieler  Mühe  gelungen  war,  die  darauf  befindlichen  Ver- 
wundeten hinter  der  Krümmung    wieder  in  Deckung    zu  bringen. 

Das  nachfolgende  Gefecht  entwickelte  sich  äusserst  lebhaft; 
die  Chinesen  hatten  ihre  Stellung  in  den  Weilern  an  beiden  Fluss- 
ufern durch  Schützengräben  wesentlich  verstärkt  und  unterhielten 
ein  gut  genährtes  und  gezieltes  Feuer,  so  dass  die  über  freies 
Feld  vorrückenden  Alliirten  beträchtliche  Verluste  erlitten.  Die 
Theilung  auf  beide  Ufer  kam  nun  sehr  zu  Statten ;  auf  dem  linken 
Ufer  fand  Vice-Admiral  Seymour  weniger  lebhaften  Widerstand 
als  die  Deutschen  und  Russen  auf  dem  ihrigen  und  rückte  somit 
bald  in  eine  Stellung  vor,  von  wo  aus  seine  Geschütze  die  Chinesen 
am  rechten  Ufer  etwas  mehr  in  der  Flanke  fassen  und  die  Colonne 
Usedom  unterstützen  konnten.  Immerhin  dauerte  das  Gefecht  bis 
nahe  an  Mittag,  wo  die  Chinesen,  zuerst  ihre  Geschütze  zurück- 
ziehend, endlich  auch  die  Dörfer  räumten. 

Ohne  Rast  weitermarschirend  wurden  noch  zwei  Dorfer  hinter 
den  eben  von  den  Chinesen  verlassenen  passirt  und  während  des 
Marsches  der  Wechsel  der  bisherigen  Bootsbedeckung  gegen 
Truppen,  die  den  ganzen  Morgen  gekämpft  hatten,  durchgeführt, 
wodurch  das  kleine  österreichisch-ungarische  Detachement  wieder 
an  die  TO'te  kam. 

Nach  2  Uhr  nachmittags  gelangte  man  wieder  an  eine  grossere 
Flussbiegung    und    dort  wiederholten  sich   die  Vorgänge  wie 


Vormittage,  nur  mit  dem  Unterschiede,  dass  diesmal  die  linke 
Colonne  länger  aufgehalten  wurde  und  die  Chinesen  schein- 
bar auch  einige  Geschütze  auf  Dschunken  placirt  hatten.  Die  Töte 
der  Colonne  auf  dem  rechten  Flussufer  rückte,  das  Feuer  des 
Gegners  nur  aus  einigen  Mitrailleusen  erwidernd,  gegen  die  Fluss- 
biegung vor  und  erhielt  beim  Passiren  des  freien  Feldes  Shrapnel- 
feuer;  Matrose  Josef  BesHö  wurde  bei  dieser  Gelegenheit  von 
einem  Shrapnel Splitter  auf  den  linken  Oberarm  getroffen,  zu  Boden 
geworfen,  merkwürdigerweise  jedoch  nicht  verwundet.  Vom  rechten 
FlusÄufer  aus  wurde  die  Stellung  der  Chinesen  unter  Feuer  ge- 
nommen und  derart  der  Colonne  Seymour  etwas  Luft  gemacht;  das 
(iefecht  dauerte,  durch  zwei  in  grösserer  Entfernung  aufgestellte, 
aber  empfindlich  präcise  feuernde  chinesische  Geschütze  unterstützt, 
ungefähr  zwei  Stunden  und  endete  mit  dem  Rückzuge  der  Chinesen. 

Unter  den  zahlreichen  Verlusten  der  AUiirten  war  auch  der 
verwundete  Flaggen-Capitän  Seymour's,  Capitän  Jellicoe. 

Den  Rest  des  Tages  weitermarschirend,  hatte  man  im  Ganzen 
(loch  nur  etwa  zehn  Kilometer  zurückgelegt,  jedoch  den  grösseren 
On  Peitsang  überschritten. 

Während  des  nachmittägigen  Gefechtes  waren  einige  am  linken 
Ufer  angelegte  Dschunken  gefunden  worden;  als  die  Truppen  sie 
wegnehmen  wollten,  sprangen  plötzlich  Frauen  mit  ihren  Kindern, 
fÜc  sich  bisher  darin  verborgen  hatten,  ins  Wasser,  um  nicht  den 
freimien  Soldaten  in  die  Hände  zu  fallen,  die  sie  wohl  noch  ärger 
als  ihre  eigenen  fürchten  zu  müssen  glaubten.  Seecadet  Prochaska 
sprang  ihnen  mit  einigen  Leuten  der -Zenta"  nach  und  rettete  beiläufig 
SOMenschen  ungeachtet  der  massenhaft  in  der  Nähe  einschlagenden 
^schasse. 

Am  Abend  de»  21.  Juni  übersetzte  die  Colonne  Usedom 
wieder  den  Fluss  und  vereinigten  sich  alle,  durch  die  zweitägigen 
Gpfechte  schon  -sehr  ermüdeten  Truppen  am  linken  Ufer. 

Der  Grund  hiefür  war  der,  dass  man  dem  am  rechten  Ufer 
irgendwo  flussabwärts  gelegenen,  befestigten  Hsiku-Arsena!  aus- 
weichen wollte;  durch  den  Mangel  verlässlicher  Karten  war  man 
>if  die  Angaben  der  wenigen  beim  Expeditions-Corps  anwesenden 
Laniieskundigen  angewiesen,  aber  auch  diese  kannten  die  Gegend 
^^l  zu  wenig  im  Detail  und  vermochten  namentlich  über  die  Ent- 
fernungen keine  präcise  Auskunft  zu  geben. 

Um  nun  den  geschlagenen  chinesischen  Truppen  so  wenig  Zeit 
*l*  möglich  zu  lassen,  sich  noch  vor  Hsiku  festzusetzen,  und  anderer- 
f^iti  um  letzteren  Punkt  vielleicht  doch  noch  unter  dem  Schutze 
der  Dunkelheit  zu  passiren,  wurde  beschlossen  einen  Theil  der  Nai 


122 

zu  marschiren.  Einige  Stunden  Rast  waren  jedoch  unbedingt  nöthig ; 
während  dieser  liess  Vice-Admiral  Seymour  die  Feldgeschütze,  deren 
Fortbringung  die  Kräfte  der  Mannschaften  unverhältnissmässig  bean- 
spruchte, in  eine  der  erbeuteten  Dschunken  schaffen  und  wurden 
bei  der  Truppe    nur    die    leichteren    Maschinengewehre   behalten. 

Um  1  Uhr  morgens  des  22.  Juni  wurde  aufgebrochen;  die 
schlechte  Beschaffenheit  des  Weges  machte  sich  naturgemäss  noch 
stärker  fühlbar  als  bei  Tag. 

Alles  schien  ruhig,  nur  wurden  bald  näher,  bald  weiter  Feuer 
aufflackern  gesehen,  scheinbar  von  den  Chinesen  abgegebene 
Zeichen,  mit  denen  sie  den  Anmarsch  der  Alliirten  weiter 
meldeten. 

Thatsächlich  war  seit  dem  Aufbruch  noch  keine  halbe  Stunde 
vergangen,  als  die  Avantgarde  mit  Schnellfeuer  überschüttet 
wurde;  ohne  viel  Zeit  zu  verlieren,  stürmte  jedoch  die  Vorhut 
gegen  die  chinesische  Feuerlinie  und  vertrieb  die  Schützen  aus 
einem  Dorfe  ohne  nennenswerthe  eigene  Verluste.  Auf  das  Feuer 
hin  wurden  die  deutschen  Compagnien  und  mit  ihnen  das  öster- 
reichisch-ungarische Detachement  an  die  Tete  beordert.  In  den 
folgenden  Stunden  bis  Tagesanbruch  wurden  etwa  sechs  Kilometer 
zurückgelegt. 

Um  -4*1  Uhr  morgens  war  die  Vorhut  bei  einem  Dorfe 
gegenüber  dem  Hsiku-Arsenal  angelangft  und  passirte  gerade 
zwischen  diesem  und  dem  linken  Flussufer,  so  dass  sie  von  den 
Wällen  des  Arsenals  nicht  mehr  als  höchstens  150  Meter  entfernt  war ; 
auf  letzteren  sah  man  deutlich  chinesische  Soldaten  und  zwei  gegen 
den  Fluss  gerichtete  Geschütze.  Die  Situation  war  eine  recht 
spannende,  doch  blieb  nichts  übrig,  als  scheinbar  unbefangen 
weiter  zu  marschiren,  was  die  Chinesen  vorläufig  zuliessen,  so 
dass  die  Vorhut  das  Dorf  passirte  und  in  einem  durch  Steinwall 
untl  Mauerwerk  abgebauten,  nun  trocken  liegenden  Flussarm 
Halt  machte,  um  auf  das  Clros  zu  warten, 

Mittlorweile  hatte  ein  die  Kxpedition  begleitender  Engländer, 
Mr.  C  ampbolK*^  mit  einem  aus  der  Cmwallung  herv'orgekommenen 
Chinesen  parlamentirt.  d.  i.  seine  etwas  naiv  scheinende  Frage, 
wer  da  vorüberziehe,  wohin  und  ähnliche  unverfängliche  Dinge 
absichilioli  ebenso  leichthin  beantwortet  und  erklärt,  dass  man 
der  Foresbosat/ung  nichts  lu  Leide  thun  wolle,  wenn  sie  sich 
ruhig  verhalte.  Der  Ihineso  .schien  seine  Neugierde  befriedigt  oder 
vielmehr  genug  Zeit  gewonnen  /u  haben  und  trat  hinter  den  Wall 

•i  Coüsul  in  WtttÄ'hAu.    iu   Hrntsin    auf  VrUuK    aU   die    Expedition   aaf brach 
»paterbin  Con$ul  iu    l  ientMn, 


zurück:  gleichzeitig  ertönte  drüben  ein  Homsignal  und  entluden 
»ich  die  Geschütze  und  Gewehre  auf  dem  Wall  gegen  die  Vorhut 
und  das  eben  anmarschirende  Gros  der  Verbündeten. 

Es  war  eine  höchst  kritische  Situation  und  schon  lagen  einige 
Opfer  des  chinesischen  Feuers  niedergestreckt:  die  Vorhut  suchte 
sich  rasch  in  dem  alten  Flussbett  und  hinter  dem  Damme  zu  ent- 
wickeln, um  das  Feuer  aufnehmen  zu  können,  während  ein  Theil 
der  Amerikaner  und  Engländer  um  das  Dorf  herum  zurückeilte, 
um  weiter  aufwärts  über  den  Fluss  zu  setzen.  Unglücklicherweise 
konnten  die  eben  die  Flusskrümraung  passirenden  Dschunken  erst 
aufg-ehalten  werden,  als  sie  schon  in  den  Feuerbereich  des  .■\rsenals 
gelangt  waren.  Die  Dschunke  mit  den  Geschützen  sank,  doch  ge- 
\ang  es  wenigstens,  die  Fahrzeuge  mit  den  vielen  Verwundeten 
wieder  in  relative  Sicherheit,  eine  Strecke  stromauf  zu  bringen. 
Während  Amerikaner  und  Engländer  die  Umgehung  aus- 
führten, um  die  Ostseite  des  Arsenals  anzugreifen,  hatten  die 
(Jeutschen  Compagnien,  das  Detachement  >Zenta«  und  die  Com- 
pagnie  des  englischen  Kreuzers  -Fndymion«  die  harte  Aufgabe, 
das  Feuer  von  der  Xordfront  auszuhalten  und  aus  ungenügender 
Deckung  erwidernd  niederzukämpfen. 

Auf  die  kurze  Distanz  schössen  die  Chinesen  ziemlich  gut; 
als  einer  der  Ersten  war  Matrose  Tanzabellitf  durch  die  Füllkugel 
eines  Shrapnels  im  linken  Bein  verwundet  worden.  Das  Feuer 
nahm  beiderseits  an  Heftigkeil  zu,  bis  es  gelang,  die  Bemannung 
eines  der  beiden  Geschütze  am  Ufer  ausser  Gefecht  zu  setzen; 
endlich  nach  fast  zwei  Stunden  konnte  die  Corapagnie  der  »Hansa« 
den  Fluss  watend  übersetzen  und  den  Wall  stürmen ;  fast  gleich- 
zeitig hatten  auch  Amerikaner  und  Engländer  die  Deckung  hinter 
dc-ni  Dorfe  am  rechten  Ufer  überschritten  und  in  einem  kurzen 
Anlaufe  den  Ostwall  erstiegen,  wo  ausser  Infanterie  nur  eine  ein- 
pfiJildige  Schnellfeuerkanone  das  Feuer  gegen  sie  unterhalten  hatte. 
Um  üVi  Uhr  früh  waren  diese  beiden  Abtheilungen  in  das  Arsenal 
•angedrungen,  wo  sie  sich  gleich  der  chinesischen  Geschütze  be- 
raächtigten  und  sie  gegen  die  weichenden  Chinesen  spielen  Hessen; 
letztere  hielten  dem  ferneren  Vordringen  gegenüber  nicht  mehr 
J^tand  und  flüchteten  über  die  Südoslecke  des  Walles,  von  dem 
Feuer  der  nachdrängenden  Deutschen,  Amerikaner  und  Engländer 
«harf  hergenommen. 

Während  nun  das  rechte  Ufer  allerdings  nach  hartem,  ver- 
lustreichem Kampfe  frei  geworden,  griffen  auf  dem  linken  die 
Chinesen  aus  einem  östlich  liegenden  Dorf  mit  Geschützen  und 
Infanterie    unerwartet   an.    Die  bisher   gegen    die    Nordfront    des 


124 

Arsenals  engagirt  gewesenen  Abtheilungen  rückten  daher  über 
das  Dorf  Hsiku  hinaus  gegen  den  neuen  Gegner  und  hatten  bis 
8  Uhr  morgens  schon  einigen  Fortschritt  gemacht,  als  in  ihrer 
linken  Flanke  vom  Bahndamm  her,  der  an  dieser  Stelle  etwa  fünf 
Kilometer  vom  Arsenal  abliegt,  eine  chinesische  Abtheilung  mit 
einem  Geschütz  und  Cavallerie  vorrückte. 

Die  Abtheilungen  »Augfusta«,  »Hertha«,  »Endymion«  und  »Zenta« 
mussten  sich  daher  auf  das  Dorf  Hsiku  zurückziehen,  wo  mittler- 
weile Franzosen,  Italiener,  Japaner  und  Russen  eingerückt  w^aren. 


Qefeohte  während  und  naoh 

der  Einnahme  und  Besetzung 

von  Hsiku  am  22.  Juni 

4'/t''  *•  n».  —  6**  p.  m. 

St«lhmg  der  Chinesen 
Alliierten. 


Bahndamm 
ca.  ö  km  vom  Arsenal 


l  im  Vorrücken. 


Dsckunk 


Das  österreichisch-ungarische  Detachement  wurde  nun  mit 
Russen  und  Japanern  zusammen  beiderseits  einer  aus  dem  Dorf 
Hsiku  gegen  den  Bahndamm  führenden  Strasse  vorgeschoben  und 
führte  bis  :?  l'hr  nachmittags  ein  hinhaltendes  (refecht  gegen  die 
mit  Ausnützung  des  hügeligen  Terrains  langsam  vorrückenden 
Chinesen,    vieren  Cavallerie  abgesessen  sich  am  Feuer  betheiligte. 

Aus  unbekannten  Ci  runden  zogen  sich  die  Japaner  um  2  Uhr 
auf  die  Hohe  des  Hortes  Hsiku  zurück,  so  dass  auch  die  Oester- 
reioher-l'ngani  und  Russen  kämpfend  viahin  zurückgehen  mussten. 

Das  Dorf  wunie  nun  von  Xonl  und  Ost  heftig  beschösse»!» 
wobei  sowv^hl  die  iieschütze  der  ChinestMi   als  auch  ihre 


Vürzögliches  leisteten:  iJie  Ostsei tp  wurde  durch  Engländer, 
Franzosen  und  Italiener,  die  Nordseite  durch  Japaner,  Oester- 
reicIier-Ungarn  und  Russen  bis  6  Uhr  abends  vertheidigt. 

Das  Detachement  der  «Zenta'  verlor  während  dieses  Kampfes 
den    Matrosen  Deste  durch  einen  Schuss  in  den  Hals. 

Aber  auch  auf  dem  rechten  Ufer  war  man  nicht  lange  zur 
Ruhe  gekommen. 

Die  geflüchtete  chinesische  BesaUung  des  Arsenals  hatte 
zwei  Geschütze  mitgenommen  und  selbe  noch  vor  Mittag  im  Süd- 
osten in  Position  gebracht;  im  Laufe  des  Nachmittags  griffen 
frische  Truppen  mit  grosser  Entschiedenheit  von  Ost  und  Süd  her 
das  Arsenal  an,  das  gleichzeitig  auch  aus  beiden  Richtungen  bis 
4  Uhr  nachmittags  bombardirt  wurde,  so  dass  die  Eroberer  sich 
nur  mit  harter  Mühe  halten  konnten  und  trotz  der  guten  Stellung 
noch  schwere  Verluste  erlitten,  darunter  auch  den  deutlichen 
Corvetten-Capitän  Buchholz. 

Man  sah  deutlich,  dass  die  Truppen  Nieh's,  denn  als  solche 
hatte  man  sie  erkannt,  alle  Anstrengungen  machten,  um  die  so 
wichtige  verlorene  Position  wieder  zu  gewinnen,  aber  endlich 
'^lahmte  ihr  Eifer,  den  sie  mit  schweren  Opfern  bewiesen  hatten, 
•ind  um  ß  Uhr  abends  hörte  auf  beiden  Flussufern  das  Feuer 
«•mälig  auf  —  es  war  auch  die  höchste  Zeit  für  die  Alliirten, 
ofcnn  abgesehen  davon,  dass  ihre  Munition  am  Ausgehen  war, 
hatten  die  Gefechte  der  Vortage,  der  nächtliche  Marsch  und  der 
"Jen  ganzen  Tag  unausgesetzt  währende  Kampf  die  physischen 
Kräfte  auf  das  Aeusserste  beansprucht;  namentlich  hatte  das  kleine 
österreichisch -ungarische  Detachement  keinen  Augenblick  Rast 
gehabt. 

Gegen  7  Uhr  abends  waren  alle  Truppen  in  das  Arsenal 
'usammengezogen,  hinter  dessen  Wällen  sie  auch  vor  einem  nächt- 
lichen Ueberfall  ziemlich  sicher  waren;  der  Uebergang  der 
Truppen  vom  linken  auf  das  rechte  Ufer  wurde  allerdings  noch 
•lurch  mit  Heftigkeit  erneuertes  Geschütz-  und  (tewehrfeuer 
erschwert,  so  dass  die  nach  der  Besitznahme  des  Arsenals  herbei- 
diri^irten  Boote  unbrauchbar  wurden  und  über  Nacht  langsam 
«nken. 

Nun  befand  sich  das  ganze  Expeditions-Corps  momentan 
iJlerilings  durch  den  Besitz  des  befestigten  Arsenals  insofeme  in  , 
einer  besseren  Lage,  als  es  hoffen  konnte,  daselbst  Einiges  vorzu- 
finden; andererseits  aber  war  es  unmöglich,  sich  mit  den  vielen  Ver- 
wundeten, deren  Zahl  durch  die  letzten  Gefechte  schon  230  erreicht 
hatte,  weiter  kämpfend   bis  Tientsin  durchzuschlagen.     Es  muBSte 


126 

somit  ein  Versuch  gemacht  werden,  mit  den  Fremden  dortselbst 
in  Verbindung  zu  treten  und  von  ihnen,  die  ja  auch  nichts  von 
den  Schicksalen  der  Expedition  wissen  konnten,  Entsatz  zu  ver- 
langen. Dass  gegen  Tientsin  ebenfalls  die  Feindseligkeiten  im 
vollsten  Gange  waren,  hatte  man  wohl  schon  lange  vorausgesehen 
und  der  Kanonendonner,  den  man  zeitweilig  in  den  letzten  Tagen 
in  jener  Richtung  gehört,  gab  den  Illusionen  den  letzten  Stoss, 
wenn  solche  überhaupt  noch  bestanden! 

Da  die  Entsendung  chinesischer  Boten  bisher  noch  nie  zum 
Ziele  geführt,  entschloss  sich  Vice-Admiral  Seymour  noch  am 
Abend  des  22.  Juni,  durch  ein  100  Mann  starkes  Detachement 
englischer  Marine-Infanterie  unter  Commando  des  Hauptmannes 
Doig  den  Verbündeten  in  Tientsin  die  Nachricht  über  seine  Lage 
und  die  Bitte  um  Entsatz  zukommen  zu  lassen.  Auf  den  Rath  des 
Eisenbahn-Ingenieurs  Mr.  Currie,  der  sich  zum  Führer  anbot, 
nahm  diese  kleine  Colonne  einen  Umweg  am  linken  Peiho-Ufer, 
indem  sie  sich  zuerst  nordwärts  gegen  den  Eisenbahndamm  wendete, 
und  sollte  sie  dann  entlang  dessen  die  nur  etwa  fünf  englische  Meilen 
lange  Strecke  bis  Tientsin  zurücklegen.  Auf  diese  Art  hoffte 
man  die  Forts  auf  dem  rechten  Ufer  in  der  Nähe  der  Stadt  zu 
umgehen.  Das  Glück  war  jedoch  wieder  nicht  günstig,  die  Colonne 
Doig  wurde  schon  in  der  Nähe  des  Bahndammes  entdeckt,  heftig 
beschossen  und  kehrte  mit  einem  Verlust  von  vier  Todten  zurück. 

Am  23.  Juni  griffen  die  Chinesen  bei  Tagesanbruch  wieder 
die  Ostseite  des  Arsenals  heftig  an,  doch  schlugen  die  Verbündeten 
auch  diesen  Angriff  —  wenngleich  mit  einigen  eigenen  Verlusten 

—  ab.  Dieser  Theil  des  Arsenals  barg  die  meisten  explosions- 
gefährlichen Stoffe  und  war  dessen  Vertheidigung  in  die  Hände 
des  französischen  Linienschiffs-Capitäns  de  Marolles  gelegt  worden, 
der  sie  mit  grosser  Umsicht  leitete. 

Man  hatte  nun  Zeit,  im  Arsenale  Umschau  zu  halten  und  vor 
Allem  den  Verwundeten,  die  bei  dem  Mangel  am  Nöthigsten  un- 
endlich schwer  zu  leiden  gehabt  hatten,  einige  Erleichterung  zu 
verschaffen.  Sie  konnten  nach  dem  beschwerlichen  Transport  auf 
den  Dschunken  nun  wenigstens  unter  Dach,  in  Schutz  gegen 
Sonne  und  den  starken  Thaufall  bei  Nacht  gebracht  werden. 
Einer  der  ersten  glücklichen  Funde  war  eine  grosse  Feldapotheke 
mit  einem  ansehnlichen  Vorrath  an  Verbandzeug,  noch  ebenso 
verpackt,  wie  von  Europa  eingetroffen;   auch  wurde  einiger  Reis 

—  allerdings  nicht  mehr  als  für  ein  paar  Tage  —  aufgestöbert,  so 
dass  die  dringendsten  Bedürfnisse  gedeckt  waren.  Dann  aber 
machte  man  sich  daran,  die  Vorräthe  an  Kriegsmaterial  zu  unt 


127 

suchen,  und  diese  erwiesen  sich  viel  reicher,  als  man  zu  hoffen 
gewagt  hatte.  Nebst  einer  grossen  Zahl  Gewehre  und  Carabiner 
modernster  Systeme  mit  einem  ganz  enormen  Vorrath  zugehöriger 
Munition  wurden  über  30  Krupp'sche  Feldgeschütze,  Schnellader 
von  57  und  87  Millimeter  Caliber  sammt  einer  überreichen  Menge 
Munition  und  Zubehör  vorgefunden. 

Die  Geschütze  mussten  freilich  erst  ausgepackt,  zusammen- 
gesetzt und  montirt  werden,  aber  das  bedeutete  eine  so  freudige 
Abwechslung,  dass  die  Arbeit  rascher  als  erwartet  gethan  war. 
Jetzt  konnte  man  doch  Vergeltung  üben  und  die  umliegenden 
besetzten  und  befestigten  Dörfer  selbst  wirksam  unter  Feuer 
nehmen;  unter  diesen  Umständen  brauchte  man  sich  nicht  be- 
unruhigt zu  fühlen,  wenn  auch  einige  Tage  bis  zum  Eintreffen 
des  Entsatzes  vergehen  sollten. 

Schon  am  23.  Juni  nachmittags  wurde  das  Bombardement 
der  nächsten  Dörfer,  aus  denen  noch  fortwährend  einzelne  Schüsse 
gegen  das  Arsenal  fielen,  und  eines  flussabwärts  gelegenen  Forts 
eröffnet  und  am  24.  fortgesetzt,  was  den  heilsamen  Erfolg  hatte, 
dass  die  Chinesen  keinen  organisirten  Angriff  mehr  wagten.  Ja 
am  25.  Juni  früh  kämpften  die  in  Hsiku  Eingeschlossenen  sozu- 
sagen für  ihre  Brüder  in  Tientsin,  indem  sie  ein  in  der  Richtung 
gegen  letzteres  feuerndes  Geschütz  des  erwähnten  Forts  unter 
Feuer  nahmen  und  dadurch  dessen  Aufmerksamkeit  auf  sich  zogen. 

Wieder  waren  Boten  ausgesendet  worden  und  diesmal  gelang 
es  einem,  den  Händen  der  Boxer  und  Soldaten  zu  entgehen  und 
die  Stadt  zu  erreichen.  Bisher  waren  die  in  der  Nacht  abge- 
feuerten Raketen,  mit  denen  man  sich  den  Tientsinern  bemerkbar 
machen  wollte,  stets  unbeantwortet  geblieben  und  die  Versuche, 
bei  Tage  mit  Helioskopen  eine  Verbindung  herzustellen,  hatten 
w^en  der  am  23.  und  24.  herrschenden  Sandstürme  aufgegeben 
werden  müssen. 

Die  Proviantfrage  war  trotz  des  Reisfundes  noch  immer 
recht  schwierig ;  mit  Ausnahme  der  Amerikaner  und  Oesterreicher- 
Ungarn  waren  alle  anderen  Nationen  genöthigt  gewesen,  nur  mehr 
lialbe  Rationen  auszugeben,  und  in  den  nächsten  verwüsteten 
Dörfern  war  absolut  nichts  aufzutreiben,  so  dass  endlich  die 
wenigen  Maulthiere  und  Ponies  geschlachtet  werden  mussten. 

Dazu  kam  noch,  dass  sich  die  Folgen  der  Strapazen  und 
namentlich  des  Genusses  des  schlechten  Peiho- Wassers  fühlbar  zu 
wichen  begannen;  einige  Fälle  schwerster  Dysenterie  traten  auf 
^d  vermehrten  die  Zahl  derer,  die  zu  transportiren  nun  kein 
öderes  Mittel  mehr  vorhanden    war  als  improvisirte  Tragbahren. 


128 

Kurzum,  man  lugte  sehnsüchtig  gegen  Tientsin  aus,  ob  nicht  doch 
ein  Zeichen  vom  Herannahen  eines  Entsatzes  bemerkbar  würde. 
Durch  einen  chinesischen  Gefangenen  waren  am  24.  Juni  einige 
nichts  weniger  als  beruhigende  Nachrichten  über  die  Lage  in 
Tientsin  erhalten  worden ;  dass  Nieh's  Armee  durch  ihre  bisherigen 
Misserfolge  entmuthigt  sei  und  die  kleine  Colonne  Seymour  am 
22.  Juni  sich  erfolgreich  gegen  25  angreifende  Bataillone  (nominell 
ä  500,  aber  wahrscheinlich  nur  k  300 — 400  Mann)  gehalten  habe*)  — 
diese  beiden  Mittheilungen  klangen  zwar  recht  versprechend  und 
ehrenvoll,  aber  sie  verriethen  auch  kein  Jota  darüber,  ob  die 
Garnison  von  Tientsin  seit  dem  10.  Juni  so  verstärkt  worden  war, 
dass  sie  es  versuchen  konnte,  dem  Expeditions-Corps  Succurs  zu 
schicken. 

Endlich  am  24.  Juni  spät  abends  gewahrte  man  in  der  Rich- 
tung von  Tientsin  Lichtblitze  von  elektrischen  Scheinwerfern, 
allerdings  noch  durchaus  keine  zusammenhängenden  Signale,  aber 
sie  wiederholten  sich,  als  man  wieder  Raketen  abbrannte  —  die 
Hoffnung  auf  Entsatz  erstarkte. 

Die  Nacht  verging  ruhig;  erst  in  den  frühen  Morgenstunden 
hörte  man  Geschützfeuer,  in  das  mitzusprechen  man  nun,  wie 
schon  an  einer  früheren  Stelle  erwähnt,  kein  Bedenken  trug. 

Endlich  um  9  Uhr  morgens  am  25.  Juni  erkannte  man  die 
längs  der  Bahn  herangekommenen,  nun  direct  gegen  das  Fort 
vorrückenden  Entsatztruppen,  denen  ein  enthusiastischer  Empfang 
bereitet  wurde. 

Es  waren  im  Ganzen  1900  Mann  Amerikaner,  Deutsche, 
Italiener,  Japaner  und  Russen  unter  dem  Befehle  des  russischen 
Obersten  Schirinsky,  die  den  von  Mr.  Currie  angerathenen  Weg 
in  verkehrtem  Sinne,  durch  die  Dunkelheit  vor  Belästigungen 
durch  die  Chinesen  bewahrt,  in  der  Zeit  von  Mitternacht  zurück- 
gelegt hatten. 

Durch  diese  Entsatzcolonne  erfuhr  man  erst  die  Einnahme 
der  Taku-Forts  und  die  seitherigen  ernsten  Ereignisse  in  Tientsin 
selbst. 

Der  25.  Juni  wurde  der  Rast  der  Befreier  und  den  Vor- 
bereitungen für  den  gemeinsamen  Rückzug  gewidmet.  Letzterer 
sollte  auf  demselben  Wege  bewerkstelligt  werden,  den  die  Entsatz- 
truppen genommen  hatten,  diese  die  militärische  Sicherung  und 
das  Seymour'sche  Corps  nur  das  Tragen  der  Verwundeten  und 
Marschunfähigen  besorgen.  Da  es  ein  Ding  der  Unmöglichkeit 
gewesen  wäre,    den   Schatz   an  Kriegsmaterial   aus  Hsiku   mitzil- 

*)  Bericht  von  Sir  Edward  Se3rmoar,  27.  Juni  1900. 


129 

führen,  wurden  alle  Vorbereitungen  getroffen,  um  nach  dem  Ab- 
zug das  ganze  Arsenal  zu  zerstören.  Selbstverständlich  nahmen 
die  Nationen,  welchen  der  Zufall  passende  Gewehrmunition  in  die 
Hände  spielte,  davon  so  viel  sie  nur  konnten ;  Seecadet  Prochaska 
gab  am  25.  Juni  den  nicht  mehr  benöthigten  Proviant  an  andere 
Nationen  ab  und  nahm  dafür  gegen  4500  Patronen  für  Mannlicher- 
Gewehre  mit,  die  Deutschen  versahen  sich  ebenfalls  so  weit  als 
möglich  mit  Mauser-Munition. 

Die  meiste  Arbeit  bereitete  aber  die  Herstellung  von  Trag- 
bahren, doch  wurden  auch  solche  in  genügender  Zahl  rechtzeitig 
fertiggestellt. 

Am  Abend  setzten  die  vereinigten  Corps  über  den  Peiho, 
nur  einige  Deutsche  und  Engländer  blieben  zurück,  um  im  geeig- 
neten Momente  das  Arsenal  in  Brand  zu  setzen. 

Die  Todten  waren  schon  am  23.  und  24.  Juni  bestattet 
worden,  höhere  Rücksichten  verwehrten  es,  sie  mitzuführen. 

Am  26.  Juni  um  3  Uhr  morgens  erfolgte  der  Aufbruch;  der 
Marsch  ging  nur  langsam  und  stockend  vor  sich,  wurde  auch 
durch  die  Uebersetzung  des  Lutai-Canals,  welche  wegen  des 
schlechten  Zustandes  der  Brücke  mittelst  Booten  bewerkstelligt 
wurde,  sehr  verzögert,  so  dass  Tientsin  erst  um  9  Uhr  vormittags 
erreicht  wurde.  Die  Chinesen  enthielten  sich,  wiewohl  man  nicht 
weiter  als  zwei  englische  Meilen  von  ihrem  Hauptlager  im  Norden 
Tientsins  vorbeizog,  eines  Angriffes.*) 

Es  war  nicht  der  erhoffte  triumphale  Einzug  mit  den  aus 
Peking  befreiten  Gesandten  und  ihrem  Anhang,  nein,  das  Ex- 
peditions-Corps  selbst  hatte  unter  Noth  und  Drangsalen  aller  Art 
sich  nur  so  weit  durchschlagen  können,  bis  ihm  Tientsin  die  Hand 

*)  Die  wahren  Beweggründe  für  diese  auffallige  Passivität  der  chinesischen 
^fehlshaber  ans  Licht  zu  bringen,  dürfte  schwer  fallen.  Ich  theile  jedoch  folgende 
<^uf  bezügliche  mündliche  Erzählung  des  deutschen  Kaufmannes  Herrn  Detring  unter 
aUcm  Vorbehalte  mit:  »Im  Auftrage  eines  Kriegsrathes  der  verbündeten  Detachement- 
Commandanten  in  Tientsin  setzte  ich  mich  bei  Abgang  des  Entsatz-Corps  am  24.  Juni 
™it  dem  Vicekönig  in  Verbindung,  um  ihm  zu  erklären,  dass  jeder  Angriff  auf  die 
"^ckkchrende  Seymour-Colonne  den  sofortigen  Sturm  auf  die  City  zur  Folge  haben 
*ärdc.  Da  die  Chinesen  gerade  diesen  Sturm  fürchteten,  hatte  die  Drohung  den  ge- 
manschten Erfolg.«  Aus  dieser  im  April  1901  von  Herrn  Detring  einem  Officier  S.  M.  S. 
■Zentac  gemachten,  zwar  nicht  wörtlich  aber  sinngemäss  richtig  wiedergegebenen  Mit- 
theilong  ist  nicht  zu  entnehmen,  wer  Herrn  Detring  beauftragte  und  welche  Mittel 
«ctiterem  zum  Verkehre  mit  dem  in  seinem  Yamen  befindlichen  Vicekönig  Yü-Lü  zur 
Verfügung  standen,  das  weitab  von  der  Fremden niederlassung  liegt.  Keiner  der  zahl- 
"^chen  bisher  in  die  Oeffentlichkeit  gelangten  Berichte  der  Officiere  über  die  Vorgänge 
*  Timtsin  erwähnt  die  Uebertragung    und  den  Erfolg  der  Mission  Herrn  Dctring's  an 

ViMMlMlder:  Kämpfe  in  China.  9 


130 

reichte,  und  die  lange  Reihe  von  Tragbahren  mit  den  marsch- 
unfahigen  Verwundeten  und  ihre  Träger  selbst  in  ihrem  die 
deutlichsten  Spuren  der  überstandenen  Kämpfe  gegen  Wider- 
wärtigkeiten verschiedenster  Art  verrathenden  Aeussern  machten 
einen  düsteren  Eindruck,  aber  trotzdem  war  es  für  Tientsin  ein 
Tag  der  Freude,  die  wackeren  Kämpfer  wiederzusehen  und  ihnen 
ein  herzliches  Willkommen  zu  bieten,  die  Gastfreundschaft  der 
Belagerten  erweisen  zu  können ! 

Und  welche  Zuversicht  brachten  nicht  die  Rückkehrenden 
selbst  mit,  die  unter  bitteren  Entbehrungen,  ganz  auf  sich  gestellt, 
doch  in  unablässigen  Kämpfen  gegen  starke  Uebermacht  ihre 
Waffenehre  bewahrt  und  den  sich  entgegenstellenden  Feind  jedes- 
mal geschlagen  hatten! 

62  Todte  und  228  Verwundete  war  der  Preis,  mit  dem  der 
kühne  Versuch  eingelöst  hatte  werden  müssen  —  fürwahr  ein 
hoher  im  Vergleich  zum  directen  sichtbaren  Misserfolge! 

Was  die  unmittelbaren  Ursachen  des  Scheiterns  der  ganzen 
Expedition  gewesen,  liegt  auf  der  Hand:  die  Haltung  der  chinesi- 
schen Regierung,  die  zuerst  versteckt,  dann  offen  die  Partei  der 
Boxer  ergriff. 

Ob  Vice-Admiral  Seymour  nicht  diese  Haltung 
der  Regierung  in  Rechnung  ziehen  musste?  Gewiss, 
noch  gewisser  aber,  dasserund  die,  welche  sich  seinem 
waghalsigenVorsatzanschlossen,sohandelnmussten! 

Wie  die  Dinge  in  China  seit  jeher  lagen  und  wie  sie  sich 
gerade  in  jenen  denkwürdigen  Junitagen  entwickelt  hatten,  gab 
es  zur  Abwendung  gefahrlicherer  Folgen  nur  ein,  allerdings 
äusserstes  Mittel :  den  chinesischen  Hochmuth,  hinter  dem  doch 
so  viel  Schwäche  und  uneingestandene  Feigheit  steckt,  zu  ver- 
blüffen —  bereit,  wenn  der  Versuch  fehlschlagen  sollte,  auch 
kalten  Blutes  dafür  Alles  eher  als  die  Ehre  zu  verlieren,  dass 
man  sich  nicht  einschüchtern  Hess. 

Dieser  Standpunkt  allein  hat  bisher  den  Westländern  zu 
Erfolgen  verholfen,  dem  Einzelnen,  wie  in  ihrer  Gesammtheit,  zu 
unmittelbaren  Erfolgen  und  solchen,  die  die  zähe  Beharrlichkeit 
gezeitigt  hat,  wenn  eine  energische  Handlung,  mit  allzu  unzu- 
reichenden Mitteln  unternommen,  zuerst  einen  Misserfolg  gebracht 
hatte. 

Es  ist  auch  nicht  der  Standpunkt  des  Engländers  allein,  von 
dem  der  englische  Admiral  ausging  —  nein,  es  ist  der  einzig 
richtige  für  uns  Fremde  überhaupt,  schon  darum  der  einzige 
richtige,    weil    sich    in    ihm    die   höhere  moralische  Kraft 


131 

schluss  und  That  ausdrückt,  die  allein  uns  den  Vorrang   vor    den 

chinesischen  Millionen  sichert !  Deshalb  ist  es  gefehlt,  Vice-Admiral 

Seymour  den  Vorwurf   zu  machen,    wie    von    mancher   Seite    ge- 

schelien,  er  habe  den  Zug  nach  Peking  übereilt  nur  aus  dem  einzigen 

GruTide  angeregt,  um  seiner  Nation  das  Prestige  der  Führerschaft 

zu  sichern  und  dadurch  die  Schuld  an  einer  militärischen  Schlappe 

auf    sich  geladen,    welche  die  Chinesen    ermuthigen  musste,    noch 

keclcicr  ihr  Haupt  zu  erheben.     Ist   es    glaublich,    dass   der  Noth- 

schr^i  aus  Peking  bei  den  Admiralen    ungehört  verblieben  wäre? 

Gew^iss  nicht,    nur  wollte  es  der  Zufall,    dass  der  Ruf  nach  Hilfe 

zuerst  vom  Gesandten  Grossbritanniens    und    doch    nur    natürlich 

an  den  grossbritannischen  Admiral  gerichtet  wurde,    der  überdies 

im  gfegebenen  Momente    auch    über    zahlreichere  Machtmittel    als 

irgend  ein  anderer  seiner  CoUegen  verfügte. 

Gegenüber  dem  mehrseitigen  minder  günstigen  Urtheil  über 
Sir  Edward  Seymour,  für    das   in    während   der  Expedition  selbst 
ents-tandenen     Fragen     vielleicht     eher    Anhaltspunkte     gefunden 
werden  könnten,*)    muss  hervorgehoben  werden,  dass  die  chinesi- 
schen Heerführer    doch    recht    ungehalten    darüber    sein   mussten, 
die  2000  Mann  nicht  haben  aufreiben  zu  können  —  wenn  sie  sich 
auch  mit  einem  Siege  brüsteten,  der  ihnen  aber   das  Arsenal  von 
Hsiku  mit  seinen  kostbaren  Vorräthen  kostete;    auch  ist  nicht  zu 
vergessen,    dass   der  Vormarsch  der  Colonne  einen  ganz  erkleck- 
Uchen  Theil  der  Pekinger    und    Tientsiner    chinesischen  Truppen 
durch  volle  17  Tage  band.     Schliesslich    war    für    die    in    Peking 
Eingeschlossenen    die  freilich  nur  einer  glücklichen  Illusion  gleich- 
werthige  Hoffnung    auf   einen  Erfolg    des  Entsatz-Corps    doch    in 
den  ersten  Tagen  ihrer  Bedrängniss  von  nicht  zu  unterschätzender 
moralischer  Bedeutung. 

Nach  der  Rückkehr  richtete  Vice-Admiral  Seymour  sowohl 
an  den  Seecadeten  Prochaska  als  einige  Tage  später  an  den 
Commandanten  S.  M.  S.  »Zenta«  ein  in  sehr  schmeichelhaften 
Ausdrücken  gehaltenes  Dankschreiben,  in  welchem  der  getreuen 
Pflichterfüllung  der  kleinen  Schaar  unter  den  denkbar  schwierig- 
sten Verhältnissen  die  verdiente  volle  Anerkennung   gezollt  wird. 


•)  Z.  B.  Unentscbiedcnheit  in  der  Botschaft  vom  17.  Juni  an  die  Traincomman- 
danten zu  Langfang  und  Lofa;  die  Absicht,  einem  so  gefährlichen  Platz  wie  Hsiku 
auszuweichen,  statt  ihn  zu  nehmen,  wodurch  man  in  diesem  speciellen  Falle  wieder 
vorne  nnd  im  Rücken  gefasst  worden  wäre.  Die  thatsächliche  Einnahme  Hsikus  erfolgte 
BOT  duch  den  Zwang  überraschender  Umstände. 

9* 


132 

Wenden    wir   uns    nun   aber  den  Ereignissen  in  Tientsin   zu. 

Hier  war  vorerst  das  Interesse  durch  die  Nachrichten  über 
die  Fortschritte  der  Seymour -Expedition  gebunden,  die  allerdings 
immer  schlechter  lauteten  und  am  14.  Juni  endlich  ganz  aufhörten. 

Die  Abfahrt  der  Züge  mit  den  Verstärkungen  für  die 
Seymour-Colonne    hatte    einige  Aufläufe    chinesischen   Mobs    am 


Bahnhof  verursacht,  die  jedoch  leicht  zersprengt  wurden;    am  11. 
schlössen  schon  viele  Chinesen  ihre  Läden. 

Dass  sich  ausserhalb  der  Stadt,  im  Rücken  Seymour's,  be- 
deutende Massen  Boxer  sammelten,  war  bekannt,  man  sprach  von 
20.000^30.000  Mann ;  die  europäerfreundlichen  Chinesen  in  der 
Stadt  begannen  -sich  sehr  beunruhigt  zu  fühlen,  da  sie  von  Boxfim 
bedroht  wurden,  und  verliessen,  ebenso  «^  "^  bü  < 


und  Kinder  der  Fremden,  vom  14,  Juni  an  zu  Tausenden  ihre 
Wohnsitze,  um  mit  ihrer  beweglichen  Habe  nach  Shanghai  zu 
flüchten.  Durch  ihre  Aussagen  gewarnt,  verschärften  die  Fremden 
ihre  Wachsamkeit  und  übten  sehr  genaue  Controle  über  alle  die 
Fremdenniederlassung  passirenden  Chinesen  —  keine  kleine  Auf- 
gabe, wenn  man  bedenkt,  dass  die  meisten  abziehenden  Chinesen 
vor  der  Abreise,  um  ihre  Angelegenheilen  zu  ordnen,  noch  die 
Fremdenviertel  aufsuchten. 

Am  14.  Juni  trafen  als  Verstärkung  für  Tientsin  1000  Russen 
—  ostsibirische  Schützen  —  mit  einer  halben  Sotnie  Kosaken  und 
4  Feldgeschützen.  100  Japaner,  endlich  je  eine  deutsche  und 
englische  arniirte  Dampfbarkasse  ein,  denen  tagsdarauf  noch 
30  Amerikaner  und  80  Franzosen  folgten,  so  dass  mit  15.  Juni  rund 
2O00  Mann  zur  Vertheidigung  der  Stadt  verfügbar  waren.  Ein 
Blick  auf  die  Karte  zeigt,  dass  diese  Zahl  noch  recht  schwach 
genannt  werden  muss. 

Die  Fremdenniederlassungen  bilden  den  südöstlichsten,  am 
rechten  Peiho-Ufer  gelegenen  Theil  des  ganzen,  durch  eine  Um- 
wallung begrenzten  Stadtgebietes  und  von  ihnen  liegt  das  fran- 
zösische Settlement  den  chinesischen  Stadtlheilen  am  nächsten ; 
gegenüber  der  französischen  Niederlassung  ist  auf  dem  linken 
Ufer  der  Balmhof  angelegt,  in  dessen  Nähe  in  den  letzten  Jahren 
eine  Menge  chinesischer  Häuser  entstanden  waren  und  dessen 
Besitz  naturgemäss  ebenso  wichtig  wie  jener  eines  der  von 
l'reraden  bewohnten  Theile  war.  Als  Verbindung  zwischen  beiden 
V3fern  diente  an  dieser  Stelle  eine  Schiffbrücke. 

Westlich  der  französischen  Niederlassung,  die  mit  den  chine- 
sischen Stadttheilen  nur  durch  einen  schmalen  Streifen  chinesischer 
Hiuser  zusammenhing,  lag  auf  dritthalb  Kilometer  noch  innerhalb 
des  mit  einem  schiffbaren  Vorgraben  versebenen  Erdwalles  das 
Haikwantsu-Arsenal,  auch  West-  oder  kleines  Arsenal  genannt, 
•Wrdwestlich  die  wieder  mit  circa  zehn  Meter  hohen  Mauern  ein-' 
gefa-sste,  stark  besetzte  City,  der  älteste  Theil  der  Chinesenstadt, 
•^ren  gut  armirte  Citadelle  als  Noyau  der  ganzen  chinesischen 
Stellung  anzusehen,  und  im  Flussknie  zwischen  der  Einmündung 
"Im  aus  Westen  kommenden  Kaisercanales  (Yunho)  und  des  Lutai- 
^^nales  das  mit  modernen  Geschützen  armirte  schwarze  Fort 
"nti  das  Yamen  des  Vicekönigs,  welches  die  Chinesen  durch 
ßauten  aus  Eisenbahnschwellen  und  Erdsäcken  befestigten.  Hieran 
whba.ten  gegen  Norden  und  Nordosten  leicht  befestigte  Militär- 
'ijfer,  barackenartige,  mit  einem  Lehmwalle  umgebene  Unter- 
^fte. 


Auf  dem  linken  Ufer  stand  gegenüber  dem  noch  nicht  vällifj 
ausgebauten  deutschen  Settlement  die  Kriegsschule,  ein  gleichfalls 
mit  Wall  umgebener  Complex  von  Gebäuden,  in  denen  nebst  den 
Kriegs  schillern  Waffen  und  Ausrüstungsmaterialien  untergebracht 


waren;  dieser  Stützpunkt  für  chinesische  .■Vugriffsoperationen  war 
der  nächste  an  den  Settlements.  Oestlich  davon,  etwa  vier  Kilo- 
meter vom  Flusse  und  ausserhalb  des  Lehmwalles,  der  auf  dieser 
Seite  der  Stadt  jedoch  des  Vorgrabens  entbehrt,  befand  sich  das 
befestigte,  sehr  ausgedehnte  Ost-Arsenal  mit  seinen  im  grossen, 
modernen  Style  angelegten  Pulverniühlen  und  Werkstätten  für 
Gewehr-  und  selbst  Geschützfabrication ;  dieses  Arsenal  war  mit 
Wal!  und  Graben  versehen,  stark  besetzt  und  bot  den  Chinesen 
einen  vortrefflichen  Ausgangspunkt. 

Die  Fremdenniederlassungen  —  in  der  Reihenfolge  von  Nord- 
west nach  Südost;  die  französische,  englische  und  deutsche  — 
konnten  somit  aus  den  Richtungen  von  Nordwest  über  Nord  bis  Ost 
angegriffen  werden  und  hatten  nur  gegen  Südost  l.uft:  an  dieser 
Stelle  führte  eine  Strasse  auf  dem  rechten  Peiho-Ufer  nach  Taku. 
Der  Umstand,  dass  die  grossen,  bei  Tientsin  oberhalb  der  Fremden- 
nicderlassungen    in    einen    Knoten    zusammenlaufenden    \Vrkehrs- 


Strassen,  Hunho,  Kaiser-  und  Lutai-Canal  durch  die  Chinesen  viertel 
gedeckt  sind,  erschwerte  es  der  alliirten  Garnison  ausserdem,  sich 
von  den  Zuzügen  chinesischer  Truppen  ein  Bild  zu  machen,  so  dass 
man  die  Stärke  des  Gegners  nur  combiniren  oder  schätzen  konnte. 

Ein  günstiger  Umstand  lag  darin,  dass  am  linken  Ufer 
beiderseits  des  Bahnhofes  keine  grosseren  und  festeren  Ge- 
bäude bestanden,  in  denen  die  Chinesen  dauernd  festen  Fuss 
hänen  fassen  können,  indem  diese  Strecke  durch  die  grossen  Salz- 
haufeit  belegt  war;  gegen  Nordwesten  vom  Bahnhofe  dehnte  sich 
ein  relativ  leichter  zu  beherrschendes  Gräberfeld  aus,  während 
am  linken  Peiho-Ufer  selbst  bis  zur  Militärschule  nur  drei  Dorfer, 
durch  grössere   freie  Abschnitte   von    einander   getrennt,   standen. 

Die  nächste  Umgebung  der  Stadt  wird  durch  wenig  culti- 
virtcs,  zur  Regenzeit  meist  unter  Wasser  stehendes  und  von 
mancherlei  Gräben    und  Canälen  durchzogenes  Tiefland    gebildet. 


iiulcm  jedoch  kleine  Dörfer  noch  immer  genügend  viele  Deckungs- 
[lunkte  für  Angreifer  bieten. 

Dii-  Bauart  der  Häuser  in  der  Fremdenniederlassung,  welche 
d>T  Hauptsache  nach  einen  nur  wenig  breiten,  parallel  zum  Ufer  — 


136 

Bund  genannt  —  laufenden  Streifen  darstellt,  ist  die  für  den  Osten 
typische :  massive  Stein-  und  Ziegelbauten,  die  immerhin  einigen 
Schutz  gegen  Granatfeuer  gewähren.  Am  stärksten  war  die  Gordon- 
(Town)  Hall  im  englischen  Settlement,  die  auch  gewölbte  Souterrain- 
localitäten  hatte. 

Der  am  meisten  exponirte  Theil  des  ganzen  ungefähr  zehn  bis 
zwölf  Kilometer  Umfang  besitzenden  Raumes,  den  die  Fremden  ver- 
theidigen  mussten,  war  das  französische  Settlement  mit  dem  gegen- 
überliegenden Bahnhof;  er  wurde  durch  Franzosen,  Japaner  und 
Russen  besetzt;  letztere  legten  400  Mann  mit  zwei  Geschützen  in 
den  Bahnhof  selbst.  Das  englische  Settlement  wurde  durch  Eng- 
länder und  Oesterreicher  -  Ungarn  bewacht,  der  Bund  des 
deutschen  Settlements  und  letzteres  selbst  waren  Deutschen  und 
Italienern  zugewiesen;  die  Amerikaner,  anfanglich  im  englischen 
Viertel  bequartiert,  übernahmen  die  Vertheidigung  des  westlichsten 
Theiles  der  französischen  Niederlassung.  Das  deutsche  und  das 
zweite  einen  mehr  internationalen  Charakter  tragende  Frei- 
willigen-Corps*) nahm  an  der  Bewachung  der  respectiven  Settle- 
ments Theil,  leistete  aber  auch,  durch  seine  Localkenntniss  hiezu 
vorherbestimmt,  namentlich  im  Meldedienste  —  zu  Pferd  und 
auf  dem  Fahrrad  —  sehr  gute  Dienste. 

Von  den  10.000  Mann,  über  die  General  Nieh  verfügte  und 
die  nach  Bew^aifnung  und  der  bisher  von  Europäern  beeinflussten 
Ausbildung  als  die  Elite  chinesischer  Truppen  galten,  wusste  man 
den  grössten  Theil,  d.  i.  circa  5000  Mann  in  der  Nähe  der  Stadt 
und  gegen  Norden  längs  der  Bahn.  Am  15.  Juni  abends  rief 
Oberst  Wogack  die  fremden  Detachements-Commandanten  zu- 
sammen und  theilte  ihnen  mit,  dass  von  Nieh's  Truppen  2000  Mann 
nach  Taku  zur  Verstärkung  der  Forts  abgegangen  seien,  woraus 
sich  die  Absicht  der  chinesischen  Regierung  folgern  liess,  weitere 
Landungen  fremder  Truppen  mit  Gewalt  verhindern  zu  wollen. 
Hiemit  war  die  Gefahr  einer  Abschliessung  Tientsins  von  der  See, 
der  man  mit  allen  Mitteln  vorbeugen  musste,  sehr  nahe  gerückt 
und  deshalb  wurden  noch  um  10  Uhr  Nachts  200  Mann,  und  zwar 
Russen  mit  einem  Zug  gegen  Taku  instradirt,  der  glücklich  eine 
kleine  Eisenbahnbrücke  passirte,  bevor  Boxer  sie  zerstörten. 

Am  Abend  wurde  die  Telegraphenleitung  nach  Tongku 
unterbrochen,  doch  functionirte  einstweilen  noch  das  Telephon. 

In  der  Nacht  vom  15.  auf  den  16.  Juni  begannen  die  Boxer  die 
Feindseligkeiten  im  Weichbilde  der  Stadt;  gegen  12 V2  Uhr  brach 

*)  In  diesem  hatte  sogar  ein  Chinese  Aufnahme  gefunden,  der  selbst  nicht  ein- 
mal vor  dem  Opfer  seines  Haarschmuckes  lurückschreckte ! 


iler  Chinesenstadt  ein  rasch  um  sich  greifender  Brand  aus, 
wüstes  Geschrei  »Scha-scha!»  (Tödtet  sie!)  hallte  herüber  und  liess 
keinen  Zweifel  mehr  darüber,  dass  die  Boxer  ihre  friedlicheren 
Brüder  überfallen  hatten.  Gleichzeitig  ertönten  jedoch  vom  Bahn- 
hofe her  Gewehrsalven  —  die  Russen  waren  angegriffen  worden 
und  vertrieben  die  anstürmenden  Boxer  mit  Gewehrfeuer,  das 
08  Unverwundbaren  das  Leben  kostete. 

Bereits    auf   den  Feuerlärm    hin    war    die  Crarnison   auf  ihre 
Alarmstationen    geeilt;    Linienschiffs -Lieutenant  Indrak   hatte  mit 


Zurücklassung  einer  kleinen  Wache  im  Hause  Herrn  Osbome's 
das  den  Oesterreichern-Ungam  zugewiesene  Stück  Wall  besetzt, 
doch  blieb  auf  dieser  Seite  Alles  ruhig  und  wurde,  nachdem  die 
Nachricht  von  der  gelungenen  Abwehr  des  Box  er- Angriffes  gegen 
lue  Bahn  eingetroffen,  nach  Verstärkung  der  Wallposten  um  3  Uhr 
morgens  wieder  eingerückt.  Eine  Stunde  darauf  erfolgte  wieder 
«ine  Alarmirung,  hervorgerufen  durch  das  Heranrücken  einer  auf 
1000  Mann  geschätzten,  theilwcise  schon  mit  Gewehren  be- 
waffneten Boxerbande  auf  der  Takustrasse;  einige  Lagen  aus  zwei 
englischen  Maxim-Kanonen  genügten  jedoch,  um  den  Angreifem 
die  Nutzlosigkeit    ihres  Beginnens  zu  beweisen,    und  sie    kehrten 


mit  unbedeutenden  Verlusten  schleunigst  um.  —  Die  Brände  in 
chinesischen  Vierteln  waren  an  acht  Stellen  ausgebrochen 
dauerten  bis  in  den  Morgen  hinein;  von  der  Militärschule  her  fielei 
einige  Schüsse  gegen  deutsche  Posten,  ohne  aber  Jemanden  zu  treffen 
Beim  zweiten  Alarm  waren  Frauen  und  Kinder  in  die  Town-Hal 
geflüchtet,  am  Morgen  kehrte  aber  Alles  wieder  in  die  Hausei 
zurück. 

Diese  Nacht  war  nur  eine  kleine  Probe  der  Boxer  gewe&en^ 
allerdings  unter  der  Patronanz  Yü-Lü's,  dessen  Truppen  unthätig 
zusahen.  Am  16.  Juni  herrschte  tagsüber  Ruhe  in  der  Stadt,  wenn 
man  das  aufgeregte  Getriebe  der  besitzenden  Chinesen,  die  sich 
in  .Sicherheit  zu  bringen  tr.ichteten,  so  nennen  darf. 

Die  Visitation  aller  die  unter  österreichisch-ungarischer  lie- 
wachung  stehende  Zone  passirenden  Chinesen  war  keine  klei 
aber  eine  sehr  nothwendige  Aufgabe,  denn  bei  mehreren  wurdea 
versteckte  Waffen*)  gefunden  —  die  Poltzeistuben  in  den  Settl& 
ments  waren  bald  mit  allerhand  recht  zweifelhaften  bezopftci 
Ehrenmännern  überfüllt;  vorderhand  lebte  man  aber  noch  imme^ 
n  Regierung  in  Frieden, 
von  weissen  Frauen  und  Kindern  und 
ich  fort:  viele  der  letzteren  nahmen,  da  die  Züge 
f  Dschunken  den  Weg  den  Peiho  hinab  und 
fielen  dadurch  den  mord-  und  raub« 
lustigen  Boxern  in  die  Hände. 

DieXacht  verlief  ziemlich  ruhig| 
an  einigen  Stellen  im  Chinesentheil 
brannte  es  wieder,  eine  Erscheinung,' 
die  nunmehr  fortdauerte,  so  lange 
noch  etwas  Brennbares  da  war.  In 
Militärkreisen  wusste  man  von  der 
Ueber  reichung  des  U  Itimatums  wegen 
der  Uebergabe  der  Forts  und  wi 
daher  aufs  Aeusserste  gespannt. 

Am  17.  Juni  morgens  erfühl 
man  in  Tientsin  die  Einnahme  dM 
Tiiku-Forts  durch  einen  um  8  Uhl 
eingetroffenen  Patrouillenzug; 
Tientsin  war  weder  das  GeschütZ' 
feuer  noch  eine  der  gewaltigen  Explosionen  gehört  worden.  Gleicll 
zeitig  rückten  Seecadet  Rudolf  Burgstaller  und  zwei  Unterofßden 

*l  Scccadsl   Leschanowsk}^  enlwaffnLlc  liirt  lUrttiq    AaUm»  noch  itr.bttcltic  4 
CUM*en.  der  gcucii  Aea  Visiiin-ndcn  cincu  Dolch  uniicki  halte. 


mit  der  chinesisch! 

Der    Exodus 

Chinesen  dauerte  n 

überfüllt  waren,    a 


imn   Detachcmeiit    Indrak    als    Ersatz   für   die   mit    der   Seymour- 
Expedition  abgegangenen  ein. 

Vom  Augenblicke  an,  wo  die  Erstürmung  und  Besetzung  der 
Mündungssperre  am  Peiho   bekannt   geworden,    musste    man    sich 
auch    in     Tientsin     auf    Feindseligkeiten 
seitens  der  regulären  chinesischen  Truppen 
gefasst  machen. 

Schon  einige  Tage  vorher  war  bei 
B(ssprechungen  der  Gedanke  zum  Aus- 
druck gekommen,  den  Chinesen  das  Prä- 
vMiire  zu  spielen  und  die  beiden  Arse- 
nale wegzunehmen,  sowie  der  Ausbruch 
von  offenen  Feindseligkeiten  nicht  mehr 
tu  vermeiden  wäre:  der  Gedanke  reifte 
jedoch  nicht  bis  zu  einem  Plane,  da  man 
sich  für  zu  schwach  hielt,  um  die  voraus- 
MChtlichen  Verluste  zu  ertragen,  haupl- 
sfichlich  aber  um  die  Objecte  besetzt  zu 
halten.  L™i«schiff,.Lir.,«^^t  ind«k. 

Die  Nähe  der  Militärschule,  in  der 
sich  noch  immer  ein  Theil  der  Kriegsschüler  befand  und  aus  der  schon 
gegen  die  Fremden  nieder  lassung  geschossen  worden  war,  schien 
aber  dem  österreichisch-ungarischen  Detachement - Commandanten 
iloch  zu  bedenklich  und  er  besprach  mit  den  nächstbetheiligten 
Officieren,  dem  deutschen  Capitän- Lieutenant  Kühne  und  dem 
Italienischen  Linienschiffs-Lieutenant  Carlotto,  femer  mit  dem  eng- 
It^hen  Linienschiffs-Capitän  Bayly  und  dem  russischen  Oberst 
Wogack  die  Angelegenheit.  Sein  Vorschlag,*)  nachmittags  3  Uhr 
«äien  Coup  ins  Werk  zu  setzen,  fand  volle  Beistimmung;  die  Russen 
ttotaiten  sich  jedoch  wegen  der  Exponirtheit  ihrer  Stellungen  an 
"^cm  Unternehmen  nicht  betheiligen. 

Um  2V«  Uhr  nachmittags  sammelten  sich  die  kleinen  Con- 
tingfente.  40  Mann  von  -Zenta.«,  50  Deutsche  mit  2  Landungs- 
ffcschützen  und  einem  Maschinengewehr,  30  Engländer,  Marine- 
In^terie  unter  Major  V.  Luke  und  25  Italiener  am  Bund  nächst 
'lern  Astor-Hause. 

Die  Ueberschiffuog  sollte  mit  der  deutschen  Dampfbarkasse 
mit  einem  grossen  Boote  in  Schlepp  vorgenommen  werden. 

*)  Der  Anspradi  auf  die  tnitialive  ladiak's  isl  acleninvUsig  ccwiesen;  bciüglich 
'fct  Comniäiiilofühniiig.  die  omürlich  nur  im  wcilcrcn  Sinne  des  Worles  geübt  wurde, 
<*ra^  et  sich  Tun  selbst,    dost   sie  dem  rnogshöclislen  OMcicr.  dem  «Dglischen  Major 

V   Lake.  lofirl. 


140 

Die  Abtheilungen  formirten  sich  gerade,  als  um  2  Uhr  30  Min. 
plötzlich  aus  dem  schwarzen  Fort  ein  Kanonenschuss  fiel  und  die 
Granate  in  dem  nahen  japanischen  Consulat  crepirte ;  gleich  darauf 
sauste  eine  zweite  dicht  über  die  Truppe  hinweg,  die  nun  rasch 
in  die  Deckung  des  Astor-Hauses  gebracht  wurde.  Das  Bombarde- 
ment hatte  begonnen  und  war  im  vollsten  Gange,  so  dass  die 
Nichtcombattanten  eilends  in  die  Town-Hall  flüchteten. 

Nun  hiess  es  aber  rasch  handeln,  bevor  die  Chinesen  viel- 
leicht auch  aus  der  Militärschule  das  Feuer  eröffneten,  und  deshalb 
wurden  eiligst  die  letzten  Modalitäten  besprochen.  Deutsche, 
Italiener  und  Oesterreicher-Ungarn  sollten  durch  das  Westthor 
am  Ufer,  die  Engländer  durch  das  Nordthor  eindringen. 

Zuerst  überschifften  sich  die  Deutschen  unter  dem  Schutze 
der  übrigen  Abtheilungen,  welche  bereit  standen,  um  den  Wall  der 
Schule  unter  Feuer  zu  nehmen,  mit  einem  Geschütz  und  dem 
Maschinengewehr,  fanden  das  Thor  unbesetzt  und  postirten  ihr 
Geschütz  im  Hofraum,  das  Maschinengewehr  im  Thorweg  selbst; 
dann  folgten  Oesterreicher-Ungarn  und  Italiener  mit  der  zweiten, 
die  Engländer  mit  der  dritten  Ueberfuhr.  Die  Flussübersetzung 
ging    trotz    des  Bombardements    ohne   Verluste  von  Statten. 

Bei  der  Ankunft  des  österreichisch-ungarischen  Detachements 
fielen  aus  dem  oberen  Stockwerk  eines  Gebäudes,  in  das  sich  die 
überraschten  Chinesen  zurückgezogen  und  dessen  Thore  und 
Fenster  im  P>dgeschosse  sie  eilends  verrammelt  hatten,  die  ersten 
Schüsse  und  so  stürmten  die  Detachements  gegen  das  Gebäude 
im  Laufschritt  vor,  die  Abtheilung  Indrak  um  die  vorstehenden 
Häuser  herum  gegen  die  Südfront,  Deutsche  und  Italiener  gegen 
die  Westfront. 

Dicht  unter  die  Mauer  anlaufend,  hatte  man  die  gefahrliche 
Zone  bald  durchmessen.  Die  Chinesen  wagten  nicht,  sich  zur  Ab- 
gabe von  Senkschüssen  zu  exponiren,  und  nun  hiess  es,  in  das 
Haus  eindringen ;  die  Fensterladen  wurden  eingeschlagen,  das 
Thor  widerstand  länger,  und  als  endlich  ein  vorübereilender 
deutscher  Matrose  es  mit  einem  Beile  sprengen  wollte,  fiel  er 
durch  einen  Schuss  in  die  Brust  tödtlich  getroffen,  ein  zweiter 
wurde  leicht  verwundet.  Im  Nu  waren  aber  die  Angreifer 
drinnen  und  feuerten  nun  gegen  die  Decke  —  mit  so  gutem 
Erfolge,  dass  von  den  ober  ihnen  befindlichen  Chinesen  25  fielen, 
wie  später  constatirt,  und  der  Rest  auf  den  Aussichtsthurm 
flüchtete. 

Als  nun  die  Deutschen,  Italiener  und  Engländer  folgten, 
Hess    Linienschiffs-Lieutenant    Indrak     das    Feuer    einstellen    und 


141 

theilte  seine  Leute,  um  die  nächstgelegenen  Magazine  und  Pavillons 
zu  untersuchen  und  zu  besetzen ;  auf  dem  Wege  dahin  wurden  sie 
von  dem  Aussich tsthurm  noch  lebhaft  beschossen,  doch  nur  ein  Mann, 
Maschinenmaat  Pauer,  durch  einen  Streifschuss  leicht  verwundet. 
Linienschiffs-Lieutenant  Indrak  drang,  gefolgt  von  10  Mann 
seiner  Leute,  einigen  Deutschen  und  Italienern  in  den  WaflFensaal 


Aimriff  auf  die  Miiitärschule 
am  17.  Juni 

D«ntsche  Englinder       ...    Die  dick  bezeichneten  Linien  zeigten 

Österreioher-Ungarn.and  Italiener        mn,  d%s&  geschossen  warde. 


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..  ij  W$»t'Thor 


1  Munition  und  Riemenzeug'.  >|       •  Honturen 

2  Geschütze  und  Waifen       "iü       4  Schuhwerk  und  Kappen 


ein,  wo  er  die  dort  vorgefundenen  12  Geschütze  durch  Heraus- 
nehmen der  Verschlüsse  unbrauchbar  machen  und  eine  Anzahl 
Gewehre  wegnehmen  Hess. 

Inzwischen  hatten  die  Deutschen  und  Engländer  mit  den  noch 
übrigen,  sich  zur  Wehre  setzenden  Chinesen  aufgeräumt,  von  den 
50  Kriegsschülern  —  lauter  Mandschu  —  soll  keiner  ent- 
kommen sein. 


142 

Die  SeecadettenBurgstaller  und  Leschanowsky  waren  weniger 
glücklich  gewesen  und  hatten  die  durchsuchten  Gebäude  verlassen 
und  leer  gefunden. 

Da  der  ganze  Complex  der  Kriegsschule  zu  ausgedehnt  war, 
um  ihn  dauernd  zu  besetzen,  so  entschloss  man  sich,  die  Gebäude 
durch  Brand  zu  zerstören,  für  alle  Fälle  aber  auch  das  nächste 
Dorf  flussaufwärts  anzustecken. 

Beides  geschah  von  mehreren  Stellen  aus. 

Es  war  hohe  Zeit,  wieder  zurückzukehren,  denn  schon  hatte 
das  bombardirende  Fort  begonnen,  Shrapnels  gegen  die  Militär- 
schule zu  werfen,  die  aber  glücklicherweise  nur  an  den  höheren 
Theilen  der  Gebäude  Schaden  anrichteten. 

Die  Ueberschiffung,  während  der  die  mitgenommenen  Geschütz- 
verschlüsse versenkt  wurden,  ging  ebenfalls  wieder  glücklich 
vor  sich  und  im  Settlement  wurden  die  Truppen  mit  lautem  Bei- 
falle empfangen. 

Die  ganze  Affaire  hatte  nur  anderthalb  Stunden  gedauert 
und  stellte  hauptsächlich  durch  die  Unbrauchbarmachung  der  Ge- 
schütze einen  glücklichen  Erfolg  von  dauerndem  Nutzen  dar; 
allerdings  hatte  sie  einige  Opfer  gekostet,  den  Deutschen  und 
Engländern  je  einen  Todten  und  zwei  Verwundete,  den  Italienern 
und  den  Oesterreicher-Ungarn  hingegen  nur  je  einen  Leicht- 
verwundeten. 

Das  Bombardement  dauerte  bis  5  Uhr  abends  fort ;  inzwischen 
waren  russische  Feldgeschütze  am  französischen  Bund  in  gedeckte 
Position  gebracht  worden  und  konnten  um  4V«  Uhr  mit  der  Er- 
widerung des  Feuers  beginnen,  so  dass  die  Chinesen  es  eine  halbe 
Stunde  später  für  gerathen  fanden,  ihr  Feuer  vorläufig  ein- 
zustellen. 

Während  der  Einnahme  der  Militärschule  war  man  in  den 
drei  Niederlassungen  angestrengt  thätig  gewesen,  sich,  so  gut  es 
eben  ging,  in  Vertheidigungszustand  zu  setzen.  Aus  Ballen  ge- 
presster  Baumwolle  wurden  an  ungeschützten  Stellen  und  am  Bund 
Barricaden  improvisirt,  die  ausgezeichnete  Dienste  leisteten,  da  sie 
ganz  schuss-  und  vermöge  der  starken  Pressung  auch  ziemlich 
feuersicher  waren  und  schliesslich  auch  die  Ausbesserung  einzelner 
Stellen  keine  Schwierigkeit  bot.  In  der  Eile  waren  auch  Reissacke 
zu  ähnlichem  Zwecke  aufgestapelt  worden,  ein  unliebsamer  Miss- 
griff, denn  die  Säcke  platzten  bald,  der  Reis  begann  nach  dem 
ersten  Regenschauer  zu  faulen  und  recht  übel  zu  riechen ;  schliess- 
lich fanden  sich  aber  doch  Kulis,  die  ihn  auch  in  dieser  vorläufigen 
Zubereitung  nicht  verschmähten. 


Der  Tientsin-Qiib  wurde  wegen  seiner  geschützten  Lage  und 
(k-r  Grösse  seiner  Räume  in  ein  Hospital  umgewandelt,  dessen 
Ausstattung  mit  Betten  u.  dgl.  besorgten  die  einzelnen  Familien 
und  so  fanden  Aerzte  und  Verwundete  eine  relativ  sichere  und 
mit  allem  Nötliigen  versehene  Unterkunft;  als  ein  besonderes 
Glück  für  die  eingeschlossenen  Fremden  im  Allgemeinen,  die  Ver- 
wundeten und  Kranken  aber  insbesondere  ist  es  anzusehen,  dass 
nebst  genügenden  Vorräthen  an  Lebensmitteln,  Getränken,  Arzneien 
und  Verbandzeug  auch  Eis  in  mehr  als  ausreichender  Menge  zur 
Hand  war. 

Kaum  von  seinem  ersten,  so  erfolgreichen  Gefechte  zurück- 
gekehrt,   rückte    das   Detachement    der    -Zenta«    sogleich    in    die 


Stellung  auf  dem  Erdwalle  ab,  die  es  durch  17  Tage  hielt,  unter 
sengender  Hitze  und  wolkenbruchartigem  Regen;  andere  Detache- 
meDts  waren  etwas  glücklicher,  dort  erlaubten  es  die  localen  Ver- 
hiltoisse,  zeitweilig  wenigstens  einen  Theil  in  der  nächsten  Nähe 
ihrer  Gefechtsposten  unter  Dach  und  Fach  zu  bringen.  Bei  Tag 
stand  (rin  Drittel,  bei  Nacht  die  Hälfte  auf  dem  Wall  auf  Wacbe, 
wenn  nicht  drohende  AngrifTsgefahr  die  Aufbietung  aller  Leute 
erforderte  —  und  solche  Alarmirungen  gab's  mehr  als  gerade  zur 
Abwechslung  nÖthig  —  der  Rest  lagerte,  allzeit  völlig  gerüstet, 
am  Fusse  des  Walles  auf  Strohmatten,  die  aber  bald  in  Staub  und 
Koth  versanken.  Als  es  endlich  nach  einiger  Mühe  gelungen  war. 
ein  Flugdach  zusammenzuzimmern,  fühlten  sich  Officiere  und  Mann- 
schaft schon  sehr  erleichtert-    Aber  auch  dieser  bescheidene  Com- 


144 

fort  wurde  in  der  Folge  wieder  ungeniessbar,  als  die  Chinesen  den 
Erdwall  mit  Geschützfeuer  enfilirten,  so  dass  die  nicht  auf  Posten 
stehende  Mannschaft  einige  Schritte  in  den  todten  Raum  hinter 
einer  Häusergruppe  zurückgezogen  werden  musste.  Die  »Propertät« 
litt  unter  diesen  Umständen,  wo  das  beliebte  »Wäschewaschen« 
nur  von  himmelswegen  und  gar  nicht  gründlich  vor  sich  ging ;  die 
gute  Stimmung  wurde  aber  nur  beeinträchtigt,  wenn  sich  trotz 
schärfsten  Aufpassens  längere  Zeit  hindurch  gar  kein  rothbefranster 
oder  sonstwie  uniformirter  Chinese  entdecken  lassen  wollte! 

Die  Commando- Verhältnisse  waren  sehr  unklar;  seiner  In- 
struction nach  •  hielt  sich  Linienschiffs-Lieutenant  Indrak  an  den 
anwesenden  höchsten  englischen  Officier,  seit  Abgang  der  Seymour- 
Expedition  Capitän  Bayly,  dessen  Autorität  aber  andere  Nationen,  wie 
Franzosen  und  Russen,  nicht  anerkennen  wollten.  Dies  blieb 
natürlich  nicht  ohne  Folgen,  denn  wenn  jeder  auf  seinem  Fleck 
auch  das  Beste  that  und  gerne  auch  unaufgefordert  den  Nachbar 
unterstützte,  wenn  Noth  an  den  Mann  ging,  so  war  doch  das 
ganze  Kampfesfeld  zu  ausgedehnt,  die  Garnison  der  Stadt  nach 
Zahl  und  Truppengattungen  zu  veränderlich  und  ausserdem  diffe- 
rirten  die  Verhältnisse  an  einzelnen  Punkten  zu  sehr,  als  dass  nicht 
ab  und  zu  Versäumnisse  eingetreten  wären,  die  nachzuholen  un- 
nütze Opfer  an  Mühe  und  Menschenleben  kostete.  Vorgreifend  sei 
hier  bemerkt,  dass  sich  diese  misslichen  Zustände  erst  einiger- 
massen  besserten,  nachdem  der  russische  Vice-Admiral  Alexeieff 
am  9.  Juli  das  Obercommando  übernommen  hatte. 

In  der  Nacht  vom  17.  auf  den  18.  Juni  wurde  die  Ruhe  nur 
durch  einzelne  Kanonen-  und  Gewehrschüsse  gestört,  hingegen 
nahmen  die  Chinesen  um  G  Uhr  früh  das  Bombardement  wieder 
auf.  Während  der  Nacht  hatten  sie  im  Nordosten  der  Stadt  hinter 
dem  Bahndamme  eine  Batterie  von  sechs  Feldgeschützen  in 
Stellung  gebracht,  die  nun  auf  den  Bahnhof  und  gegen  das 
französische  Viertel  ein  verheerendes  Feuer  richtete.  Das  Fort 
hatte  sich  den  Erdwall  als  Ziel  ausersehen,  den  es  mit  Granaten 
und  Shrapnels  bestrich,  so  dass  Linienschiffs-Lieutenant  Indrak  die 
Posten  auf  die  Aussenseite  des  Walles  stellte  und  die  freie  Mann- 
Schaft  in  die  erwähnte  Deckung  brachte;  die  oberen  Theile  der 
betreffenden  Häuser  wurden  ziemlich  arg  mitgenommen.  Die 
Schusspräcision  der  Chinesen  hat  allgemeines  Staunen  erregt,  noch 
auffälliger  hat  man  es  jedoch  bemerkt,  wie  richtig  sie  von  Zeit 
zu  Zeit  ihre  Ziele  wechselten;  beides  bewies,  dass  die  Chinesen 
die  Schussbeobachtung  sehr  peinlich  übten.  Da  sie  aber  doch 
eigentlich  nur  einen  Punkt,  die  Pagode  im  schwarzen  Fort,  hatten,  von 


# 
145 

dem  aus  sie  das  ganze  Schussfeld  übersehen  konnten,  dauerte  es 
nicht  lange,  bis  sich  der  Verdacht  regte,  dass  sie  in  der  Stadt  selbst 
auch  Beobachter  haben  müssten,  die  mit  den  Batterien  in  irgend- 
einem und  zwar  rasch  functionirenden  Verkehre  standen.  Diese 
vorerst  nur  vage  Vermuthung  verdichtete  sich  immer  mehr  und 
schliesslich  wurden  thatsächlich  am  21.  Juni  auf  dem  Dache  des 
deutschen  Clubs  zwei  dort  angestellt  gewesene  chinesische  Diener 
in  flagranti  ertappt,  als  sie  mit  rothen  und  weissen  Fähnchen 
Signale  abgaben.  Da  jedoch  auch  weiterhin,  nachdem  man  die 
unliebsamen  Gäste  unschädlich  gemacht  hatte,  das  chinesische 
Feuer  nicht  weniger  präcise  blieb,  steht  man  hier  einem  fraglichen 
Punkt  gegenüber,  den  selbst  die  Annahme  nicht  ganz  aufzuklären 
vermag,  dass  die  chinesischen  Artilleristen  ganz  vorzüglich  aus- 
g'cbildet  und  im  Besitze  von  ausserordentlich  detaillirten,  genauen 
Plänen  gewesen  seien. 

Während  die  Russen  die  Beschiessung  durch    die    chinesische 
Feldbatterie,    welche    sowohl   an  den  Gebäuden  als  sonstigen  Ob- 
jecten  der  Bahnstation    und    an    den   Häusern    der    französischen 
Niederlassung  beträchtlichen  Schaden  anrichtete,  mit  ihren  eigenen 
Geschützen  und  so  glücklich  erwiderten,  dass  sie  zwei  gegnerische 
Feuerschlünde    zum  Schweigen    brachten,    versuchten    chinesische 
Infanterie  und  mit  Gewehren  bewaffnete  Boxer,   welche  entweder 
die  Stellung   der  Russen    umgangen    oder    ihren  Weg    aus    dem 
Ost-Arsenal  genommen    haben    mussten,    sich  in   dem  leider  nicht 
ganz    niedergebrannten  Dorfe    zunächst    der    Militärschule    einzu- 
nisten  und   von    dort   aus    den  Bund   in    sehr    fühlbarer  Weise  zu 
belästigen.   Glücklicherweise  wurden  sie  aber  rechtzeitig  entdeckt 
und  von  einer    rasch    über    den   Fluss    setzenden    englischen  Ab- 
theilung verjagt,  die  hierauf  die  Einäscherung  dieses  gefahrlichen 
Schlupfwinkels  noch  gründlicher  besorgte. 

Der  Geschützkampf  schwieg  erst  gegen  6  Uhr  abends; 
Bahnhof  und  französisches  Settlement  waren  arg  hergenommen, 
aber  auch  in  der  Chinesenstadt  war  —  offenbar  ein  Erfolg  des 
russischen  Feuers  —  ein  sich  rasch  ausbreitender  Brand  ausge- 
brochen. Die  Verluste  der  Fremden  waren  an  diesem  Tage  keine 
bedeutenden,  die  chinesischen  unbekannt. 

Das  Detachement  »Zenta«  hatte  ebenso  wie  seine  deutschen 
und  englischen  Nachbarn  in  Erwartung  eines  auf  die  Beschiessung 
durch  Geschütze  folgenden  Angriffes  den  ganzen  Tag  bereit  ge- 
standen, doch  unterblieb  ein  solcher  und  man  musste,  nachdem  es 
schon  nicht  zum  Gefecht  gekommen  war,  froh  sein,  dass  auch  das 
Geschützfeuer  keine  Opfer  gefordert  hatte. 

Winterhalder :  Kämpfe  in  China.  10 


146 

Nach  einer  ruhig  verlaufenen  Nacht  setzten  die  Chinesen  am 
19.  Juni,  7  Uhr  morgens,  das  Bombardement  aus  dem  schwarzen 
Fort  gegen  die  Stadt  fort,  stellten  es  jedoch  aus  unbekannten 
Gründen  schon  nach  drei  Stunden  ein;  erwidert  hatten  es  nur 
russische  Geschütze. 

Unterdessen  erneuerten  die  Chinesen  aus  der  noch  brennenden 
Militärschule  den  Angriff,  der  aber  von  Deutschen,  Engländern 
und  Italienern,  die  aus  der  Deckung  der  am  rechten  Ufer  herge- 
stellten Barricaden  ein  durch  zwei  Geschütze  unterstütztes,  leb- 
haftes Gewehrfeuer  eröffneten,  bald  abgeschlagen  wurde  und  mit 
dem  Rückzuge  in  das  Ost- Arsenal  endete. 

Noch  während  dieses  Gefechtes  machte  eine  circa  200  Mann 
starke  Abtheilung  Chinesen  nach  Uebersetzung  des  Flusses  den 
Versuch,  im  Südosten  zwei  Geschütze  gegen  die  von  den  Deutschen 
besetzte  chinesische  Universität  und  das  Taku-Thor  in  Action  zu 
bringen;  die  bei  letzterem  aufgestellten  deutschen  Landungs- 
geschütze setzten  jedoch  nach  kurzer  Zeit  die  gegnerischen 
ausser  Gefecht. 

Zu  Mittag  schwieg  das  Feuer  allseits,  um  aber  schon  um 
2  Uhr  wieder,  diesmal  äusserst  intensiv  und  auf  den  Bahnhof 
concentrirt,  aufgenommen  zu  werden ;  letzterer  wurde  durch  die 
Mehrzahl  der  Geschütze  des  schwarzen  Forts  und  durch  die  im 
Nordosten  placirte  Feldbatterie,  gegen  die  sich  die  auf  dem 
Bahnhof  und  auf  dem  französischen  Bund  aufgefahrenen  Geschütze 
vergeblich  bemühten,  einen  Erfolg  zu  erringen,  unter  ein  ver- 
heerendes Feuer  genommen  und  stand  binnen  einer  Stunde  in 
Flammen.  Zwei  Geschütze  der  Forts  im  Flussknie  überschütteten 
zur  selben  Zeit  den  Erdwall  mit  Geschossen,  erzielten  jedoch  keinen 
unmittelbaren   Erfolg. 

Die  Lage  der  400  Russen  auf  dem  Bahnhof  begann  sehr 
kritisch  zu  werden;  durch  den  unlöschbaren  Brand  aus  den  Ge- 
bäuden vertrieben,  suchten  sie  in  den  Waggons  einige  Deckung, 
erhielten  aber  nunmehr  auch  lebhaftes  Gewehrfeuer,  da  die  Chinesen, 
ihren  Vortheil  wahrnehmend,  Infanterie  in  die  dem  Bahnhof  nächst- 
gelegenen Stadttheile  und  Dörfer  vorgeschoben  hatten,  von  wo 
aus  sie  Bahnhof  und  rechtes  Ufer  äusserst  intensiv  beschossen. 
Auf  dem  Bund  wurde  dieses  Feuer  gar  nicht  erwidert,  da  man 
mit  der  Munition  haushalten  musste;  die  im  französischen  Settle- 
ment  stehenden  Franzosen  und  Russen  konnten  unter  den  ob- 
waltenden Verhältnissen  den  Fluss  nicht  übersetzen,  um  der  ur- 
sprünglich 400  Mann  starken,  nun  aber  durch  einen  Verlust  von 
ungefähr    100  Todten    und  Verwundeten    geschwächten    Bahnhof-* 


147 

Besatzung  Hilfe  zu  bringen,  sondern  mussten  sich  darauf  beschränken, 
ihr  Feuer  auf  den  Augenblick  aufzusparen,  wo  die  Chinesen  die 
rechte  Flanke  jener  vom  Flussufer  her  angreifen  würden. 

Um  3  Uhr  schwieg  plötzlich  das  chinesische  Geschütz-  und 
Gewehrfeuer  und  3000  Mann  Chinesen  stürmten  von  einem  durch 
etwa  250  Meter  freies  Feld  vom  Bahnhof  getrennten  Dorfe  die 
Position  der  Russen ;  durch  ein  mörderisches  Schnellfeuer  zurück- 
getrieben, bevor  sie  noch  die  halbe  Strecke  durchlaufen  hatten,  setzten 
sie  gleichwohl  bald  darauf  wieder  zu  einem  Anlaufe  an.  Die  Russen 
hätten,  durch  ihre  Verluste  geschwächt  und  durch  den  auch  auf 
die  Waggons  übergegangenen  Brand  ihres  letzten  Stützpunktes 
beraubt,  nun  kaum  mehr  widerstehen  können,  als  zu  ihrem  und 
der  ganzen  Tientsiner  Besatzung  grösstem  Glück  eben  ein  Zug 
mit  400  Russen  aus  Tschun-lian-tscheng  einlief;  noch  während  der 
Fahrt  griffen  diese  frischen  Truppen  durch  ihr  Schnellfeuer  ins 
Gefecht  und  schlugen  den  zweiten  Ansturm  so  erfolgreich  ab, 
dass  sich  die  Chinesen  mit  HinterlaSvSung  von  ungefähr  1200  Todten 
zu  regelloser  Flucht  wendeten. 

Dieser  Augenblick  war  einer  der  kritischesten  der  ganzen 
Campagne,  denn  der  Verlust  des  Bahnhofes  wäre  für  die  Fremden 
nur  das  Vorspiel  dazu  gewesen,  sich  bei  der  Vertheidigung  des 
Flussüberganges  erschöpfen  zu  müssen;  der  Verlust  der  Russen 
allein  hatte  an  diesem  Tage  7  Todte  und  95  Verwundete  betragen, 
eine  bedeutende  Ziffer,  wenn  man  die  beschränkte  Zahl  der  Ver- 
theidiger  in  Betracht  nimmt. 

Die  ganze  Action  der  Chinesen  zeigte  aber,  dass  sie  unter 
guter  Führung  durchaus  nicht  zu  verachtende  Gegner  sein  konnten 
und  in  Tientsin  gute  Führer  hatten ;  sie  steht  insoferne  einzig  da, 
als  die  Chinesen  den  Versuch  gemacht  hatten,  den  durch  die 
vorangehende  heftige  Beschiessung  errungenen  Vortheil  durch 
energisches  Draufgehen  voll  auszunützen. 

In  der  Stadt  hatte  sich  das  Gerücht  verbreitet,  die  Russen 
hätten  den  Bahnhof  bereits  geräumt,  und  daher  wurden  mit  fieber- 
hafter Eile  die  Barricaden  verstärkt  und  neue  aufgeworfen,  um 
wenigstens  im  Strassenkampf  den  Chinesen  hartnäckigen  Wider- 
stand entgegensetzen  zu  können. 

Auf  der  Südostseite  war  man  bis  4  Uhr  nachmittags  durch 
das  Bombardement  belästigt  worden ;  Linienschiffs-Lieutenant  Indrak 
hatte  von  seiner  Stellung  auf  dem  Wall  aus  die  Bewegung  einer 
auf  tKX)  Mann  geschätzten  Abtheilung  beobachtet,  die  von  Süden 
her  anrückte,  jedoch  einen  weiten  Umweg  nahm  und  schliesslich 
ausser  wirksamer  Schussweite  in  die  City  einrückte. 

10* 


Kurz  nach  4  l'hr  nachmittags  überbrachtL-  ihm  i;in  Meliie- 
reiter  die  Nachricht,  dass  vom  Haikwantsu-Arseiiale  her  ein  grosser 
Haufe  mit  Gewehren  bewaffneter  Boxer  gegen  den  Recreation- 
Groiind  vordringe;  rasch  entschlossen  rückte LinienschifFs-Lieutenant 


Indrak  mit  seinem  ganzen  üelachement,  unterstützt  durch  einen 
Zug  Deutscher  mit  einem  Maschinengewehr,  längs  des  Walles  vor 
und  entwickelte  rechts  von  letzterem  die  kleine  Abtheilung  in 
Schützenlinie.  Die  Deutschen  übernahmen  indessen  die  Sicherung 
des  Erdwalles  im  Rücken. 

Von  der  ersten,  in  der  nebenstehenden  Skizze  ersichtlich  ge- 
machten Stellung  aus  wurden  die  noch  etwa  800  Meter  entfernten 
Boxerbeobachtet  und  mit  einem  langsamen  Schützenfeuer  empfangen; 
die  Besatzung  der  Spinnerei,  meist  englische  Freiwillige,  und  das 
alte  englische  Geschütz  auf  dem  Wall  gaben  einige  erfolglose 
Lagen  ab,  was  zur  Folge  hatte,  dass  die  Boxer  nunmehr  äusserst 
lebhaft  zu  schiessen  begannen.  LinienschifFs-Lieutenant  Indrak 
führte  nun,  um  den  Vorrückenden  näher  zu  kommen,  mit  einem, 
raschen  Sprunge  seine  Leute  in  die  Spinnerei,  von  der  aus  er 
h'bhaftere.s  Feuer  durch  seine  Schützen  eröffnen  lie.'.s. 

Die     Boxer     hatten     es     inzwischen     für    besser     befunden, 
sich  ebenfalls   in    lüv    Deckung   eines    dvr   vitalen    Grüben   XU   bl 


149 


Angriff  der  Boxer 
am  19.  Juni 


Hat-kican-lsu 

i 


geben  und  schössen  von  dort  ebenso  heftig  als  glücklicherweise 
schlecht. 

Plötzlich  sah  man  sie  aufspringen  und  sich  eilends  zurück- 
ziehen, bald  darauf  gegen  das  West- Arsenal  fliehen,  wobei  noch 
mehrere  fielen.  Wer  beschreibt  aber  die  Ueberraschung  Indrak's, 
als  er  mit  einemmale  aus  der  Richtung  von  jenem  Punkte,  wo 
die  Boxer  umgekehrt  waren,  einen  seiner  Leute,  den  Matrosen 
Ivan  Lassan,  herankommen  sah!  Der  Mann  meldete,  den  Vor- 
rückungsbefehl  schlecht  verstanden  zu  haben  und  an  der  Aussen- 
seite  des  Walles  vorge- 
rückt zu  sein,  bis  es  ihm 
endlich  doch  etwas  auffiel, 
dass  er  so  ganz  allein  sei. 
Den  Wall  ersteigend,  sah 
er  das  englische  Geschütz 
und  seine  Kameraden  in  der 
Spinnerei  weit  hinter  sich, 
zu  seiner  grossen  Ueber- 
raschung aber  auf  nicht  ganz 
300  Meter  innerhalb  des 
Walles  die  Boxer  im  leb- 
haftesten Feuer ;  ohne  einen 
Augenblick  zu  verlieren  feu- 
erte er  im  raschesten  Tempo 
unter  sie  und  hatte  die  Freude 
einige  fallen  zu  sehen,  als  sie, 
durch  diesen  unvermutheten,  weit 
überschätzten  Angriff  in  der  Flanke 
bestürzt,  sich  schleunigst  auf  und 
davon  machten! 

So    erklärte    sich     also    der     bis 
dahin    unbegreifliche  verzweifelte    Ent- 
schluss  der  Boxer,  auf  ihre  Unverwund- 
barkeit von  vorne  zu  verzichten  und  ihre 
Fersen  zu  zeigen!  Lassan,   der    unbewusste 
Held    des    Nachmittages,    erntete    für    seine 

Geistesgegenwart  Lob,  für  die  anfangliche  Unaufmerksamkeit  aber 
die  verdiente  »Nase«  und  quittirte  die  Resultirende  aus  diesen 
beiden  scheinbar  so  entgegengesetzten  Kräften  mit  seinem  ge- 
horsamsten Grinsen;  er  hatte  25  Todte  gezählt,  die  von  den 
Boxern  zurückgelassen  worden.  An  dieser  Strecke  waren  die 
beiden  Unterofficiere  des  Detachements  der  »Zenta«,  Quartiermeister 


w^''*^ 


yffRfcreaiion 


Grouiid 


Oattrr.-ung. 

Lag^rpi**'  yDrumiHond-Haus 
Tftae«  cour»t  Thor 

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J 


150 

Artillerie-Instructoren  Sirowy  und  Sobotka,  am  meisten  betheiligt, 
die,  wie  die  englischen  Zuschauer  selbst  bewunderungsvoll  be- 
stätigten, einzelne  vorlaufende  Boxer  auf  800 — 900  Schritte  aufs 
Korn  genommen  und  getroffen  hatten. 

Die  Spinnerei  musste  wegen  ihrer  exponirten  Lage  leider 
noch  am  selben  Abende  geräumt  werden  und  blieb  ungefähr 
eine  Woche  in  den  Händen  der  Chinesen,  die  von  dort  aus  die 
Settlements  und  auch  die  englischen  Posten  auf  dem  Wall  be- 
lästigten. 

Der  Tag  war  zwar  für  die  Vertheidiger  auf  allen  Linien 
günstig  verlaufen,  aber  man  konnte  sich  nicht  verheimlichen,  dass 
unter  solchen  Umständen  ein  Aushalten  nicht  lange  möglich  sein 
würde;  die  Verluste  in  drei  Tagen  machten  schon  nahezu 
200  Mann  aus  und  mit  der  Munition  war  es  sehr  knapp  bestellt. 
Andererseits  Hess  sich  ein  planmässiges  Vorgehen  der  Chinesen 
nicht  verkennen  und  musste  man  damit  rechnen,  dass  sie  jeden- 
falls Verstärkungen  in  grösserem  Masse  heranziehen  würden ;  dann 
war  es  aber  äusserst  zweifelhaft,  ob  man  noch  einige  so  kräftige 
Vorstösse  wie  am  Nachmittag  gegen  die  Eisenbahn  zurückschlagen 
können  würde.  Durch  die  so  glücklich  zu  entscheidender  Stunde 
eingetroffenen  Russen  war  man  unterrichtet,  dass  der  directe 
Eisenbahnverkehr  mit  Tongku  vorderhand  unterbrochen,  gerade 
jetzt,  wo  Verstärkungen  unbedingt  nothwendig  erschienen,  sollte 
nicht  der  wichtigste  Platz  von  ganz  Tschili  in  die  Hände  der 
Gegner  fallen. 

Die  Lage  schien  so  bedrängt,  dass  der  Rückzug  auf  Taku 
in  ernstliche  Erwägung  gezogen  und  auch  die  Modalitäten  des- 
selben bereits  besprochen  wurden  —  selbstverständlich  wurde  dies 
Alles  vor  den  Frauen  geheimgehalten,  die  es  ja  noch  immer  recht- 
zeitig genug  erfahren  hätten ;  einstweilen  musste  aber,  so  lange 
noch  ein  Fünkchen  Hoffnung  vorhanden  war,  Zuzug  zu  bekommen. 
Alles  daran  gesetzt  werden,  schon  mit  Rücksicht  auf  das  spätere 
Vorgehen  gegen  Peking  Tientsin  in  den  Händen  der  Fremden  zu 
erhalten.  Dazu  war  es  vor  Allem  nöthig,  sich  mit  den  Admiralen 
vor  Taku  in  Verbindung  zu  setzen;  war  von  dorther  die  Ab- 
sendung von  Hilfe  zugesagt,  so  war  man  entschlossen,  sich  äussersten 
Falles  auf  das  englische  Settlement  zurückzuziehen  und  einen 
Strassenkampf  zu  bestehen. 

Mr.  James  Wats,  ein  vorzüglicher  Herrenreiter,  erbot  sich, 
das  Ansuchen  um  schleunigste  Unterstützung  nach  Tongku  zu 
bringen;  in  Begleitung  von  drei  Kosaken  brach  er  nach  Eintritt 
der  Dunkelheit  auf  und  legte  die  Strecke  in  zwölf  Stunden  zurück. 


wofür  raaji  sonst  auf  einem  guten  Pferde  nur  drei  braucht. 
Auf  dem  Wege  wurde  er  nicht  weniger  als  achtmal  von  Militär 
und  Boxern  angegriffen,  so  dass  er  weite  Umwege  zu  machen 
hatte. 

Xachtsüber  ruhten  die  Feindseligkeiten  und  erst  um  11  Uhr 
vormittag.'i  des  20.  nahmen  die  Chinesen  das  Bombardement  des 
W'alles  und  nachmittags  auch  der  Settlements  auf;  während  aut 
dem  ersteren  keine  Verluste  zu  verzeichnen  waren,  gerieth  in  der 
französischen  Niederlassung  ein  Lagerhaus  in  Brand,  der  bald 
solche  Dimensionen  annahm,  dass  er  erst  am  21.  vormittags,  als 
bereits  nahezu  die  Hälfte  des  Settlements  zerstört  war.  gedämpft 
werden  konnte. 

Nachmittags  recognoscirte  eine  Abtheitung  von  50  Kosaken 
die  G-egend  flussabwärts  der  Stadt  und  kam  mit  chinesischen 
Truppen,  die  etwa  drei  englische  Meilen,  vom  Taku-Thore  gerechnet, 
eine  Brücke  über  den  Fluss  zu  schlagen  im  Begriffe  standen,  ins 
ßefecht,  wobei  ein  Officier  und  zwei  Kosaken  leicht  verw*undel 
wurden.  Der  Brückenschlag  deutete  darauf  hin,  dass  die  Chine.sen 
von  Osten  her  Truppen  erwarteten,  die  offenbar  den  einzig  noch 
I  freien  Ausweg  im  Südosten  der  Stadt  auf  dem  rechten  Ufer  ver- 
legen sollten.  Man  rausste  also  gewärtig  sein,  bald  auch  von  dieser 
I  Seite  her  angegriffen  zu  werden. 
In  der  folgenden  Nacht  zum  21.  Juni  wurde  die  Wache  auf 
"Crn  Walle  im  Rücken  aus  den  nicht  ganz  100  Meter  entfernten 
chinesischen  und  einigen  verlassenen,  Europäern  gehörigen  Häu.sern 
dßfartig  heftig  beschossen,  dass  sie  zeitweilig  hinter  —  also  ausser 
"^Hi  Walle  —  Deckung  suchen  und  das  Detachement  'Zenta«  unter 
*""4  Drumond'sche  Haus  gezogen  werden  musste. 

Die  Durchsuchung  der  Häuser  im  Settlement,  in    denen  sich 

Jedenfalls  boxerisch  gesinnte  chinesische  Bedienstete  der  Fremden 

Wö    ihre  Genossen  festgesetzt  hatten,   konnte   erst  am    folgenden 

I       Morgen  durchgeführt    werden;    .Seecadet   Leschanowsky  mit  zehn 

Mann    durchstreifte  die    nächsten  Strassen,    fand  wohl    keinen  he- 

'flffneten  Chinesen,  dafür  aber  eine  Menge  Waffen  und  in  einigen 

Häusern  bei  den    geöffneten  Fenstern   eben  gebrauchte  Gewehre. 

Hfibeti  denen  ein  Haufen  Munition  lag.  Um  nun  gegen  eine  Wieder- 

^lung  solcher  Vorfalle  sicher  zu  sein,  liess  Linienschiffs-I.ieutenant 

lodrak  in  seinem  Rayon,    da  die  wirklich  Schuldigen    zu    eruiren 

Unmöglich  war.  alte  aufgefundenen  Chinesen,  für  die  nicht  Fremde 

lusdrücklich  Bürgschaft  leisteten,  einfach  über  den  Wall  schaffen 

lud  den  Besitzern    der  Häuser   die  Waffen   sammt   Munition    mit 

d*^!  Ersuchen    um  bessere  Bewahrung   zustellen.   Aehnliches  .war 


auch  in  anderen  Settlements  vorgekommen,  wo  man  zu  noch 
schärferen  Massregeln  griff;  in  der  Folge  blieb  man  wenigsten» 
von  solchen  störenden  Ueberraschungen  verschont. 

Das  Bombardement,  ein  nun  schon  gewohntes  Alltag^creigniss^ 
dauerte  am  21.  Juni  mit  kurzer  Unterbrechung  im  Ganzen  nur 
vier  Stunden,  wurde  langsam  unterhalten  und  richtete  keinen  be- 
deutenderen Schaden  an ;  hingegen  gelang  es  Boxern  an  mehrere 
Häuser  im  französischen  Settlement  und  im  angrenzenden  Chinesen- 
viertel  Feuer    zu    legen.    Auf    Löschversuche    musste    verzichtet 


werden,  da  die  Chinesen  auf  die  brennenden  Objecte  ein  sehr  leb- 
haftes (lewehrfeucr  richteten :  das  französische  Settlement  wurde 
zum  grössten  Theil  in  einen  Schutthaufen  verwandelt.  Nachmittags 
war  die  Wallhesatzung  im  Südosten  durch  den  Anmarsch  von 
circa  1000  Mann  von  Süden  her  alarmirt  worden,  doch  hielt  sich 
diese  Truppe  auf  respectable  Entfernung  und  verschwand  in  dei 
Richtung  der  City. 

Gegen    10   Uhr  abends    versuchte    eine   aus   f'twa  100   Mai 
bestehende  Bande  Boxer  sijdlich  der  Militärschule  über  den  Flus 
zu  setzen,    wurde    aber    durch    lebhaftes  Feuer    daran    verhindej 
und  gab  ihre  Absicht,  nachdem  sie  einige  Todte  verloren,  auf. 


153 

Gegen  Morgen  des  22.  Juni  hörte  man  aus  der  Richtung 
Tongku  Geschützfeuer  —  die  zum  Entsätze  Tientsins  aufgebrochenen 
Verstärkungen  waren  mit  den  von  Lutai  anmarschirenden  chinesi- 
schen Truppen  in  Fühlung  gekommen. 

Diesen  Tag  über  pausirten  die  Chinesen  mit  der  Beschiessung; 
nachmittags    beschoss    die    russische    Batterie    eine    halbe   Stunde 
lang  die  chinesischen  Forts,  ohne  jedoch  einer  Antwort  gewürdigt 
zu  werden.  Es  musste  also  irgend  etwas  Besonderes,  die  Aufmerk- 
samkeit der  Chinesen  Fesselndes  vorgehen.  Vom  Walle  aus  hatte 
man  vormittags  den  Abmarsch  von  circa  1000  Mann  aus  der  City 
gegen  Taku  und  gegen  7V«  Uhr  abends  den  Einmarsch  einer  be- 
deutend stärkeren  Colonne  in  die  City  beobachtet;    beides  spielte 
sich  ausserhalb  Gewehrertrag  ab  und   Hess  im  Zusammenhalt    mit 
dem  morgens  hörbar   gewesenen    Kanonenfeuer   den    Schluss    zu, 
dass    zwischen    Tientsin    und    Tongku    ein  Treffen    stattgefunden 
haben  müsse,  in  dem  die  chinesischen  Truppen    geworfen  worden 
und  Theile  derselben  nun  auf  dem  Rückzuge  die  ihnen  zugesendete 
Verstärkung  zur  Umkehr  bewogen  hatten. 

Die  Nacht  verlief  soweit  ruhig,  nur  in  gespanntester  Er- 
wartung seitens  der  Fremden,  ob  es  dem  Entsatz-Corps  gelingen 
werde,  die  auf  dem  Wege  stehenden  Chinesen  zu  schlagen  oder 
nicht. 

Am  23.  Juni  vormittags  hatten  wieder  chinesische  Truppen 
die  Ruinen  der  Militärschule  besetzt  und  von  dort  ein  äusserst 
lebhaftes  Gewehrfeuer  gegen  die  den  Bund  besetzt  haltenden 
Engländer,  Italiener  und  Deutschen  eröffnet,  das  namentlich  den 
ersteren  schwere  Verluste  beibrachte  und  dem  italienischen  De- 
tachement  seinen  Commandanten,  LinienschifFs-Lieutenant  Carlotto, 
kostete. 

Gleichzeitig  mit  dem  Feuerangriflfe  von  der  Militärschule  her 
verkündete  entferntes  Feuer  im  Osten,  dass  dort  gekämpft  werde. 
Gegen  Mittag  erhielt  Linienschiffs-Lieutenant  Indrak  die  Meldung, 
<iass  auf  der  Taku-Strasse  Truppen  im  Anmärsche  seien,  die  aber 
l>ald  als  ein  Theil  des  Entsatzes  erkannt  und  mit  frenetischem 
Jubel  begrüsst  wurden.  Es  waren  800  Mann  Amerikaner,  Eng- 
länder und  Italiener  unter  Führung  des  Mr.  Wats,  die  sich  am 
Vortage  mit  dem  russisch-deutschen  Corps  vereinigt,  vormittags 
aber,  nachdem  ein  Gefecht  mit  den  Chinesen  östlich  des  Bahn- 
dammes den  erhofften  Ausgang  gebracht,  wieder  von  ihnen  ge- 
trennt hatten,  um  so  rasch  als  möglich  nach  Tientsin  zu  gelangen. 
Diese  Truppen  griffen  sogleich  in  das  Feuergefecht  bei  der 
Militärschule  ein  und  entschieden  es  nach  kurzer  Zeit,  so  dass  die 


154 

Chinesen  gegen  das  Ost- Arsenal  flohen,  gerade  noch  rechtzeitig, 
um  dem  Abgeschnittenwerden  durch  die  Russen  und  Deutschen 
zu  entgehen ;  die  beiden  letzteren  Colonnen  hatten,  längs  der  Bahn 
vorrückend,  vom  Ost- Arsenal  her  Feuer  bekommen  und  daraufhin 
eine  Schwenkung  gegen  selbes  gemacht,  doch  waren  sie  noch  zu 
schwach,  um  einen  entscheidenden  Angriff  auf  das  Arsenal  selbst 
durchführen  zu  können. 

Ein  nachmittags  von  1200  Mann  Russen  und  Engländern  der 
bisherigen  Garnison  unternommener  Angriff  auf  das  Ost- Arsenal  w  urde 
mit  Verlust  von  30  Todten  und  40  Verwundeten  abgewiesen. 

Die  Russen  unter  General  Stessel  und  das  aus  Tsingtau  her- 
beigerufene Halbbataillon  deutscher  Seesoldaten  unter  Major  Christ 
hatten  in  den  Gefechten  dieses  Tages  beträchtliche  Verluste  er- 
litten und  bedurften,  nachdem  sie  sich  in  zwei  Tagen  den  Weg 
von  Tongku  herauf  erkämpft  hatten,  einiger  Ruhe ;  beide  Nationen 
zusammen  bezogen  ein  Lager  hinter  der  Militärschule,  so  dass 
endlich  die  Belästigungen  von  dieser  Seite  her  aufhörten. 

Durch  die  eingetroffenen  Verstärkungen  war  am  23.  Juni 
abends  der  Stand  der  Besatzung  auf  beiläufig  4500  Mann  (eng- 
lische Angabe)  gebracht  worden;  im  Rücken  der  Entsatz-Colonne 
besserten  russische  Eisenbahntruppen  die  Bahn  aus,  so  dass  die 
wStrecke  von  Tongku  bis  auf  zehn  englische  Meilen  von  Tientsin  bald 
wieder  benutzbar  wurde.  Der  Endpunkt  —  Railway-head  —  erhielt 
eine  300  Mann  starke,  aus  mehreren  Nationen  gemischte  Besatzung. 

Nachmittags  des  23.  waren  150  Kosaken  zur  Recognoscirung 
nach  Norden  aUvSgeritten ;  sie  berichteten,  die  Truppen  Seymour's 
kämpften  bei  Hsiku  gegen  Chinesen.  Am  24.  Juni  brachte  ein 
chinesischer  Läufer  die  Bestätigung  dieser  Meldung  und  am  Nach- 
mittag war  von  Hsiku  her  Geschützfeuer  vernehmbar,  das,  wie  wir 
bereits  wissen,  die  in  Hsiku  EingeschlOvSsenen  auf  ihre  Nachbar- 
schaft eröffnet  hatten. 

Eine  am  24.  Juni  neuerdings  vorgetriebene  Kosaken-Patrouille 
brachte  Details  über  die  Stellung  der  Chinesen  um  Hsiku;  um 
Mitternacht  brach  dann  die  Entsatz-Colonne  auf,  von  deren  erfolg- 
reichem Eingreifen  schon  an  früherer  Stelle  die  Rede  war. 

Am  25.  vormittags  eröffnete  eine  russische,  ausserhalb  des  Bahn- 
hofesaufgefahrene Batterie  ihr  Feuer  gegen  das  schwarze  Fort,  welches 
sogleich  lebhaft  erwiderte ;  ohne  bedeutenderen  Erfolg  für  eine  der 
beiden  Parteien  verstummte  auf  dieser  Seite  das  Feuer  gegen  Mittag. 
Schon  frühmorgens  hatten  zwei  englische,  auf  dem  südwestlichen 
Walle  postirte  Geschütze,  verstärkt  durch  eine  Abtheilung  Sickhs, 
zuerst  die  Spinnerei  von  Boxern  gesäubert,    dann  aber  das  Born- 


155 

bardement  des  Haikwantsu-Arsenals  mit  glücklichem  Erfolge  auf- 
genommen, so  dass  dieses  Etablissement  nachmittags  unter  wieder- 
holten Explosionen  der  dort  aufgestapelten  Munitionsvorräthe 
ausbrannte. 

Im  Laufe  des  Tages  war  zu  Wasser  ein  Zwölfpfünder  des 
englischen  Kreuzers  »Terrible«,  der  schon  vor  Ladysmith  Dienste 
gethan  hatte,  eingetroffen,  sogleich  auf  dem  französischen  Bund 
postirt  und  probeweise  gegen  das  Fort  in  Action  gebracht  worden, 
welches  mit  der  Antwort  nicht  zögerte. 

Am  26.  Juni  vormittags  rückten,  wie  erinnerlich,  die  Colonne 
Vice-Admirals  Seymour  und  die  zu  ihrer  Befreiung  aufgebrochenen 
Truppen  von  Hsiku  ein,  am  Abend,  aus  Tongku  kommend,  eine 
anglo-indische  Feldbatterie  von  vier  Schnellfeuerkanonen ;  tagsüber 
blieben  die  Chinesen  unthätig. 

Nun  hatte  die  Besatzung  von  Tientsin  endlich  die  noth- 
wendige  Stärke  erreicht,  um  an  die  Ausführung  des  lange  ge- 
hegten Planes  schreiten  zu  können,  sich  des  grossen  Ost-Arsenals 
zu  bemächtigen. 

Der  russische  General  Stessel  übernahm  die  Leitung  der 
ganzen  Action  und  Hess  hiezu  noch  am  20.  Juni  östlich  der  Militär- 
schule eine  Batterie  in  Position  bringen,  die  sich  bereits  abends 
auf  das  Ost- Arsenal  einschoss ;  von  letzterem  aus  kam  keine  Er- 
widerung, ein  sicheres  Zeichen,  dass  die  Chinesen  dort  vorderhand 
keine  Geschütze  in  Thätigkeit  setzen  konnten. 

Am  27.  Juni,  8  Uhr  früh,  begann  die  russische  Batterie  das 
Bombardement,  gleichzeitig  rückten  1200  Russen,  in  lange  Schützen- 
linien aufgelöst,  von  Nordwest  her  gegen  das  Ost-Arsenal,  aus  dem 
ein  lebhaftes  Gewehrfeuer  die  Angreifer  empfing  ;  die  chinesischen 
Forts  auf  dem  rechten  Ufer  suchten  zwar  die  Vorrückung,  die 
über  ein  etwa  drei  Kilometer  breites,  freies  Feld  ging,  durch 
Shrapnelfeuer  zu  verhindern,  erzielten  jedoch  bei  der  ansehnlichen 
Distanz  —  5000—6000  Meter  —  keinen  Erfolg.  Um  10  Uhr  vor- 
mittags griffen  400  Deutsche  aus  Südwest  und  500  Engländer  aus 
West  zur  Unterstützung  ein ;  die  auf  800  Mann  geschätzte  Arsenals- 
besatzung hatte  hinter  dem  Strassendamm,  der  sich  an  der  West- 
front des  Arsenals  durch  nur  etwa  70  Meter  sumpfiges  Land  und 
einen  Wassergraben  von  dessen  fester  Umwallung  getrennt  hin- 
zieht, eine  vorzügliche  Stellung  eingenommen.  In  dieser  Position 
konnten  ihr  die  russischen  Geschütze,  deren  Schüsse  hauptsäch- 
lich den  weiter  hinten  liegenden  Objecten  galten,  nicht  viel  an- 
haben; ihre  rechte  Flanke  und  die  Nordwestfront  des  Arsenals 
waren  durch  Drahthindernisse  sturmfrei. 


156 

Auf  ungefähr  800  Meter  von  der  chinesischen  Linie  an- 
gelangt, hielten  die  angreifenden  Truppen  und  eröffneten  ein 
•  lebhaftes  concentrisches  Feuer  gegen  die  skizzirte  Stellung  der 
Chinesen,  welche  sich  nach  beiläufig  drei  Viertelstunden  ins  Arsenal 
selbst  zurückzogen  und  von  der  Umwallung  aus  wieder  das  Feuer 
aufnahmen.  Die  nachrückenden  AUiirten  bemächtigten  sich  der 
verlassenen  ersten  Stellung  ihrer  Gegner  und  setzten  von  dort 
aus  das  Infanteriegefecht  mit  allem  Nachdruck  fort,  bis  um  Mittag 
das  grosse  Pulvermagazin,  von  russischen  Granaten  getroffen, 
aufflog  und  die  Verbündeten  zum  Sturme  übergingen,  dem  die 
Chinesen  nicht  mehr  Stand  hielten. 

Das  ausgedehnte  Object  wurde  sogleich  besetzt,  die  fliehenden 
Chinesen  mit  Gewehr-  und  Geschützfeuer  verfolgt;  an  einigen 
Stellen  waren  Brände  entstanden,  glücklicherweise  aber  erst  so 
weit  vorgeschritten,  dass  sie  bald  bewältigt  und  eine  Garnison 
von  2V«  Compagnien  Russen  mit  Sicherheit  zurückgelassen  werden 
konnte. 

Der  Besitz  dieses  wegen  seiner  Lage  und  der  Vorräthe  an 
Kriegsmaterial  wichtigen  Punktes  hatte  den  Verbündeten  relativ 
kleine  Opfer  —  im  Ganzen  17  Todte  und  50  Verwundete  —  den 
Chinesen  hingegen  an  500  Mann  gekostet. 

Von  nun  an  kamen  fast  täglich  grössere  und  kleinere  Con- 
tingente  der  einzelnen  Nationen,  so  dass  es  ungemein  schwierig 
ist,  den  Stand  der  Truppen  in  Tientsin  zu  bestimmten  Augen- 
blicken mit  einiger  Genauigkeit  anzugeben;  das  deutsche  Halb- 
bataillon kehrte,  wie  schon  in  einem  früheren  Capitel  erwähnt, 
nach  Tsingtau  zurück. 

Auffälliger  weise  unterliessen  es  die  Chinesen,  die  neue  Be- 
satzung des  Arsenals  zu  molestiren,  was  durch  eine  Beschiessung 
vom  schwarzen  Fort  aus  ganz  gut  möglich  gewesen  wäre ;  den 
ganzen  Nachmittag,  sowie  die  zwei  folgenden  Tage,  28.  und  29.  Juni, 
herrschte  vollkommene  Ruhe,  so  dass  die  in  die  Town-Hall  ge- 
flüchteten Nichtcombattanten  sich  theilweise  wieder  in  ihre  Wohn- 
stätten zurückbegaben,  die  vom  Bombardement  allerdings  arg  genug 
mitgenommen  waren.  Ja  man  dachte  sogar  schon  daran,  dass  die 
Chinesen,  durch  ihre  Misserfolge  entmuthigt,  die  Belagerung  auf- 
geben und  sich  gegen  Peking  zurückziehen  würden. 

Die  anscheinende  Unthätigkeit  der  Chinesen  erklärte  sich  bald 
jedoch  als  etwas  ganz  Anderes ;  im  Nordosten  der  Stadt  und  im  Fluss- 
knie hatten  sie  nicht  nur  die  von  einzelnen  Punkten  vertriebenen 
Abtheilungen  in  zusammenhängende  Lager  gesammelt  und  diese 
letzteren  mit  passageren  Anlagen    befestigt,    sondern    auch   hinter 


157 

dem  Bahndamme  eine  neue,  gut  geschützte  Stellung  für  Feld- 
batterien eingerichtet.  Wie  später  an  den  Monturen  der  gefallenen 
Geschützbemannungen  erkannt  worden,  war  diese  Stellung  von 
Artillerie  des  Generals  Tung-Fuhsiang  —  also  von  Peking  ge- 
kommener —  besetzt.  In  den  letzten  Tagen  des  Juni  scheinen 
Truppen,  die  von  der  zurückmarschirenden  Seymour- Expedition 
seitlich  abgedrängt  worden,  sich  in  Tientsin  concentrirt  zu  haben. 

Schon  am  30.  Juni  erfuhr  die  allzu  sanguinische  Hoffnung, 
dass  für  die  Fremden  in  Tientsin  die  Zeiten  der  Beunruhigung 
vorüber  seien,  eine  gründliche  Enttäuschung,  indem  zunächst  aus 
der  Chinesenstadt  das  russische  Lager  und  dann  die  Settlements 
mit  Gevvehrfeuer  überschüttet  wurden. 

In  Folge  dessen  verliessen  Frauen,  Kinder  und  nicht  kampf- 
fähige Männer  der  Fremdengemeinde  Tientsin,  dessen  noch  er- 
haltene Theile  von  nun  an  ganz  den  Charakter  von  Militärlagern 
annahmen. 

Ein  am  1.  Juli  frühmorgens  von  den  Russen  unternommener 
Vorstoss  brachte  zwar  den  nächstgelegenen  Theil  der  Chinesen- 
stadt am  linken  Ufer  in  ihre  Hände,  doch  gelang  es  erst  in  zwei 
weiteren  Tagen,  die  wohlverborgenen  chinesischen  Schützen,  w^elche 
die  Patrouillen  ohne  Unterlass  molestirten,  unschädlich  zu  machen. 

Auch  im  Südwesten  begann  es  wieder  unruhig  zu  werden; 
zur  definitiven  Besetzung  des  zwar  ausgebrannten,  als  Stützpunkt 
hingegen  noch  immer  werthvoUen  Haikwantsu-Arsenals  glaubte 
man  sich,  besonders  wegen  der  Exponirtheit  der  Lage  dieses  Ob- 
jectes,  noch  immer  nicht  stark  genug.  So  kam  es,  dass  sich  darin 
bald  eine  aus  regulärem  Militär  und  Boxern  bestehende  Besatzung 
festsetzte  und  man  nun  wieder  Angriffe  von  dieser  Seite  her  zu 
gewärtigen  hatte. 

Um  gegeif  solche  geschützt  zu  sein,  wurde  eine  neue  Ver- 
theidigungslinie  vom  Recreation-Ground  zur  Spinnerei  und  von 
da  zum  Wall  geschaffen,  die  Engländer  und  Japaner  besetzten, 
wobei  den  Japanern  der  vorgeschobenste  Posten  —  einige  Gruppen 
chinesischer  Häuser  vor  der  Spinnerei  —  zufiel.  Zwischen  Spinnerei 
und  Wall  warfen  die  Engländer  eine  Erddeckung  auf.  die  zur  Pla- 
cirung  von  vier  Schnellfeuerkanonen  diente. 

Am  Abend  des  1.  Juli  gegen  10  Uhr  unternahmen  die  Chi- 
nesen von  Haikwantsu  aus  einen  Vorstoss,  der  jedoch  durch  die 
Japaner  aufgehalten  wurde  und  wieder  mit  dem  fluchtartigen 
Rückzug  ins  West- Arsenal  endete ;  fast  gleichzeitig  war  am  entgegen- 
gesetzten Flügel  der  ganzen  Stellung  der  Bahnhof  ziemlich  heftig 
angegriffen  worden,  dessen  Besatzung  blieb  jedoch  siegreich. 


158 

Am  3.  Juli  vormittags  entspann  sich  ein  längeres  Duell 
zwischen  russischen  und  den  neu  angelegten  chinesischen  Bat- 
terien hinter  dem  Bahndamm,  dem  bald  auch  wieder  eine  kurze, 
bis  12  V«  Uhr  dauernde  Beschiessung  des  Erdwalles  im  Südwesten 
folgte;  bei  ersterem  wurde  die  Lafette  eines  russischen  Geschützes 
demontirt. 

Nachmittags  unternahmen  1000  Mann  Japaner  und  Russen 
eine  scharfe  Recognoscirung  gegen  die  neue  chinesische  Geschütz- 
stellung, die,  sehr  gut  gewählt,  für  den  rechten  Flügel  ebenso 
lästig  war,  als  sie  gegen  eine  Beschiessung  aus  der  Ferne  unver- 
wundbar schien.  Gegen  die  durch  Schützengräben  unterstützten 
Batterien  näher  als  etwa  1000  Schritt  heranzukommen,  stellte  sich  bald 
als  eine  die  aufgebotenen  Kräfte  übersteigende  Aufgabe  heraus, 
und  als  tagsdarauf  der  Versuch  mit  verstärkten  Contingenten 
und  durch  Geschützfeuer  vorbereitet  und  unterstützt  erneuert 
wurde,  vereitelte  ein  das  ganze  Terrain  unter  Wasser  setzender 
Wolkenbruch  jede  Action. 

Am  4.  Juli  morgens  war  endlich  das  »Zenta<-Detachement 
nach  ITtägigem,  ununterbrochenem  Dienste  auf  dem  Walle  durch 
eine  Compagnie  Japaner  abgelöst  und  einiger,  wohlverdienter 
Ruhe  theilhaftig  geworden ;  unter  den  Leuten,  welche  die  Seymour- 
Expedition  mitgemacht  hatten,  grassirte  Dysenterie,  so  dass  neun 
Mann  absolut  dienstunfähig,  manche  andere  nur  in  beschränktem 
Masse  diensttauglich  waren.  Von  Bord  aus  waren  am  29.  Juni 
5000  Patronen  nachgeschoben  worden  und  im  Ost-Arsenal  fand 
man  6000  Mannlicher -Patronen  sammt  Magazinen,  die  General 
Stessel  bereitwilligst  überliess,  so  dass  das  Detachement  mit 
Munition  wieder  gut  versehen  war. 

Von  diesem  Tage  an  wurden  in  Gemässheit  eines  Beschlusses 
der  commandirenden  Officiere  die  sämmtlichen  Marine  -  Truppen 
aller  Nationen  nur  mehr  als  Reserven  für  grössere  Unternehmungen 
und  zum  inneren  wSicherungsdienst  verwendet,  nachdem  nun  ge- 
nügend frische  Feldtruppen  zur  Verfügung  standen. 

Während  die  Russen  und  Japaner  am  rechten  Flügel  die 
chinesischen  Feldbatterien  beschäftigten,  errichteten  die  Engländer 
auf  dem  Erdwall  ebenfalls  eine  starke  Geschützstellung,  die  sie 
mit  je  zwei  Stück  zwölf-  und  neunpfündigen  vSchnelladern  und 
älteren  Geschützen  armirten ;  schon  am  3.  Juli  hatten  sie  durch  die 
damals  installirten  Geschütze  eine  von  Haikwantsu  südlich  mar- 
schirende  chinesische  Abtheilung  zersprengt. 

Am  4.  Juli  nachmittags,  nachdem  der  wolkenbruchartige 
Regen  aufgehört,  bombardirten  die  eben  erwähnten  englischen  und 


die  russischen  Geschütze  am  rechten  UtVr  die  City  und  das 
schwarze  Fori;  es  gelang,  die  als  Beobachtungsstation  wichtige 
Pagode  in  der  Milte  des  letzteren  zu  zerstören.  Die  Chinesen  er- 
widerten zwar  lebhaft,  stellten  aber,  nachdem  eines  ihrer  Geschütze 
demontirt  war,  das  Feuer  ein. 

Als  die  englische  Batterie  am  folgenden  Morgen  das 
Bombardement  gegen  das  Fort  erneuerte,  schienen  die  chine- 
sischen Geschütze  noch  nicht  bereit,  so  dass  die  Engländer  nach 
einer  Stunde  das  Feuer  einstellten.  Zur  Erklärung  muss  hier  bei- 
gefügt werden,  dass  um  die  Munition  nicht  durch  eine  relativ  un- 


nütze Bii.schiessung  des  Mauerwerkes  zu  vergeuden,  getrachtet 
»'urile.  die  chinesischen  Geschütze  selbst  unter  Feuer  zu  nehmen. 
tlsTMi  Stellungen  aber  nur,  während  sie  feuerten,  mit  genügender 
Genauigkeit  ausgenommen  werden  konnten;  die  verfügbaren 
Geschütze  waren  eben  zu  leichten  Calibers,  um  das  massive  Mauer- 
werk so  weit  zu  beschädigen,  dass  es  unhaltbar  geworden  wäre. 
Schwere  Belagerungsgeschütze  konnten  nicht  beschafft  werden, 
doch  waren  zwei  englische  vierzÖUige  Schnclllader,  zwei  russische 
und  ein  deutsches  12  Centimeter  Geschütz  schon  unterwegs, 
«wi  deren  Eingreifen  man  sich  viel  versprach,  namentlich 
erwarteten  die  Engländer  von  ihren  Lyddit-Granaten  günstige 
Roiultatc. 


160 

Am  Nachmittag  wurde  wieder  das  Artillerie-Duell  auf  dem 
rechten  Flügel  ohne  entscheidende  Erfolge  für  beide  Parteien 
aufgenommen  und  durch  einige  Stunden  unterhalten. 

Am  6.  Juli  begannen  die  Chinesen  zu  ungewöhnlich  früher 
Stunde  die  Stadt  von  Nordost  her  zu  bombardiren ;  später  fielen  auch 
drei  Geschütze  des  Forts  mit  ihrem  Feuer  ein.  In  nächster  Nähe 
des  von  dem  österreichisch  -  ungarischen  Detachement  besetzten 
Hauses  zündete  eine  in  einen  Wollspeicher  einschlagende  Granate, 
doch  gelang  es  den  Leuten  der  »Zenta«,  den  Brand  trotz  des  auf 
das  Gebäude  gerichteten  lebhaften  Feuers  der  Chinesen  zu 
localisiren. 

Das  Bombardement  wurde  von  sämmtlichen  Geschützen  der 
Fremden  erwidert  und  hörte  erst  gegen  2V«  Uhr  nachmittags  auf. 

Die  Geschütze  auf  dem  südwestlichen  Wall  schienen  den 
Chinesen  sehr  unbequem  geworden  zu  sein.  Am  7.  Juli  eröffneten 
sie  aus  einer  auf  halbem  Wege  zwischen  City  und  West- Arsenal 
nachtsüber  errichteten  Geschützstellung  und  aus  dem  West- Arsenal 
ganz  unerwartet  das  Feuer  gegen  die  englischen  Geschütze  und 
die  Stadt,  das  erst  gegen  IV«  Uhr  nachmittags  zum  Schweigen 
gebracht  wurde;  während  die  Engländer  die  erstgenannten  chine- 
sischen Geschütze  unter  Feuer  nahmen,  bombardirten  die  Japaner 
aus  einer  bei  der  Spinnerei  aufgefahrenen  Batterie  das  West- 
Arsenal.  Gleichzeitig  entsendeten  letztere  eine  Escadron  ausserhalb 
des  Walles,  um  den  Chinesen,  falls  sie  das  West- Arsenal  räumen 
sollten,  den  Rückzug  abzuschneiden ;  die  japanische  Cavallerie 
stiess  etwa  einen  Kilometer  vom  Arsenal  auf  eine  200  Mann 
starke,  in  einem  Weiler  festgesetzte  Boxerbande,  erhielt  Feuer, 
attaquirte  sogleich  und  zerstreute  die  Boxer,  von  denen  ungefähr 
die  Hälfte  auf  dem  Platze  blieb. 

Von  Nord  und  Nordost  her  wurde  die  Stadt  am  7.  Juli  nur 
gegen  Abend  kurze  Zeit  mit  Geschützen  beschossen.  Am  8.  Juli 
brachten  die  Engländer  ihre  zwei  Lyddit-Geschütze  sowie  einige 
andere  eben  angekommene  Zwölfpfünder  in  Stellung;  auch  die 
Russen  waren  mit  der  Henstellung  von  Ständen  für  ihre  zwei 
12  Centimeter  beschäftigt;  das  eine  Lyddit-Geschütz  wurde  in 
der  Nähe  des  Ost  -  Arsenals,  das  zweite  auf  dem  Südwestwall 
placirt.  Deshalb  fand  das  am  Morgen  zwei  Stunden  und  nachmittags 
eine  Stunde  währende  Bombardement  nur  relativ  schwache  Er- 
widerung; während  des  Bombardements  schlug  eine  Granate  in 
das  Haus  Osborne  ein,  in  welchem  nun  auch  englische  Truppen 
bequartiert  waren,  tödtete  einen  Engländer  und  verwundete 
deren  zwei. 


161 

Vom  Wall  aus  war  beobachtet  worden,  dass  chinesische  Truppen 
sich  in  den   etwa   zwei  Kilometer  entfernten  Detring'schen  Villen 
festgesetzt  hatten ;  es  war  somit  ersichtlich,  dass  die  Chinesen  das 
durch  den  Fall  des  Ost- Arsenals  Verlorene  durch  eine  Verstärkung 
ihrer  Position    auf    dem    südwestlichen    und    südlichen  Theil    des 
Kampffeldes    einholen  wollten,    von  wo   aus    sie  auch  wieder    die 
Communication  mit  Tongku  zu  bedrohen  vermochten.  Der  japanische 
Brigade-General  Fukuschima,  der  erst  zwei  Tage  vorher  mit  einer 
kleinen    Staffel  Truppen    eingetroffen   war,    unternahm    daher   am 
9.  Juli  bei  Tagesanbruch  mit  seinen  eigenen  Truppen,  Amerikanern, 
Engländern  und  Russen  —  im   Ganzen  an  2500  Mann  —  den  An- 
griff zuerst    gegen   die   Detring'schen  Villen   und  dann    das    Hai- 
kw^antsu- Arsenal. 

Engländer  und  ein  Theil   der  Japaner  sollten  von  der  Nord-, 

der  Rest  der  Colonne  von   der  Südseite  her  vorrücken.  Die  Süd- 

Colonne   führte   eine  japanische,  die  Nord-Colonne    eine  englische 

Feldbatterie  mit,  während  eine  weitere  japanische  beim  Race-course- 

Thor  auffuhr  und    im  Verein   mit  den   englischen  Geschützen  auf 

dem  Wall  die  Action  vorbereitete. 

Die  Chinesen  hatten  sich  ungefähr  2000  Mann  stark  in  den 
Gebäuden  und  im  vorliegenden  Garten  gut  verschanzt  und  im 
letzteren  auch  eine  Batterie  aufgefahren;  diese  wurde  jedoch 
durch  das  concentrische  Geschützfeuer  der  Angreifer  bald  über- 
wältigt. 

Die  Chinesen  suchten  zwar  aus  den  Forts  im  Nordosten 
der  Settlements  die  Angreifer  am  Vorgehen  zu  verhindern,  doch 
schwiegen  ihre  Geschütze  alsbald,  nachdem  die  Batterie  auf  dem 
Wall  ihr  Feuer  gegen  sie  kehrte.  Während  der  Vorrückung  er- 
widerten die  Truppen  das  lebhafte  Gewehrfeuer  der  Chinesen  erst 
auf  kurze  Distanz,  jedoch  mit  so  gutem  Erfolg,  dass  die  Chinesen 
ihre  Stellung  in  eiliger  Flucht  gegen  Westen  räumten,  als  um 
6  Uhr  der  Sturm  angesetzt  werden  sollte.  Im  Inneren  angelangt, 
fanden  die  Stürmenden  nur  mehr  einige  30  verspätete  Chinesen, 
die  niedergemacht  wurden.  Unter  den  an  dieser  Stelle  gefundenen 
Todten  wurde  auch  General  Nieh  erkannt ;  schwer  verwundet  hatte 
er  den  Tod  durch  Gift,  das  jeder  hohe  chinesische  Würdenträger 
stets  bei  sich  trägt,  der  Gefangennahme  vorgezogen. 

Seine  Anwesenheit  auf  jenem  Punkte  beweist  die  Wichtigkeit, 
welche  man  chinesischerseits  der  Position  beimass;  mit  ihm  haben 
die  Chinesen  jedenfalls  einen  ihrer  fähigsten  Führer  verloren,  der 
auch  als  lauterer  Charakter  von  allen  Europäern  in  Tientsin  hoch- 
geschätzt worden  ist. 

Winterhaider:  Kämpfe  in  China.  H 


162 

Nach  kurzer  Rast  brachen  die  Verbündeten,  eine  japanische 
Besatzung  zurücklassend,  gegen  das  West- Arsenal  auf;  von  diesem 
aus  war  die  Nord-Colonne  beschossen  worden,  doch  räumten  die 
Chinesen  es  noch  während  der  Vorrückung  und  zogen  sich  in  die 
City  zurück. 

Um  11  Uhr  vormittags  waren  die  beiden  Positionen  in  den 
Händen  der  Alliirten,:die  darin  einige  Krupp'sche  Feldgeschütze 
erbeuteten;  ihre  Verluste  betrugen  7  Todte  und  30  Verwundete, 
jene  der  Chinesen  circa  350  Mann. 

Das  Haikwantsu-Arsenal  wurde  auch  an  diesem  Tage  noch 
nicht  dauernd  besetzt,  da  es  wegen  seiner  grossen  Ausdehnung 
und  der  Nähe  an  der  City  zu  viel  Truppen  immobilisirt  hätte ;  man 
begnügte  sich  daher,  nochmals  daran  Feuer  zu  legen. 

Um  lOVi  Uhr  vormittags  begann  wieder  ein  zweistündiges 
Bombardement  der  Stadt  aus  den  im  Norden  und  Nordosten  be- 
findlichen chinesischen  Batterien ;  eine  Grjinate  schlug  gegen  Mittag 
in  die  kleine  Küche  des  österreichisch  -  ungarischen  Detachements 
und  crepirte,  doch  blieben  zwei  eben  mit  dem  Abkochen  be- 
schäftigte Matrosen  wunderbarerweise  unverletzt. 

Am  9.  Juli  übernahm  der  russische  Vice-Admiral  Alexeieff 
das  Ober-Commando  in  Tientsin. 

Die  Ereignisse  der  letzten  Tage  hatten  die  Nothwendig- 
keit  eines  einheitlichen  Ober  -  Commandos  klar  dargethan ;  nun 
waren  die  Fremden  schon  über  10.000  Mann  stark,  aber  auch 
die  chinesischen  Truppen  hatten  frische  Zuzüge  erhalten,  so  dass 
sie  gewiss  über  20.000  Mann  verfügten.  Ihre  numerische  Ueber- 
macht  erhielt  aber  durch  die  guten  und  festen  Stellungen  noch 
eine  grössere  Bedeutung  und  man  durfte  nicht  länger  zögern, 
diese  letzteren  anzugreifen,  um  endlich  in  den  unbestreitbaren 
Besitz  der  Stadt  zu  gelangen  und  dadurch  den  täglichen,  sich 
summirenden  kleinen  Verlusten  ein  Ende  zu  machen;  gerade  die 
Ungunst  des  Zahlenverhältnisses  zwischen  Alliirten  und  Chinesen 
erheischte  aber  eine  umso  sorgfältigere  Disponirung  der  auö  acht 
Nationen  bestehenden  Truppen. 

Die  von  den  Tientsiner  Kaufleuten  lange  Zeit  geltend  gemachten 
Bedenken,  dass  ein  Bombardement  der  City  mit  ihren  reichen 
Waarenvorräthen  nicht  nur  den  Chinesen  enormen  vSchaden  bringen, 
sondern  auch  die  commerziellen  Interessen  der  Fremden  aufs  Be- 
denklichste treffen  würde,  mussten  natürlich  ^anz  bei  Seite  gesetzt 
werden;  ein  Gesichtspunkt,  hinsichtlich  dessen  Vice-Admiral  Sey- 
mour  nicht  mit  der  absolut  nöthigen  Energie  aufgetreten  und  dem- 
zufolge  in  Differenz    mit  dem    russischen  Vice-Admiral    gerathen 


163 

war,    welch    letzterer    sich   diesfalls   mit  Recht  von    militärischen 
Motiven  allein  leiten  liess. 

Am  10.  Juli  herrschte  so  ziemlich  Ruhe,  nur  die  Engländer 
erhielten  während  der  Arbeiten  auf  dem  Walle,  um  ihr  Lyddit- 
Geschütz  gegen  die  City  in  Position  zu  bringen,  ab  und  zu  Feuer. 
Nachmittags  rückten  700  Amerikaner  unter  Oberst  Liscombe  auf 
dem  Flussweg  ein;  die  letzten  acht  Meilen  hatte  der  Oberst 
marschirend  zurücklegen  lassen,  um  die  Gegend  zu  recognosciren 
und  wenn  nöthig  von  versprengten  Chinesen  zu  säubern.  Gegen 
Abend  schlugen  die  Russen  bei  der  Militärschule  eine  Brücke  aus 
Sampangs  und  Balken  über  den  Peiho  und  räumten  sie  wieder, 
nachdem    die  Erprobung   nicht   zur  Zufriedenheit  ausgefallen  war. 

Für  den  11.  Juli  war  eine  Beschiessung  und  der  Angriff  der 
City  von  Südwesten  und  Osten  her  geplant  und  deshalb  auch  schon 
spät  abends  am  10.  eine  japanisch-amerikanisch-englische  Colonne 
nächst  dem  Haikwantsu- Arsenal  bereitgestellt  worden;  ganz  un- 
erwartet griffen  die  Chinesen  aber,  welche  im  Laufe  der  Nacht 
entlang  des  Bahndammes  vorgerückt  waren,  am  Morgen  des  11. 
den  Bahnhof  mit  überlegenen  Kräften  an,  so  dass  dessen  aus 
Franzosen,  Japanern  und  Engländern  bestehende  Besatzung  einen 
dreistündigen  harten  Kampf  zu  bestehen  hatte.  Dabei  mussten  die 
Chinesen,  die  sich  schon  in  einigen  Waggons  festgesetzt  hatten 
mit  der  blanken  Waffe  delogirt  werden.  Schliesslich  gelang  es, 
nachdem  Verstärkungen  herangezogen  worden  waren,  doch,  die 
Chinesen  mit  einem  Verluste  von  700  Mann  zu  vertreiben,  während 
die  AUiirten  gegen  150  Todte  und  Verwundete  hatten ;  die  grösste 
VerlustzifFer  entfiel  auf  das  japanische  und  das  französische 
Contingent. 

Der  geplante  allgemeine  Angriff  unterblieb  somit;  eine  von 
General  Fukuschima  gegen  das  wSüdwestthor  der  City  geführte 
Colonne  Japaner,  Amerikaner  und  Engländer  stiess  auf  so  starken 
Widerstand,  dass  sie  sich,  obwohl  schon  auf  500 — 600  Meter  gegen 
die  City  herangekommen,  wieder  zurückziehen  musste. 

Der  12.  Juli  wurde  den  Vorbereitungen  für  den  combinirten 
Angriff  auf  die  City  gewidmet,  der  am  kommenden  Tag  mit  Ein- 
setzung aller  Kräfte  erneuert  unternommen  werden  sollte;  der 
Aufschub  erfolgte  hauptsächlich,  um  den  russischen  Pionnieren  Zeit 
zur  Zusammenstellung  ihrer  Brückenequipagen  zu  lassen,  die  zum 
Angriffe  auf  den  linken  Flügel  der  Chinesen,  d.  i.  zur  Ueber- 
schreitung  des  Lutai-Canales  unbedingt  gebraucht  wurden. 

Der  Angriff  sollte  von  zwei  Seiten,  d.  i.  im  Nordosten  durch 
3000  Russen    und    200  Deutsche,  von   Süden    und  Südwesten    her 

11* 


166 

vorzugehen  und  am  linken  Flügel  der  Japaner  anzuschliessen ; 
die  Japaner  hätten  bereits  die  Mauern  erstiegen,  fügte  General 
Dorward  bei.  Das  österreichisch-ungarische  Detachement  rückte 
daher  im  Laufschritt  über  die  Brücke  des  Erdwalles  und  die 
Strasse  vor  und  erreichte  inmitten  eines  wahren  Hagels  von  Ge- 
schossen, circa  1  ^U  Kilometer  der  offenen  Zone  durchmessend,  ein 
Häuschen,  in  dessen  Deckung  vier  Mann  mit  der  Reservemunition 
zurückgelassen  wurden;  schon  während  dieses  Sprunges  war  sich 
LinienschifFs-Lieutenant  Indrak  darüber  klar  geworden,  dass  die 
Mittheilung  General  Dorward's  bezüglich  der  Japaner  auf  einem 
Missverständnisse  beruhen  müsse,  doch  drängte  es  ihn  umsomehr, 
möglichst  rasch  in  die  zugewiesene  Position  zu  gelangen,  als 
dadurch  die  österreichisch-ungarischen  Matrosen  die  erste  euro- 
päische Truppe  in  der  vorgeschobensten  Linie  würden.  Mit  einem 
zweiten  Sprunge  wurde  der  Anschluss  an  die  Japaner  erreicht 
und,  die  Reste  zerschossener  Häuser  ausnützend,  die  Schützenlinie 
formirt;  man  befand  sich  unter  einem  verheerenden  Kreuzfeuer, 
denn  die  Chinesen  waren  aus  den  Häusergruppen  rechts  der  City 
noch  nicht  vertrieben  worden  und  flankirten  von  dort,  wo  sie  in 
einer  verlassenen  grossen  Dampfmühle  eine  befestigte  Stellung 
inne  hatten,  die  Angreifer. 

Das  Feuer  gegen  die  chinesischen  Schützen  in  der  halben 
Mauerhöhe  wurde  nur  langsam  unterhalten,  um  sich  nicht  zu  ver- 
schiessen;  Aufgabe  der  Geschütze  war  es,  die  City  durch  Bre- 
schirung  der  Mauer  sturmreif  zu  machen,  was  aber  trotz  Lyddit- 
Granaten  bisher  noch  nicht  gelungen  war. 

Als  nächste  Truppen  rückten  links  vom  Detachement  Indrak 
Engländer  und  rechts  desselben,  die  Japaner  weiter  nach  Osten 
drängend,  Franzosen  in  die  erste  Linie;  die  Amerikaner  nahmen 
rechts  der  Japaner,  ein  Theil  auch  links  der  Engländer  Stellung. 
Die  Engländer  hatten  während  der  Vorrückung  zahlreiche  Ver 
luste  erlitten,  von  den  Matrosen  der  Zenta  war  bisher  wunder- 
barerweise noch  Niemand  auch  nur  leicht  verwundet  worden. 

Während  sich  nun  die  Feuerlinie  der  Angreifer  immer  mehr 
verdichtete,  jedoch  mangels  einer  sichtbaren  Wirkung  des  Ge- 
schützfeuers nicht  weiter  als  300 — 400  Meter  von  der  Mauer  vor- 
geschoben werden  konnte  und  somit  in  einem  mörderischen  Feuer 
fast  schutzlos  ausharren  musste,  griff  um  9  Uhr  vormittags  eine 
etwa  IVi  Kilometer  westlich  der  City  aufgestellte  chinesische 
Batterie  die  amerikanischen  und  japanischen  Geschütze  beim 
West- Arsenal  an,  musste  sich  jedoch  bald  vor  deren  überlegenem 
Feuer  zurückziehen. 


Ein   anderer  Versuch    der    Chinesen,    die   linke    Flanke    der 
AUiirten    durch    einen  Angriff  von  Infanterie  und  Cavallerie,    zu- 
I  etwa  1500  Mann,  zu  erschüttern,  scheiterte  an  dem  Wider- 


stände  der    Reserve    der    Colonne  Dorward,    welche    hiezu   noch 
zwei  Maxim-Kanonen  als  Verstärkung  erhielt. 

Nachdem    es   bisher    nicht    gelingen    wollte,    die   Mauer   der 
City    so    weit    in    Bresche    zu    legen,    um    ohne  Escaladirgerathe 


168 

einen  Sturm  zu  versuchen,  wurde  um  10  Uhr  vormittags 
die  ganze  Feuerkraft  sämmtlicher  disponibler  Geschütze  ein- 
gesetzt; die  Schussfrequenz  betrug  während  einer  halben  Stunde 
25 — 30  Schuss  pro  Minute.  Aeusserlich  war  jedoch  kein 
anderer  Erfolg  wahrnehmbar,  als  dass  das  Gewehrfeuer  aus  der 
City  etwas  nachliess,  hingegen  umso  lebhafter  aus  den  chinesi- 
schen Häusern  nächst  dem  französischen  Settlement  wurde.  Eine 
Bresche  war  zwar  rechts  vom  Stadtthor  entstanden,  doch  noch 
zu  unbedeutend,  um  dort  den  Sturm  zu  versuchen,  hingegen 
sollen  die  chinesischen  Truppen  innerhalb  der  Mauern  während 
dieser  halben  Stunde  der  Entwicklung  der  grössten  Feuerkraft 
enorme  Verluste  durch  die  Shrapnels  der  AUiirten  gehabt  haben, 
immerhin  aber  setzten  sie  den  Widerstand  noch  so  hartnäckig 
fort,  dass  die  AUiirten  keinen  Fuss  Terrain  nach  vorwärts  ge- 
wannen. 

Das  Detachement  Indrak  wurde  namentlich  durch  die  Schüsse 
aus  der  chinesischen  Stellung  rechts  vorne  stark  belästigt  und 
hatte  während  dieser  Phase  des  Kampfes  vier,  darunter  einen 
Schwerverwundeten ;  die  längste  Zeit  hindurch  war  aber  das  Feuer 
so  intensiv,  dass  ein  Wegschaffen  der  Verwundeten  erst  nach 
Stunden  stattfinden  konnte. 

Die  Chinesen  hielten  mit  staunenswerther  Zähigkeit  aus, 
selbst  nachdem  der  nordöstliche  Theil  der  City  durch  Geschütz- 
feuer in  Brand*)  gerathen  war ;  der  Vor-  und  Nachmittag  vergingen, 
ohne  dass  die  japanischen  Sappeur-Abtheilungen  im  Stande  ge- 
wesen wären,  sich  bis  zum  Thore  vorzuarbeiten,  um  es  zu  sprengen, 
denn  jedesmal,  wenn  sich  irgend  Jemand  aus  den  aufgeworfenen 
Deckungen  erhob,  steigerten  die  Chinesen  ihre  Schussabgabe  bis 
zum  Schnellfeuer,  in  das  noch  kleincalibrige  Schnellfeuerkanonen 
einstimmten. 

Nachmittags  fielen  anscheinend  aus  einer  Stellung  hinter  der 
Westseite  der  City  wieder  Granatschüsse  gegen  die  Angreifer, 
gingen  jedoch  glücklicherweise  sämmtlich  zu  hoch  und  schlugen 
ins  Feld  zwischen  den  angreifenden  Truppen  und  ihren  weiter 
rückwärts  befindlichen  Batterien  ein. 

Nach  1  Uhr  nachmittags  hatte  General  Dorward  wieder  die 
Nachricht  erhalten,  dass  die  Japaner  bereits  in  die  Stadt  ein- 
gedrungen wären,  die  sich  aber  nur  zu  bald  als  irrig  heraus- 
stellte. Das  Bombardement  durch  die  AUiirten  wurde  unter  solchen 
Umständen  fortgesetzt,  hingegen  stellten  die  vorne  befindlichen 
Fusstruppen    an    den    meisten  Punkten   das  nutzlose  Feuer  gegen 

*)  Angeblich  Hauptverdienst  der  englischen  Lyddit-Granaten. 


169 

die  allzu  gxit  befestig^te  Stellung  der  Chinesen  ein,  die  sich  auch 
gegen  die  Feldgeschütze  zu  stark  erwiesen  hatte. 

Gegen  Abend  meldete  die  am  äussersten  linken  Flügel  auf- 
klärende japanische  Cavallerie,  dass  sich  in  grosserer  Entfernung 
neuerdings  compactere  chinesische  Truppenmassen  zeigten,  die 
allerdings  vorerst  eine  zuwartende  Haltung  beobachteten;  die 
Deckung  gegen  einen  neuerlichen  Flankenangriff  übernahmen 
über  Ersuchen  des  japanischen  Generals  die  Engländer. 

Inzwischen  hatte  man  sich  darein  finden  müssen,  in  der 
kommenden  Nacht  nur  die  seit  dem  Morgen  eingenommene  Stellung 
unter  den  Mauern  der  City  besetzt  zu  halten  und  die  Erneuerung 
des  Angriffes  auf  Tagesanbruch  zu  verschieben;  die  japanischen 
Sappeure  sollten  unter  dem  Schutze  der  Dunkelheit  Alles  vor- 
bereiten, um  beim  ersten  Frühlicht  das  Südthor  zu  sprengen. 

Nach  Sonnenuntergang  erst  konnten  die  Nationen,  welche 
über  Reserven  verfügten,  solche  zur  Ablösung  wenigstens  eines 
Theiles  der  Leute  vorschieben,  und  erst  um  diese  Zeit  war  es  mög- 
lich, die  schwerer  Verwundeten  wegzutransportiren  und  Trink- 
wasser an  die  ganz    erschöpften  Truppen  zu  vertheilen. 

Das  österreichisch-ungarische  Detachement,  welches  inzwischen 
noch  einen  Verwundeten  verloren,  wurde  um  10  Uhr  nachts  vom 
General  Dorward  zurückberufen  und  rückte  um  11  Vi  Uhr  in  seiner 
Kaserne  ein;  seit  4  Uhr  morgens  —  also  volle  18  Stunden  im 
Feuer,  hatte  es  einen  der  gefahrlichsten  Punkte  besetzt  gehalten, 
ohne  die  Labung  eines  erfrischenden  Trunkes,  ohne  ^Schutz  vor 
^er  glühenden  Sonne  im  freien  Felde!  Trotzdem  war  die  morali- 
sche Verfassung  der  kleinen  Truppe  die  denkbar  beste  und  Hess 
sie  die  gewaltige  physische  Anstrengung  leicht  ertragen. 

Als  einer  Episode,  die  für  das  richtige  Denken  und  die 
Kühnheit  des  Betreffenden  einen  glänzenden  Beweis  liefert,  sei 
^ier  der  Handlung  des  Matrosen  1.  Cl.  Ursid  Erwähnung  gethan. 
Mit  der  Reservemunition  zurückgelassen,  kam  er  in  die  Lage, 
Linienschiffs-Lieutenant  Indrak  eine  nach  seiner  Ansicht  wichtige 
Meldung  zu  überbringen  und  einen  Befehl  einzuholen,  ob  er  an 
^^m  ihm  bestimmten  Platze  zu  bleiben  habe  oder  nicht;  ohne 
Fudern  durchlief  er  die  200  Meter  freien  Feldes  bis  zur  Feuer- 
Knie  und  kehrte  dann  ebenso  ungesäumt  zurück  —  Alles  zu  einer 
Z^it,  wo  die  Chinesen  gerade  ihr  heftigstes  Schnellfeuer  abgaben, 
^  dass  die  nächsten  Truppen,  darunter  auch  die  Japaner,  ihm 
lauten  Beifall  zuriefen. 

General  Dorward  dankte  dem  österreichisch -ungarischen  De- 
tachement -  Commandanten    noch     am    Abend     mündlich     für     die 


170 

bravouröse  Theilnahme  an  den  Kämpfen  des  Tages  und  richtete 
später  ein  für  ihn  und  seine  Leute  äusserst  schmeichelhaftes  An- 
erkennungsschreiben an  LinienschifiFs-Lieutenant  Indrak. 

Das  chinesische  Feuer  verstummte  während  der  Nacht  fast 
gänzlich. 

Auf  dem  rechten  Flügel  hatten  Russen  und  Deutsche  nach 
schwerem  Kampfe  zuerst  die  chinesische  Batterie  und  dann  das 
erste,  am  weitesten  gegen  Nordost  gelegene  befestigte  Lager  er- 
stürmt, dabei  gleich  zu  Beginn  der  Action  durch  Geschützfeuer 
ein  Pulver-  und  ein  Dynamit-Depot*)  am  Lutai-Canal  zur  Explosion 
gebracht,  deren  überaus  mächtige  Detonation  auch  auf  dem  linken 
Flügel  mit  Beifall  begrüsst  worden  war;  den  Angriff  auf  die 
übrigen,  mehr  im  Norden  der  Stadt  angelegten  Lager  mussten 
auch  sie  der  vorgeschrittenen  Tageszeit  halber  auf  den  14.  Juli 
verschieben. 

Um  3  Vi  Uhr  morgens  des  14.  Juli  sprengten  die  Japaner**) 
das  Südthor  der  City  und  drangen,  gefolgt  von  den  Franzosen, 
Engländern  und  Amerikanern  in  die  Stadt  ein,  wo  sich  nur  mehr 
diejenigen  Reste  der  chinesischen  Garnison  verzweifelt  zur  Wehre 
setzten,  die  sich  bei  der  Plünderung  verspätet  hatten ;  der  Strassen- 
kampf,  in  dem  auch  viele  chinesische  Nichtcombattanten  den  Tod 
fanden,  hörte  erst  um  8  Uhr  vormittags  auf. 

Lizwischen  hatten  die  Russen  und  Deutschen  die  Lager 
ebenfalls  verlassen  gefunden  und  davon  Besitz  ergriffen,  wobei 
ihnen  eine  Menge  Geschütze  und  Gewehre  sammt  Munition  in 
die  Hände  fielen. 

Die  Chinesen  hatten  in  der  Nacht,  die  Erfolglosigkeit 
weiteren  Widerstandes  einsehend,  den  Rückzug  gegen  Norden 
so  früh  angetreten,  dass  nur  mehr  ihre  Nachhut  kurze  Zeit 
verfolgt  werden  konnte. 

Tientsin  war  somit  endlich,    nach    26tägiger  Belagerung    und 

Beschiessung  gänzlich  im  Besitze  der  Alliirten ;  die  Einnahme  der 

City    und    der    Militärlager    hatte    den    letzteren    schwere  Opfer, 

darunter    auch    den    amerikanischen    Oberst    Liscombe,    gekostet, 

wie  aus  der  folgenden  Zusammenstellung  zu  ersehen: 
*     ■  ■  — 

♦)  Diese  Explosion  wurde  auch  in  Taku  gehört.  Deutsche  und  Russen  befanden 
sich  im  Augenblick  auf  circa  600  Meter  von  der  Explosionsstelle;  die  Leute  wurden  durch 
den  immensen  Luftdruck  zu  Boden  geschleudert,  einige  auf  kurze  Zeit  bewusstlos  ge- 
macht. Der  Eindruck  war  so  überwältigend,  dass  das  Feuer  beiderseits  einige  Minuten 
schwieg. 

**)  Man  erzählt,  dass  ein  japanischer  Sappeurofficier,  verzweifelt  über  das  Ver- 
sagen der  elektrischen  Zündung,  mit  Aufopferung  seines  Lebens  eigenhändig  die  erste 
Mine  entzündete. 


^^^H  Slirke  der  Angreifer  Toiilc  udü  Vcrwucdctc 

^"^         Amerikaner     ....     lliOO  ^94  Mann                        i 

Deutsche 2(MJ  V6       •                           I 

Engländer 800  löü       .                           I 

Franzosen 1200  2U0       ■                           1 

Japaner 3000  350       -                            1 

Oesterrei eher- Ungarn  .45  ö       ■ 

Russen 3000  20Ö       » 

9845  1220  Mann  oder  12-3  % 

Die  Verluste  der  Chinesen  können  nur  sehr  annäherungs- 
weise angegeben  werden,  doch  schätzt  man  sie,  gestützt  auf  Aus- 
sagen ihrer  eigenen  Landsleute,  auf  7000  Mann  Militär  allein;  die 
Unmenge  von  in  der  City  allein  vorgefundenen  Leichen  lasst 
diese  Anzahl  als  nicht  übertrieben  erkennen,  zu  welcher  noch 
ungefähr  3000  während  des  Bombardements  und  Strassenkampfes 
getödtele  Einwohner  gerechnet  werden  müssen. 

Die  Gesammt Verluste  während  der  ganzen  Belagerung  be- 
trugen auf  Seite  der  Allürlen  ungefähr  1800 — 1900,  bei  den  Chi- 
nesen an  lO.OOOMann:  in  letztere  Ziffer  sind  jedoch  die  Tausende 
von  Boxern  und  friedlichen  Chinesen,  die  in  gegenseitigem  Kampfe 
tu  Grunde  gingen,  nicht  einbegriffen.  Die  chinesischen  Angaben 
über  diese  Opfer  scheinen  durchaus  übertrieben  —  sie  mögen  er- 
schreckend zahlreich  gewesen  sein,  haben  aber  die  von  einem 
chinesischen  Fabriksingenieur  ausgesprochene  Zahl  von  80.000 
gen-is-s  nicht  erreicht. 

Aus  der  vorstehenden  Schilderung  der  Kämpfe  in  und  um 
Tientsin  mag  der  Leser  schon  entnommen  haben,  dass  die  Aufgabe 
der  Verbündeten  keineswegs  eine  leichte  gewesen :  die  besten 
Truppen  TschilLs,  wahrscheinlich  auch  von  ganz  China,  bedrängten 
hier  ein  kleines  Häuflein  Streiter  acht  verschiedener  Nationen, 
noch  dazu  grossentheils  Seeleule,  die  sich  im  Krieg  zu  Lande  nur 
»uf  ihre  natürliche  Findigkeit  und  ihr  ernstes  Pflichtgefühl,  aber 
nicht  auf  die  grosse  Lehrmeiaterin  Erfahrung  stützen  konTiten! 

Von  dem  Aussehen  der  schwergeprüften  .Stadt  nach  der  Ver- 
treibung der  chinesischen  Truppen  und  der  Hauptmenge  der  Boxer, 
deren  doch  manche  noch  in  Verstecken  zurückgeblieben  waren, 
gibt  Linienschiffs- Lieutenant  Indrak  ein  treffendes  Bild  durch 
Wiedergabe  seiner  Eindrücke  bei  der  Begehung  aller  Statten,  wo 
sich  Kämpfe  abgespielt  haben. 

»Im  deutschen  Settlement  war  eine  grosse  Zahl  der  dort  be- 
findlichen leicht  brennbaren  Chinesenhäuser  beim  Bombardement  ii 


Brand  ^schössen  worden  und  total  abg'ebrannt.  so  tlass  daselbst  nur 
mehr  die  in  Stein  gebauten.  Europaern  gehörigen  Häuser  stehen.  Am 
wenigsten  Schaden  hat  das  englische  Settlement  genommen,  weil  es 
durch  das  französische  ziemlich  geschützt  war.  Es  blieb  zwar  kein 
Haus  von  Granaten  verschont  und  jedes  derselben  hat  durch.schnittlich 
Ewei  bis  drei  Treffer  aufzuweisen ;  da  sie  jedoch  alle  massiv,  nach 
miropäischer  Art  gebaut  sind,  so  kam  es  nur  einmal  zum  Brande 
eines  Lagerhauses,  der  aber  nach  einigen  Stunden  gelöscht  wurde. 
Am  meisten  hat  das  französische  Settlement  gelitten,  es  gleicht 
bis  auf  wenige  bewohnbar  gebliebene  Häuser  einem  Trümmer- 
haufen: zum  Theil  wurden  sie  so  beschossen,  dass  sie  einstürzten. 


Mm  Theil  von  dem  in  Folge  der  Beschiessung  entstandenen  Bränden 
Wrstört.  Die  stärkste  Verwüstung  zeigt  das  Haus  der  Eisenbahn- 
dircction  am  französischen  Bund,  welches  die  ganze  Zeit  von 
Ro&sen  besetzt  gehalten  wurde;  in  dessen  Uferfront  allein  haben 
33  Granaten  und  unzählige  Gewehrgeschosse  eingeschlagen. 

Alle  um  die  Niederlassungen  gelegenen  Dörfer  und  Weiler 
sind  vollkommen  abgebrannt.  Die  ärgste  Verheerung  ist  aber  auf 
der  Eisenbahnstation  angerichtet  worden.  Die  Stationsgebäude 
Bowie  die  zahlreichen  Waggons  sind  vollkommen  zusammenge- 
schossen, alles  Uebrige  einschliesslich  der  dort  gelagert  gewesenen 
VTaaren  ein  Raub  der  Flammen  geworden;  gegenwärtig  (17.  Juli) 
dient  für  die  unter  russischem  Betriebe  wieder  verkehrenden  Züge 
das  eine  englische  Meile  von  der  ehemaligen  Station  befindliche 
ru&Hi.sche  Lager  als  Bahnhof. 


I 


Das  grosse,  circa  zehn  Quadratkilomeier  Fläche  bedeckende 
Ost-Arsenal  ist  relativ  gut  erhalten;  einige  Gebäude  sind  woh! 
niedergebrannt,  der  grösste  Theil  der  Werkstätten  und  Magazine 
ist  sammt  den  Vorräthen  an  Munition  und  A usrüa tu ngs- Material 
fast  ganz  unversehrt  geblieben. 

Von  den  Militärlagern  der  Chinesen  im  Nordosten  der  Stadt 
ist  nach  der  grossen  Explosion  fast  nichts  mehr  übrig  geblieben. 
Die  City  hat  durch  das  Bombardement  und  die  daraus  entstandenen 
Brände  sehr  gelitten,  hauptsächlich  an  der  Süd-  und  Nordostseite  — 
einige  Strassen  sind  buchstäblich  mit  Leichen  gefüllt. 

Das  Fort  in  der  Chinesenstadt  ausserhalb  der  City  hat  ver- 
bal tnissmäss  ig  wenig  Schaden  genommen,  nur  die  Pagode,  welche 
den  Chinesen  als  Aussichtspunkt  gedient,  ist  vollkommen  zusammen- 
geschossen. Man  fand  dort  32  Stück  10  Centimeter  Vorderlader, 
sechs  zwölfpfündige  Geschütze  Krupp'scher  Erzeugung  aus  den 
Jahren  1885 — li^M  und  eine  Batterie  von  sechs  Mörsern.  Ausser- 
dem haben  die  Chinesen,  nach 
lien  vorgefundenen  ausge- 
schossenen Patronenhülsen  zu 
schliesscn,  auch  aus  zwei 
12  Centimeter  Schnellade- 
Geschützen  gefeuert,  die  sie 
aber  auf  eine  allerdings  schwer 
zu  erklärende  Weise  vor  ihrer 
Flucht  verschwinden  gemacht 
—  vielleicht  in  den  Fluss  ver- 
senkt —  haben. 

Im     Yamen     des     Vice- 
königs.     welches    eine    Com- 
pagnie    Russen    besetzt   hält, 
fand  man  grosse  Vorräthe  an 
Waffen     und     Munition     aller 
Art.  Ich   selbst  sah   in   einem 
Zimmer    des    Palastes    einige 
offene    Kisten,     deren    Inhalt 
zerstreut  und  zerrissen  auf  dem 
Boden   lag;    bei   näherer  Be- 
sichtigung   erkannte    ich    zu 
meinem  grossen  Staunen  einige  deutsche  Bücher  mit  dem  Namen 
. Gottwald'    —    ferner    einige  Briefe,   so   dass   kein    Zweifel    mehr 
erübrigte,   dass  ich  die  Reste  der  von  Consular-Secretär  Gottwald 
I  Röckzuge  in  Yangtsun  zurückgelassenen  Habe  vor  mir  hatte. 


175 

So  viel  ich  noch  sammeln  konnte,  Hess  ich  dem  g^enannten  Herrn 
wieder  zustellen. 

Das  ehemalige  grosse  Militärlager  hinter  dem  viceköniglichen 
Yamen  und  das  noch  entferntere  Arsenal  von  Hsiku  haben  eben- 
falls Russen  besetzt  'und  auch  in  letzterem,  das  am  26.  Juni  nur 
unvollständig  zerstört  worden  war,  noch  reiche  Beute  gemacht. 

Auf  Schritt  und  Tritt  stösst  man  auf  Cadaver  von  Chinesen, 
die,  um  dem  Ausbrechen  von  Epidemien  vorzubeugen,  rasch  be- 
seitigt werden  müssen  und  daher  verbrannt  werden.  Man  erzählt 
mir,  das  die  bei  Boxern  vorgefundenen  Amulete,  die  ihnen  das 
Wiedererstehen  vom  scheinbaren  Tode  sichern  sollten,  schon  eine 
Prolongation  des  Wundertermines  aufweisen  —  früher  wurde  ihren 
Trägern  versprochen,  sie  würden  nach  24  Stunden  wieder  heil  und 
gesund  in  die  Reihen  der  »himmlischen  Soldaten*  zurückkehren, 
die  letzten  Amulete  lauteten :  ,In  Anbetracht  der  grossen  Ueber- 
bürdung  der  heilenden  Geister*  auf  acht  Tage ! 

Am  14.  und  15.  Juli  war  fast  kein  einziger  friedlicher  Chinese 
zu  sehen;  jetzt  fangen  sie  an,  doch  wieder  Muth  zu  fassen  und 
kehren  langsam  in  die  City  zurück,  der  Verkehr  ist  aber  noch 
sehr  spärlich  und  von  der  Aufnahme  des  früher  so  regen  Handels 
vorderhand  noch  keine  Spur. 

Die  ganze  Fremdenstadt  ist  ein  grosses  Militärlager  und  jeder 
Hof  mit  Geschützen,  Pferden  und  Fuhrwerken  vollgepfropft;  für 
uns  österreichisch-ungarische  Officiere  hat  Herr  Osborne  in  liebens- 
würdigster Weise  seine  ganze  Wohnung  zur  Verfügung  gestellt.« 

Linienschiffs-Lieutenant  Indrak  Hess  aus  der  City,  zu  deren 
endlichem  Falle  das  kleine  österreichisch-ungarische  Detachement 
so  wacker  auch  sein  Scherflein  beigetragen,  zwei  Maxim-Norden- 
feldt-Mitrailleusen,  vier  Truppenbanner  und  eine  grössere  Anzahl 
Gewehre  mit  Munition,  darunter  auch  einige  tausend  Mannlicher- 
Patronen  als  Kriegsbeute  wegnehmen;  in  halb  verbrannten,  zer- 
schossenen Häusern  vorgefundene  Werthgegenstände  und  Silber- 
barren wurden  auf  seinen  Befehl  dem  englischen  LinienschiflFs-Capitän 
Bayly  übergeben*)  —  vor  dem  Vorwurfe  der  Plünderung  stehen 
somit  die  österreichisch  -  ungarischen  Matrosen  in  Tientsin  ebenso 
wie  auf  allen  übrigen  Kampfplätzen  gefeit  da. 

Eine  der  ersten  Sorgen  nach  der  Einnahme  der  City  bildete 
die  Wiederschaffung  geordneter  Zustände ;  zu  diesem  Zwecke  wurde 


♦)  Capitän  Bayly  übergab  im  Februar  1901  einen  Check  auf  100  £  als  Anthcil 
an  Beutegeldern  für  das  ursprüngliche  Detachement  in  Tientsin,  die  jedoch,  da  es  nach 
anseren  Gesetzen  Beutegelder  im  Krieg  zu  Lande  nicht  gibt,  für  besondere  Anschaffungen 
zu  Gunsten  der  Escadre-Mannschaft  überhaupt  ven\endet  wurden. 


eine  provisorische  Regierung  für  das  Gebiet  der  chinesischen 
Stadt  Tientsin  eingesetzt!  'n  welcher  alle  Nationen  vertreten 
sollten  und  an  deren  Spitze  ein  aus  drei  von  den  commandirenden 
Officieren  zu  wählenden  Mitgliedern  bestehender  »Raih"  stand. 
Für  Oesterreich- Ungarn  trat  in  die 
provisorische  Regierung  der  in 
Tientsin  ansässige  Kaufmann  Herr 
Paul  Bauer,  k,  und  k.  Artillerie- 
Lieutenant  in  der  Reserve, 
der  sich  in  dieser  Stellung  bald 
eines  durch  seine  Tüchtigkeit  wohl- 
verdienten  Ansehens  erfreute.*) 

Die  Befugnisse  dieser  provi' 
sorischen  Regierung  umfasstea 
Jurisdiction  und  Administration  in 
dem  ganzen  Gebiete  mit  Ausschluss 
der  bereits  vor  der  Belagerung  be- 
standenen Fremdenniederlassungen 
und  der  militärisch  besetzten  Ai^ 
senale,  der  Eisenbahn  und  des  Tele- 
graphen. 

Kmw  d,-,  L^iboiiichci.  titi,*>i.ai<..  uiy    Hauptaufgaben    bildeten 

zunächst :  Wiederherstellung  von 
Ordnung  und  Sicherheit,  sanitäre  Obsorgen,  Erleichterung  der 
militärischen  Operationen  durch  HerbeischafFung  von  Lebens-  und 
Transportmitteln,  Aufstellung  eines  Inventars  über  das  Eigenthum, 
der  chinesischen  Regierung  und  Privaten  an  Mobilien  und  Immo- 
bilien, endlich  Präventivmassregeln  gegen  Hungersnoth, 

Die  ganze  Institution  trug  einen  rein  localen  Charakter,  indem 
sie  die  Sphäre  der  Consularvert reter  nur  insoferne  berührte,  als 
letztere  ihre  auf  das  Stadtgebiet  bezüglichen  Wünsche  dem  Rath. 
der  provisorischen  Regierung  vorlegen  sollten;  dem  militänschea 
Einfluss  Hessen,  wie  es  die  kriegerische  Zeit  bedingte,  die  Zusammen- 
setzung und  Geschäftsordnung  volle  Freiheit. 

Um  das  Volk  zu  beruhigen,  erliessen  die  commandirenden 
Officiere  am  16.  Juli  folgende  Prociamation:**) 

*)  Herr  Bauer  gchöii  noch  immer  der  provisutltchen  Regietuu^  in  hcrrorrHgtiilli 
Siel  lang  an. 

■■)  Gcukbnet;  fOr  DeuUchland:  Capitän  lui  See  von  Usedoin;  fUr  Ettglaiid! 
GcD«ial  Ilorwntd,  Capilfln  Bayly ;  für  Fmnkreidi :  de  PcLicoi.  utierit ;  lür  IliUcn 
Siriauni,  LinJCDschiiTs-Liculenanl ;  fiit  JapAa;  Geucial  Kokuschimaifili  Ocsiccreich-Diiginil 
Unienichiffi-l.icutimiut  Tndnb:  ßr  RuuLind:  Vice-Admitd  AlexciefT,  Gcnenl>U^( 
r  VneinifEie  Staaten:  Übcnt  Meade. 


die  Einwohner  der  Sladt  Tientsin!    Mit  dem  Bombarde- 

, der    Stadt   Tientsin    haben    die   aUiirten    Mächte  blos    auf 

'fflfe  Angriffe  der  Rebellen   auf   die    Fremdenniederlassungen    ge- 
antwortet. 

Gegenwärtig,  nachdem  Euere  eigenen  Behörden  pflichU'ergessen 
ihre  Posten  verlassen  haben,  erachten  es  die  Verbündeten  als  ihre 
Pflicht,  in  der  Stadt  von  Tientsin  eine  provisorische  Verwaltung 
lu  errichten,  der  Ihr  Alle  gehorchen  müsst.  Diese  Verwaltung  wird 
Jedermann,  der  mit  Fremden  in  freundliche  Beziehungen  zu  treten 
wünscht,  beschützen,  aber  auch  Jeden  ohne  Gnade  und  Erbarmen 
bestrafen,  der  Unruhe  stiftet. 

Lasst  die  Bösen  zittern !   Aber   die  Gutgesinnten  sollten  sich 
wieder  gesichert   fühlen   und  ruhig   zu  ihren  Heimstätten    zurück- 
1  kehren  und  ihre  gewöhnliche  Beschäftigung  wieder  beginnen.    So 
wird  der  Friede  wieder  hergestellt  sein!  Beherziget  da,s!" 

Die  militärischen  Operationen  erfuhren  nach  der  Einnahme  der 
City  einen  Stillstand;  zwar  besagten  die  durch  chinesische  Couriere 
aus  Peking  gebrachten  Nachrichten  nichts  Gutes  und  be- 
stärkten nur  den  allgemeinen  Wunsch,  so  bald  als  möglich  den 
dort  eingeschlossenen  Fremden  Hilfe  zu  bringen,  doch  reichten 
hiezu  die  Kräfte  noch  nicht  und  musste  man  sich  darauf  be- 
schränken, einstweilen  die  Vorbereitungen  zu  treffen  und  den 
lurückgewi ebenen  Feind  zu  beobachten.  Krsteres  bedingte  aber, 
vor  Allem  in  Tientsin  einige  Ordnung  herzustellen,  uiid  damit  war 
etae  Menge  Arbeit  für  die  Truppen  selbst  verbunden;  letzteres 
besorgten  ausgesendete  Patrouillen,  die  bald  präcise  Nachrichten 
brachten.  In  diesem  Zweig  militärischer  Thätigkeit  werden  all- 
gemein die  vorzüglichen  Leistungen  der  Kosaken  hervorgehoben, 
denen  gleichzukommen  der  japanischen  Cavallerie  nur  ein  besseres 
Pferderoaterial  fehlte. 

Durch  die  Recognoscenten  erfuhr  man,  dass  sich  die  Chinesen 
unter  den  Generalen  Mah  und  Sung  bei  Peitsang  sammelten  und 
don  verschanzten. 

Inzwischen  kamen  fortwährend  neue  Truppen  in  Tientsin  an, 
W  da&s  die  Zahl  der  Combattanten  am  23.  Juli  schon  über  16.000 
betrug:  die  gelandeten  Schiffsbemannungen  jener  Nationen,  die 
Truppen  auf  den  Kriegsschauplatz  entsendeten,  kehrten  grössten- 
thetls  an  Bord  zurück.  Bald  reichten  die  vorhandenen  Häuser 
nicht  mehr  und  mussten  grosse  Zeltlager  aufgeschlagen  werden; 
'ler  Bahnbetrieb  konnte  naturgeraäss  den  enormen  Anforderungen 
nicht  genügen,  da  das  rollende  Material  sowohl  hinsichtlich  Menge 
»Is  auch  Zustandes  —  namentlich  die  Locomotiven  —  sehr  viel  zu 


178 

wünschen  übrig  liess.  Auf  dem  Peiho  entwickelte  sich  ein  äusserst 
buntes  Leben,  requirirte  und  gemiethete  Dschunken  verkehrten  in 
fast  ununterbrochener  Kette  zwischen  Tientsin  und  Tongku — Taku 
und  die  Uferstrecken  in  diesen  Orten  reichten  kaum  hin,  um  das 
Material  aufzustapeln. 

Gegen  Ende  Juli  unternahmen  Japaner  und  Russen  von  Hsiku 
aus  eine  scharfe  Recognoscirung  der  chinesischen  Stellung  bei 
Peitsang,  doch  scheiterte  das  Unternehmen  daran,  dass  die  Chi- 
nesen die  Gegend  unter  Wasser  gesetzt  hatten ;  immerhin  wurden 
die  Bewegungen  letzterer  aber  scharf  überwacht  und  auf  einem 
weiten  Umwege  auch  kleine  Beobachtungs-Detachements  in  ihren 
Rücken  vorgeschoben. 

Am  31.  Juli  erhielt  Linienschiffs-Lieutenant  Indrak  die  Nach- 
richt vom  Tode  des  Fregatten-Capitäns  von  Thomann  in  Peking; 
tagsdarauf  kam  von  letzterem  Orte  die  Kunde,  dass  Tung- 
Fuhsiang  zur  Verstärkung  Mah's  mit  seinen  Truppen  nach  Pei- 
tsang abmarschirt,  und  am  2.  August  eine  von  Chinesen  stammende 
Information,  dass  8000  Mann  mit  40  Geschützen  von  der  Armee 
Yuanschikkai's  aus  Schantung  gegen  Tientsin  im  Vormarsch  seien, 
während  gleichzeitig  verlautete,  eine  grössere  Menge  Boxer  con- 
centrire  sich  im  Westen,  mit  der  Absicht,  sich  des  Haikwantsu- 
Arsenals  zu  bemächtigen. 

Unter  solchen  Umständen  musste,  wenn  auch  die  Nachrichten 
aus  chinesischer  Quelle  als  nicht  völlig  verlässlich  angesehen 
werden  konnten,  rasch  gehandelt  werden,  wofür  hauptsächlich  die 
mit  Land  und  chinesischer  Kriegführung  am  bestfen  vertrauten 
Japaner  plaidirten. 

Am  3.  August  berief  General-Lieutenant  Linewitsch,  Com- 
mandant  des  russischen  Expeditions-Corps  in  Petschili,  als  rangs- 
ältester Officier  alle  Truppen-Commandanten,*)  um  über  die  vor- 
zunehmende Operation  zu  beschliessen. 

Einleitend  wurde  mitgetheilt,  dass  nach  den  bisherigen  Re- 
cog-noscirungen  die  Chinesen,  etwa  25.000  Mann  stark,  südlich  von 
Peitsang  eine  an  drei  Seiten  befestigte  Stellung  besetzt  hielten, 
deren  rechter  Flügel  sich  an  einen  Canal  und  deren  linker  sich  an 
die  Eisenbahn  lohne,  während  das  Terrain  vor  dem  Centrum  und 
dem  linken  Flügel  künstlich  unter  Wasser  gesetzt  sei. 

*)  Damals  befamleii  sich  folgende  mit  Truppen  angekommene  höhere  Officiere  in 
Tientsin:  En^»land,  General-Lieutenant  Gaselec;  Frankreich,  Brigade- General  Frey ;  Japan, 
ixeneral -Lieutenant  Yamagutschi,  der,  obwohl  rangsältester,  aus  Courtoisie  dem  an  Jahren 
älteren  russischen  General  den  Vorrang  abgetreten;  Russland,  General-Lieutenant 
witsch;  Vereinigte  Staaten,  General-Major  Chaffee. 


m^ 


179 


Es  wurde  beschlossen,  gegen  Peitsang  und,  wenn  die  Chinesen 
geschlagen,  von  dort  weiter  auf  Yangtsun  zu  marschiren,  um  die 
künftigen  Operationen  gegen  Peking  zu  erleichtern. 

Die  Vorrückung  sollte  in  zwei  Hauptcolonnen  erfolgen. 
Rechts,  im  Osten,  Russen,  Franzosen  und  die  Matrosen- 
Detachements  der  Deutschen,  Italiener  und  Oesterreicher-Ungarn 
unter  dem  Commando  des  russischen  General-Majors  Stessel  den 
Lutai-Canal  übersetzend,  um  den  linken  Flügel  der  Chinesen  zu 
umfassen;  von  Süden  her  Amerikaner,  Engländer  und  Japaner, 
um  die  Stellung  vor  Peitsang  selbst  anzugreifen. 

Ausser  diesen  beiden  Hauptcolonnen  sollte  noch  eine  russisch- 
französische Nebencolonne  und  westlich  von  dieser  eine  englisch- 
japanische gegen  das  Centrum  demonstriren. 

Als  Besatzung  für  Tientsin  wurden  6000  Mann  bestimmt,  von 
denen  die  Russen  das  linke  Peiho-Ufer,  die  Franzosen  das  West- 
Arsenal,  Amerikaner,  Engländer  und  Japaner  die  Settlements, 
City  und  den  Erdwall  zu  besetzen  hatten. 

Die  gesammte  disponible  Cavallerie  der  Engländer,  Japaner 
und  Russen  wurde  zur  Verfolgung  der  Chinesen  bereit  gehalten, 
die  man  nur  bis  Yangtsun  ausdehnen  zu  können  glaubte,  da  nach 
den  eingegangenen  Recognoscirungs-Berichten  letzterer  Ort  eben- 
falls stark  besetzt  und  befestigt  war. 

Die  Bewegungen  hatten  so  ausgeführt  zu  werden,  dass  die 
einzelnen  Colonnen  um  Mitternacht  vom  4.  auf  den  5.  August  die 
Einschliessung  des  Gegners  vollendet  haben  und  bei  Tagesanbruch 
angreifen  können  würden. 

Die  Gesammtstärke  der  gegen  Peitsang  aufgebotenen  Truppen 
betrug  14.400  Mann,  darunter  1000  Mann  Cavallerie,   mit  52  Feld- 
geschützen und  6  Maxim-Kanonen,   die  sich  auf  die  einzelnen  Na- 
tionen in  nachstehender  Weise  vertheilten : 
Amerikaner  ....     1900  Mann  mit  6  Geschützen, 

»       (Matrosen), 

»        mit  6  Geschützen,  400  Cavallerie 
»       mit  12  Geschützen, 
»       (Matrosen), 
»       mit  12  Geschützen, 

300  Cavallerie, 
»       (Matrosen), 

»       mit  16  Geschützen,  6  Maxim- 
Kanonen,  300  Cavallerie. 
Den    ausgegebenen    Dispositionen    entsprechend,     stand    das 
österreichisch-ungarische  Detachement  unter  LinienschiflFs-Lieutenant 

12* 


Deutsche 

200 

Engländer      .... 

2000 

Franzosen      .... 

1600 

Italiener 

40 

Japaner     

5400 

Oesterreicher-Ungarn 

55 

Russen 

3200 

182 

dass  seine  Landsleute  schon  vor  zwei  Stunden*  die  Stellung  der 
Chinesen  gestürmt  und  letztere  den  fluchtartigen  Rückzug  an- 
getreten hätten.  Nach  seiner  Aussage  hatte  der  Bajonnettanlauf 
den  Japanern  65  Todte  und  300  Verwundete  gekostet  und  sei  die 
Verfolgung  der  Chinesen  sogleich  aufgenommen  worden. 

Da  jedoch  aus  der  Darstellung  des  japanischen  Officiers  noch 
kein  Schluss  gezogen  werden  konnte,  ob  die  Chinesen  nicht  in  dem 
Ort  Peitsang  selbst  vielleicht  noch  Widerstand  leisten  würden, 
marschirten  auch  die  drei  Matrosen-D etachements  weiter;  wenn 
das  Gros  der  Truppen  nachmittags  noch  in  der  Nähe  nördlich 
des  Ortes  festgehalten  worden  wäre,  hätten  jene  als  Reserve  und 
Besatzung  in  Peitsang  bleiben  sollen.  Beim  Eintreffen  in  dem 
Städtchen  stellte  es  sich  aber  heraus,  dass  die  Chinesen,  nachdem 
sie  ihre  vor  diesem  gelegene  Stellung  verlassen,  ohne  einen 
weiteren  Versuch  von  Gegenwehr,  von  den  Amerikanern,  Eng- 
ländern und  Japanern  energisch  verfolgt,  gegen  Yangtsun  geflohen 
waren  und  somit  keine  Veranlassung  vorlag,  die  Matrosen-Detache- 
ments  in  Peitsang  zu  belassen.  Da  letztere  andererseits  über  keinen 
Train  verfügten,  konnten  sie  auch  nicht  an  der  weiteren  Vor- 
rückung der  Colonne  General  StevSsel's  theilnehmen. 

Nach  Hsiku  zurückgekehrt,  Hess  man  die  Leute  dort  bis 
4  Uhr  nachmittags  rasten,  doch  gab's  kein  Trinkwasser,  eine 
schwere  Entbehrung,  nachdem  auf  den  nächtlichen  Regen  wieder 
eine  Gluthitze  gefolgt  war. 

Noch  am  selben  Abend,  um  7Vs  Uhr,  rückte  das  Detachement 
in  seine  Tientsiner  Kaserne  ein,  nachdem  es  in  26  Stunden  65  Kilo- 
meter auf  den  denkbar  schlechtesten  Wegen  marschirt  w^ar  und 
die  Nacht  ganz  schutzlos  im  Regen  zugebracht  hatte;  von  den 
55  Mann  wurde  nur  ein  einziger  Mann  bei  der  Rückkehr  ins 
Arsenal  Hsiku  marschmarod,  wogegen  die  beiden  anderen  Matrosen- 
Detachements  einen  unvergleichlich  höheren  Procentsatz  solcher 
Fälle  hatten.  Auch  der  Karren  mit  der  Bagage  war  inzwischen 
von  seinem  Führer  zurückgebracht  worden,  der  brave  alte 
Chinese  hatte  Alles  versucht,  um  nachzukommen,  die  Abtheilung 
»Zenta«  jedoch  erst  wiedergesehen,  als  sie  gegen  Tientsin  zurück- 
marschirte. 

In  das  Gefecht  einzugreifen,  das  die  Japaner  vor  den  anderen 
Contingenten  auf  ihrem  Flügel  eröffnet  und  in  dem  sie  auch  weiter 
die  führende  Rolle  beibehalten  hatten,  war  zwar  der  kleinen 
Schaar  unter  der  roth-weiss-rothen  Flagge  durch  das  Zusammen- 
treff'en  unvorhergesehener  Umstände  verw^ehrt  geblieben,  aber  die 
ausgezeichnete  Marschleistung  bewies,    dass  sie  nicht  nur  als  zäh 


183 

aushaltende  Besatzungstruppe,    sondern  auch  bei  einem   Vorgehen 
im  Felde  vortrefflich  zu  verwenden  war. 

Peitsang  war  gefallen,  auf  den  ersten  Ansturm  die  Position 
ä  cheval  des  Peiho  aufgegeben,  auf  deren  Unwiderstehlichkeit  die 
Chinesen  gehofft  hatten  —  schliessen  wir  damit  das  Capicel  über 
Tientsin  und  seine  Vertheidigung,  um  zu  sehen,  was  einstweilen 
in  Peking  vorging. 


184 


IV.  Capitel. 

Schlimme  Anzeichen.  —  Erste  Bekanntschaft  mit  Boxern.  —  Ultimatum  der  Chinesen, 
Exodus  beschlossen.  —  Ermordung  des  deutschen  Gesandten»  Abschied  von  der  Öster- 
reich isch-ungarischen  Legation,  die  Fremden  bleiben.  —  Offene  Feindseligkeiten.  — 
Warum  die  Gesandtschaft  geräumt  wurde.  —  Verlauf  der  Kämpfe.  —  Fregatten-Capitän 
von  Thomann  gefallen.  —  Höhepunkt  der  Gefahr.'  —  Ueberraschungen  und  Aufrichtig- 
keit der  Chinesen.  —  Fühlung  mit  auswärts.  —  Entsatz.  —  Flucht  des  Hofes,  letzte 
Kämpfe  in  Peking.  —  Situation  im  Peitang.  —  Einiges  über  den  Vormarsch  der  Ver- 
bündeten. —  Demonstrativer  Durchmarsch  durch  die  verbotene  Stadt.  —  Ablösung. 

Wenn  der  Leser,  bei  diesem  Abschnitt  angelangt,  vielleicht 
die  Frage  stellt:  »Was  haben  sich  denn  die  Fremden  in  Peking 
eigentlich  über  ihre  Lage  gedacht ?«»  —  so  möchte  ich  antworten: 
»Sie  haben  gefühlt,  wie  sich  die  Schlinge  um  ihren  Hals  immer 
fester  zuzog,  aber  mit  würdigem  Anstand  so  gethan,  als  ob  sie 
dieses  Drosselspiel  unmöglich  für  mehr  als  einen  gewagten  Scherz 
halten  könnten  —  vielleicht  mochten  die  Freunde  auf  der  Strasse 
doch  noch  rechtzeitig  kommen  und  dem  teuflisch  artigen  Attentater 
das  Spiel  verderben.« 

Welche  moralischen  Anforderungen  diese  Rolle  stellte,  mag 
sich  Jedermann  nach  der  folgenden  Aufzählung  der  Vorkomm- 
nisse bis  zum  19.  Juni  selbst  ausmalen,  an  welchem  Tag  endlich 
eine  klare,  wenngleich  verzweifelt  aussehende  Situation  eintrat. 

Am  8.  Juni  brachten  aus  Tungtschau  geflüchtete  amerikanische 
Missionäre  die  Nachricht,  dass  sie,  von  dem  Ueberhandnehmen 
der  Boxer  unterrichtet,  ihre  Anstalt  dem  Schutze  der  chinesischen 
Localbehörden  übergeben  und  sich  nach  Peking  aufgemacht  hätten ; 
hinter  ihnen  seien  nicht  nur  sogleich  ihre  Häuser  zerstört,  sondern 
auch  alsbald  die  christlichen  Chinesen  überfallen  und  massacrirt 
worden.  Chinesische  Quellen  berichten,  dass  der  Taotai  den  Ver- 
such,  sich  für  die  Mission   und    die   christlichen  Bewohner  einzu- 


setzen,  mit  der  Ge fange nsetzung-  durch  die  Boxer  bezahlte,  die 
nun  ein  wahres  Schreckensreg-imenC  führten. 

Solches  konnte  sozusagen  in  einer  Vorstadt  Pekings  ge- 
schehen, wo  die  obersten  Behörden  noch  immer  ihre  guten  Ab- 
sichten gegen  die  Fremden  betheuerten  und  von  den  Gesandten 
nur  Geduld  verlangten,  bis  die  angeordneten  Massnahmen  ihre 
Früchte  tragen  würden ! 

Am  9.  Juni  morgens  legten  Boxer  die  Gebäude  am  Renn- 
platz, der  sich  etwas  über  vier  Kilometer  ausserhalb  Pekings 
befand,  in  Asche  und  attaquirten  einige  Engländer,  die  sich  von 
der  Wahrheit    des  darüber   ins  Legationsviertel  gedrungenen  Ge- 


richtes überzeugen  wollten,  so  dass  letztere  von  ihren  Revolvern 
'•«brauch  machen  mussten. 

An  diesem  unter  so  vielversprechenden  Anspielen  beginnenden 
Tage  kehrte  der  gesammte  kaiserliche  Hof  aus  dem  Sommerpalast 
Waa-schou-schan  in  die  Winterresidenz  zurück,  in  dieser  Jahres- 
'ttt  jedenfalls  ein  höchst  bedeutsames  Ereigniss.  Die  hieran 
S'^knüpften  Commentare  stimmten  nur  in  einem  Punkte  überein 
«nd  trafen  darin  auch  gewiss  die  Wahrheit:  Die  Kaiserin- Witwe 
*oUtc  dem  Sitz  ihrer  Executivorgane  näher  sein,  um  nöthigen- 
fails  unmittelbar  eingreifen  zu  können.  In  welchem  Sinne  sie 
*ach  aber  entscheiden  würde,  sollte  bald  auf  einem  Umwege  be- 
Itannt  werden 

Da  am  9.  Juni  der  Termin  für  die  Wiederherstellung  der 
Bahn    abgelaufen  war,   ohne   dass   die   chinesische  Regierung   ihr 


186 

• 
diesbezügliches  Versprechen  eingelöst  hätte,  beriethen  die  diplo- 
matischen Vertreter  über  weiter  zu  ergreifende  Massregeln.  Ein 
vom  deutschen  Gesandten  ausgehender  Vorschlag,  die  Nachgiebig- 
keit der  Gewalthaber  durch  das  Bombardement  von  Shanhaikuan 
erzwingen  zu  wollen,  fand  keine  Unterstützung;  es  erübrigte  nur 
die  Heranziehung  von  Truppen  der  internationalen  Flotte  nach 
Peking.  In  dieser  Frage  kam  es  jedoch  zu  keiner  Einigung,  da 
für  den  Modus,  wie  diese  Truppen  heraufzubringen  seien,  sowohl 
diplomatische  als  militärische  Gesichtspunkte  massgebend  waren, 
die,  abgesehen  von  den  Schwierigkeiten,  die  auf  jedem  der  beiden 
Gebiete  für  sich  vorhanden  waren,  nicht  leicht  in  Einklang  gebracht 
werden  konnten. 

Wollte  man  von  den  Admiralen  direct  den  militärischen 
Entsatz  Pekings  verlangen,  so  war  dies  gleichbedeutend  damit, 
die  Fremdencolonie  unmittelbar  offenen  Feindseligkeiten  auszu- 
setzen, und  man  hätte  damit  auch  die  weit  schwerer  wiegende 
Verantwortung  übernommen,  die  Chinesen  in  die  Rolle  der  Ab- 
wehr zu  versetzen.  Dass  die  chinesische  Regierung  nicht  versäumt 
hätte,  die  spätere  Entwicklung  der  Dinge  in  diesem  Lichte  darzu- 
stellen, lag  auf  der  Hand  und  deshalb  wollten  die  fremden  Minister 
Alles  vermeiden,  was  jener  irgend  eine  Handhabe  hiezu  bieten 
konnte.  Andererseits  stand  zwar  der  Ausweg  offen,  von  den  Ad- 
miralen nur  die  Verstärkung  der  Schutz  wachen  zu  ver- 
langen, eine  Formel,  die  den  Befehlshabern  der  Flotte  auch  völlig 
freie  Hand  gab  und  deren  Wortlaut  für  spätere  Zeiten  noch  immer 
die  Möglichkeit  von  gütlichen  Verhandlungen  mit  der  chinesischen 
Regierung  offen  Hess;  aber  auch  dann  musste  man  gewärtig  sein, 
dass  diese  der  Vermehrung  der  Legations-Detachements  noch  ganz 
anderen  Widerstand  als  schriftlichen  Protest  entgegensetzen  werde. 
Wie  immer  man  die  Sache  auffassen  wollte,  so  stand  doch  fest, 
dass  die  Fremden  in  Peking  wirksamen  Schutz  nur  durch  ihre 
eigenen  Truppen  finden  konnten,  und  wollten  die  Chinesen  dies 
nicht  zugeben,  so  mussten  eben  sie  die  Verantwortung  für  alle 
Folgen  auf  sich  nehmen.  In  diesem  Sinne  trat  Dr.  von  Rost- 
horn  auch  lebhaft  für  die  Annahme  des  letzteren  Vorschlages  ein. 
Mittlerweile  verbreiteten  sich  in  der  Stadt  Gerüchte,  dass 
die  Kaiserin  -  Witwe,  den  Vorstellungen  des  Kaisers  und  der 
fremdenfreundlichen  Minister  des  Tsungli-Yamens  entgegen,  sich  in 
einem  Kronrathe  offen  für  die  Vertreibung  der  Fremden  aus  dem 
Reiche  ausgesprochen  und  Tung-Fuhsiang  im  Princip  Vollmacht 
ertheilt  habe,  gegen  sie  vorzugehen;  er  sollte  indessen  hiemit  noch 
bis  auf  einen  ausdrücklichen  Befehl  warten. 


187 

Als  nun  der  englische  Gesandte  im  Laufe  des  Tages  den 
Besuch  eines  der  Secretäre  des  Tsungli-Yamens,  des  den  Europäern 
wohlbekannten  Lien  Fang  erhielt,  theilte  er  ihm  in  der  Absicht, 
ihn  zu  einer  Aeusserung  zu  bringen,  mit,  welche  Gerüchte  im 
Umlauf  seien  ;  Lien  Fang's  ernste  Miene  und  beredtes  Schweigen 
erweckten  in  Sir  Claude  Macdonald  die  Ueberzeugung,  dass  — 
wenigstens  nach  der  Ansicht  seines  Besuchers  —  das  Gehörte  auf 
mehr  als  ein  müssiges  Gerede  zurückzuführen  sei.  Unter  diesem 
Eindrucke  schickte  der  englische  Minister,  noch  bevor  er  seine 
CoUegen  darüber  gesprochen,  nachmittags  die  bereits  bekannte 
telegraphische  Depesche  an  Vice-Admiral  Seymour  ab. 

In  der  nun  folgenden  Sitzung  der  Gesandten  berichtete  Sir 
Claude  über  das  Verhalten  Lien  Fang's  und  die  Absendung  seiner 
Depesche;  neuerdings  wurde  der  schon  einige  Tage  vorher  discu- 
tirte  Schritt  einer  Audienz  des  gesammten  diplomatischen  Corps 
bei  Hofe  selbst  in  Erwägung  gezogen,  die  Entscheidung  darüber  jedoch 
auf  den  folgenden  Tag  verschoben.  Bis  dahin  wollte  man  zuwarten, 
ob  sich  die  günstiger  lautenden  Nachrichten,  welche  der  franzö- 
sische Gesandte  den  düster  klingenden  Mittheilungen  seines  eng- 
lischen CoUegen  entgegengestellt  hatte,  bewahrheiteten.  Letzterer 
erfuhr  übrigens  noch  am  selben  Abend  durch  Sir  Robert  Hart  aus  einer 
vertrauenswürdigen  chinesischen  Quelle,  dass  die  Kaiserin-Witwe 
thatsächlich  den  ominösen  Ausspruch  gethan  habe,  und  telegraphirte 
nochmals  um  8Vi  Uhr  abends  an  den  Consul  in  Tientsin,  er  möge 
Vice-Amiral  Seymour  verständigen,  dass  die  Lage  in  Peking  sich 
stündlich  verschlimmere  und  sogleich  Truppen  gelandet  und  vor- 
gesendet werden  mögen. 

Auch  dieses  Telegramm  sendete  Sir  Claude  ohne  Vorwissen 
der  übrigen  diplomatischen  Vertreter  ab. 

Als  erstes  thatsächliches  Anzeichen  von  der  Berechtigung 
der  über  die  Haltung  der  Kaiserin- Witwe  cursirenden  Gerüchte 
wurde  der  auf  den  9.  Juni  fallende  Einzug  von  Truppen  Tung- 
Fuhsiang's  in  die  Hauptstadt  angesehen,  die  bisher  im  alten  kaiser- 
lichen J^dpark  Nanhaitse  gelagert  hatten ;  schon  der  Name  ihres 
Führers  Hess  mit  Sicherheit  annehmen,  dass  die  Kansu-Brigade, 
welche  den  Ruf  grösserer  Tüchtigkeit  als  die  Pekinger  Feld- 
truppen genoss,  nur  herbeigerufen  worden  sei,  um  mit  dem  Häuf- 
lein fremder  Schutzw^achen  in  der  Stadt  schnell  fertig  zu  werden. 

Am  10.  Juni  morgens  langten  von  Tientsin  noch  je  eine 
Depesche  des  englischen  Consuls  und  des  russischen  Militär- 
Agenten  dortselbst  ein,  welche  den  Abgang  der  Colonne  Sey- 
mour in  zwei  vom  Vicekönig  Yü-Lü  beigestellten  Zügen  mittheilten. 


188 

Damach  waren  im  Ganzen  1100  Mann  bereits  unterwegs,  ebenso 
viele  sollten  nachfolgen  und  wussten  die  Fremden  auch  das 
günstige  Ergebniss  der  Recognoscirung  der  Eisenbahn  zwischen 
Tientsin  und  Yangtsun. 

Diese  Nachrichten  hoben  die  schon  sehr  gedrückte  Stimmung 
einigermassen ;  aus  der  Thatsache,  dass  der  Vicekönig  von  Tschili 
die  Abfahrt  der  Züge  gestattet  hatte,  glaubte  man  folgern  zu 
dürfen,  dass  die  chinesische  Regierung  stillschweigend  ihre  Zu- 
stimmung zu  der  Verstärkung  der  Legationswachen  gegeben  habe  — 
bekanntlich  wendete  sie  ja  gegen  faits  accomplis  selten  etwas  ein. 
Als  jedoch  noch  vor  Mittag  die  telegraphische  Verbindung  mit 
Tientsin  unterbrochen  worden,  verwandelte  sich  das  Gefühl  einer 
grösseren  Zuversicht  ins  Gegentheil.  Mit  der  Aussenwelt  konnte 
man  nur  mehr  durch  die  über  Kiachta  führende  Drahtlinie  ver- 
kehren; eine  Correspondenz  zwischen  Peking  und  Tientsin  hätte 
somit  nur  durch  einen  Mittelsmann  in  Petersburg  um  den  halben 
Erdball  herum  stattfinden  können.  Die  Linie  Peking — Kiachta  hörte 
jedoch  am  folgenden  Tage  auch  auf  zu  functioniren. 

Man  war  durch  die  Unterbindung  des  Telegraphen  plötzlich 
wieder  sehr  misstrauisch  gegen  die  am  Morgen  eingelaufenen  an- 
scheinend so  günstigen  Berichte  über  den  Zustand  der  Bahn  ge- 
worden und  begann  die  Schwierigkeiten,  welche  sich  der  Colonne 
Seymour  entgegenstellen  konnten,  nochmals  zu  recapituliren,  wobei 
man  allerdings  völlig  ins  Ungewisse  gerieth;  die  Hoffnung,  dass 
das  Abschneiden  des  Telegraphendrahtes  vielleicht  doch  nicht  mit 
Wissen  der  chinesischen  Regierung  geschehen,  vielmehr  nur  das 
Werk  eines  Einzelnen  sei  und  daher  nicht  als  ein  untrügliches 
Zeichen  böser  Absicht  jener  angesehen  werden  müsse,  wurde  mit 
allen  möglichen    billigen  Argumenten   künstlich  aufrecht  erhalten. 

Die  Besetzung  des  Bahnhofes  ausserhalb  Peking  durch  deutsche 
Seesoldaten,  welche  Baron  Ketteier  beantragt  hatte,  wurde  vom 
Tsungli-Yamen  nicht  zugelassen. 

Gegen  Abend  verbreitete  sich  das  Gerücht,  Seymour  werde 
noch  nachts  in  Matschapu  eintreffen ;  der  englische  Gesandte  selbst 
theilte  es  dem  österreichisch-ungarischen  Geschäftsträger  als  glaub- 
würdig mit  —  die  Zuversicht,  dass  der  kühne  Entschluss  Seymour's 
die  Situation  gerettet  habe,  kehrte  siegreich  gegen  alle  Bedenken 
zurück ! 

Der  Morgen  des  IL  Juni  sah  die  meisten  Fremden  wohl- 
bewaflfnet  und  mit  ihnen  lange  Reihen  von  Karren  für  den  Trans- 
port des  Gepäckes  der  erwarteten  Ankömmlinge  auf  dem  Bahn- 
hof ausserhalb  der  Stadt  —  aber  vergebens,  von  einem  Zuge 


189 

Spur!  Die  elektrische  Trambahn  hatte  längst  den  Verkehr  einge- 
stellt, die  Stadtthore,  die  Strassen  ausserhalb  der  Chinesenstadt 
und  der  Bahnhof  waren  von  chinesischem  Militär  besetzt,  das  sich 
zwar  noch  ruhig  verhielt,  jedoch,  nach  dem  bei  jeder  grösseren 
Abtheilung  befindlichen  Abzeichen*)  zu  schliessen,  die  Ermächtigung 
zum  Gebrauch  der  Waffen  erhalten  hatte. 

Die  Enttäuschung  der  zum  Empfange  ausgerittenen  Fremden 
konnte  nicht  ärger  sein ;  man  beabsichtigte,  einen  Boten  auf  einer 
Draisine  auszusenden  und  derart  etwas  über  den  Verbleib  der 
erwarteten  Trains  oder  doch  wenigstens  den  Zustand  der  Bahn 
zu  erfahren,  aber  da  sich  kein  Bahnbeamter  blicken  Hess  und  die 
Oeffnung  eines  Schuppens,  wo  man  das  Vehikel  vermuthete,  von 
dem  chinesischen  Officier  verweigert  wurde,  musste  dieses  Vor- 
haben fallen  gelassen  werden. 

Stunden  vergingen  mit  nutzlosem  Warten,  Verhandeln  mit 
den  Chinesen,  die  vorgaben,  gar  nichts  zu  wissen,  bis  man  sich  end- 
lich zu  der  bitteren  Ueberzeugung  durchrang,  dass  alles  längere 
Verweilen  auf  dem  Bahnhofe  vergeblich  sei. 

M.  Fliehe,  der  jüngste  Attache^  der  französischen  Gesandt- 
schaft, hatte  in  der  besten  Absicht,  die  Stimmung  zu  verbessern, 
etwas  zu  viel  gesagt! 

Die  Rückkehr  ins  Legationsviertel  vollzog  sich  recht  still 
—  nur  konnten  wir,  Dr.  von  Rosthorn  und  der  Schreiber 
dieser  Zeilen  waren  auch  hinausgezogen,  um  die  erwarteten 
weiteren  75  Mann  der  »Zenta«  einzuholen,  nicht  umhin,  die  auf- 
fallige Veränderung  im  Gehaben  des  Strassenpublicums  zu  ver- 
merken; auf  dem  Ausritt  waren  wir  gleichgiltigen  Gesichtern  be- 
gegnet, heimkehrend  sahen  wir  manches  höhnische  Grinsen  und 
bekamen  auch  aus  sicherer  Entfernung  einige  Kosenamen  nach- 
geschickt ! 

Um  den  peinlichen  Eindruck  der  argen  Enttäuschung  noch 
zu  steigern,  wurde  an  diesem  Tage  die  am  10.  Juni  mittelst 
kaiserlichen  Decretes  erfolgte  Berufung  des  Prinzen  Tuan, 
Vaters  des  Kronprinzen,  in  das  Präsidium  und  die  Ernennung 
dreier  Mandschu  zu  Ministern  des  Tsungli-Yamen  bekannt;  die 
notorische  Fremdenfeindlichkeit  des  Erstgenannten,  des  erklärten 
Günstlings  der  Kaiserin- Witwe,  und  die  Abstammung  allein  der 
im  Uebrigen  fast  unbekannten  neuen  Minister  schlössen  jeden 
Zweifel  aus,  dass  der  Einfluss  der  fortschrittlich  gesinnten  Partei 
im    Yamen    fortan    lahmgelegt    sein    werde.     Was  konnten   Prinz 

♦)  Ein  Stab  in  der  Form  eines  länglichen  Römerschwertes  mit  einer  aufge- 
Balten  Inschrift. 


190 

Tsching  und  seine  aufgeklärteren  Genossen  chinesischer  Ab- 
stammung noch  thun,  um  die  Kaiserin- Witwe  auf  der  erwählten 
schiefen  Bahn  zurückzuhalten,  wenn  ein  Mann  wie  Prinz  Tuan  nun- 
mehr für  seine  fanatischen  Wühlereien  auch  noch  das  Gewicht 
amtlicher  Stellung  ins  Treffen  zu  führen  vermochte! 

Das  Decret  schloss  mit  der  noch  nie  in  einem  ähnlichen 
Actenstück  enthalten  gewesenen  Phrase:  »Sie  (die  Neuernannten) 
dürfen  in  der  gegenwärtig  schwierigen  Lage  nicht  ablehnen  zu 
handeln.« 

Es  verdient  aber  hervorgehoben  zu  werden,  dass  noch  am 
11.  Juni  vormittags  zwei  fremdenfreundlich  gesinnte  Minister  des 
Yamens,  Hsü-Tsching-Tscheng  und  Yuan  Tschang  beim  englischen 
Gesandten  vorsprachen,  um  ihm  gegen  die  Vermehrung  der 
Legationswachen  Vorstellungen  zu  machen ;  natürlich  fehlte  es  Sir 
Claude  nicht  an  Argumenten,  um  unter  Hinweis  auf  die  Gescheh- 
nisse der  letzten  Tage  die  Nothwendigkeit  der  von  ihm  verlangten 
Verstärkungen  zu  beweisen.  Wie  aus  seinem  Berichte  hervorgeht, 
machte  ihm  der  Schritt  der  beiden  Minister  den  Eindruck,  als  ob 
sie  ihn  durchaus  nicht  von  ihrer  eigenen  Ueberzeugung  getragen 
unternommen  hätten.  Wenn  man  bedenkt,  dass  die  chinesische 
Regierung  jedenfalls  ganz  genau  unterrichtet  war,  welche  mate- 
riellen Hindernisse  allein  sich  den  Verstärkungen  auf  dem  Wege 
von  Tientsin  nach  Peking  entgegenstellten,  so  ist  man  versucht, 
in  der  Entsendung  Hsü-Tsching-Tscheng's  und  Yuan  Tschang's  nur 
eine  listige  Hinhälterei  zu  vermuthen,  um  die  Fremden  in  eine 
trügerische  Hoffnung  zu  versetzen,  denn  es  erscheint  gänzlich  un- 
glaubhaft, dass  die  Chinesen  die  Kräfte  der  Entsatz-Colonne  so 
weit  überschätzt  haben  sollten,  um  sie  erUvStlich  zu  fürchten. 

Nachmittags  wurde  der  Secretär  Sugiyama  der  japanischen 
Gesandtschaft,  der  sich  zu  Wagen  ausserhalb  der  Stadt  begeben 
hatte,  um  im  Auftrage  seines  Ministers  Baron  Nischi  Erkundi- 
gungen über  den  Verbleib  der  Entsatz-Trains  einzuholen,  von 
Tung-Fuhsiang-Soldaten  misshandelt,  schliesslich  getodtet  und  sein 
Leichnam  verstümmelt.  Baron  Nischi  Hess  die  Nachricht  davon 
allsogleich  allen  anderen  Legationen  mittheilen ;  seine  Sühneforde- 
rung wurde  einige  Tage  später  durch  eine  äusserst  indifferente 
Note  beantwortet,  dass  die  Kaiserin-Witwe  mit  Betrübnis  von 
der  Kühnheit  einiger  »zugelaufener  Taugenichtse«  gehört  und  deren 
Ausforschung  und  Bestrafung  verfügt  habe. 

Fast  gleichzeitig  mit  der  Mittheilung  von  diesem  ersten  an  dem 
Angehörigen  einer  Gesandtschaft  begangenen  Verbrechen  ver- 
breitete  sich   das  Gerücht,  dass  die  Stadtthore  geschlossen  seien« 


191 

Unter  dem  Eindrucke  der  Ereignisse  der  letzten  24  Stunden 
wurde  die  noch  am  9.  Juni  in  Erwägung  gezogene  Audienz  bei 
Hofe  nicht  mehr  verlangt,  da  man  von  ihrer  Erfolglosigkeit  im 
voraus  überzeugt  war. 

Um  zu  erfahren,  ob  das  Gerede  von  der  Schliessung  der 
Stadtthore  auf  Wahrheit  beruhe,  und  auch  im  Allgemeinen  ein 
Bild  von  der  Stimmung  in  der  Chinesenstadt  zu  gewinnen,  ritten 
Dr.  von  Rosthorn  und  ich  am  12.  Juni  morgens  hinaus;  wir  fanden 
die  Thore  offen,  den  Wagenverkehr  in  der  Chinesenstadt  auf- 
fallend weniger  lebhaft  als  sonst  und  begegneten  zahlreichen 
Patrouillen  der  Kansu-Cavallerie.  Die  Bevölkerung  war  bereits 
sehr  aufgeregt,  ein  »Scha-scha!«  schreiender  Mob  lief  uns  eine  Zeit 
lang  nach,  wagte  es  aber  doch  nicht,  uns  anzugreifen  —  Dr.  von 
Rosthorns  knotiger  Krummstab  und  mein  Revolver  schienen  ihm 
doch  Respect  einzuflössen ;  ohne  das  Südthor  der  Chinesenstadt 
überschritten  zu  haben,  kehrten  wir,  weiter  nicht  mehr  molestirt,*) 
durch  eine  Seitenstrasse  des  Handelsviertels  zurück,  die  jedoch 
schon  an  mehreren  Stellen  durch  frisch  aufgeworfene  Gräben  für 
Reiter  schwer  passirbar  gemacht  war. 

Am  selben  Tage  begannen  zwei  der  neuernannten  Minister 
des  Tsungli-Yamen  in  Begleitung  zweier,  den  Fremden  schon  be- 
kannter Amtscollegen  ihre  Antrittsvisiten  bei  den  Gesandtschaften, 
wobei  sie  Grüsse  der  Kaiserin-Witwe  an  die  betreffenden  Damen 
überbrachten;  dieser  Schritt  fand  allgemein  nur  die  Deutung, 
dass  man  es  chinesischerseits  noch  nicht  an  der  Zeit  hielt,  mit 
der  bisherigen  Usance  zu  brechen.  Auch  bei  dieser  Gelegenheit 
versäumten  die  chinesischen  Minister  nicht,  die  Lage  im  rosigsten 
Lichte  darzustellen  und  den  diplomatischen  Vertretern  mit  grossem 
Aufwand  an  Phrasen  auseinander  zu  setzen,  dass  die  Boxer- 
bewegung zu  Ende  sei  und  die  Gesandten  sich  auf  den  Schutz 
der  Regierung  ruhig  verlassen  mögen.  Damit  contrastirte  einiger- 
raassen  das  Ersuchen,  man  möge  sich  nicht  mehr  ausser  die  Stadt 
begeben;  dass  die  chinesischen  Minister  auch  wünschten,  man 
möge  die  Schildwachen  der  Legationen  innerhalb  letzterer  auf- 
stellen, um  das  Volk  nicht  zu  beunruhigen,  nahm  nicht  Wunder, 
hatte  aber  natürlich  keinen  Erfolg. 

Es  verlautete,  Tung-Fuhsiang  habe  Befehl  erhalten,  seine 
Truppen  wieder  nach  Nanhaitse  zurückzuziehen,  angeblich  um  der 


*)  Sir  Robert  Hart,  theilte  uns  abends  mit,  dass  eine  Abtheilung  Cavallerie 
sich  bereits  ausserhalb  des  Yungtingmen  begeben  hatte,  um  uns  dort  abzuschneiden, 
falls  wir  das  Thor  passiren  sollten.  Es  scheint,  dass  wir  die  letzten  Europäer  gewesen 
sind,  welche  die  Chinesenstadt  vor  dem  Entsätze  betraten. 


192 

Wiederholung  so  beklagenswerther  Vorfalle,  wie  die  Ermordung 
des  japanischen  Secretärs,  vorzubeugen;  thatsächlich  gingen  wohl 
in  den  nächsten  Tagen  Theile  jener  gegen  Süden  ab,  jedoch 
nicht,  um  durch  ihre  Entfernung  unschädlich  gemacht  zu  werden, 
sondern  um,  wie  wir  bereits  wissen,  zusammen  mit  Boxern  die 
Colonne  Seymour  aufzuhalten. 

Ueber  den  Verbleib  letzterer  lagen  auch  am  13.  Juni  noch 
keine  Nachrichten  vor,  doch  erzählte  man  sich  und  diesmal  ge- 
wiss mit  Recht,  dass  der  Zustand  der  Bahn  viel  schlimmer  sei, 
als  man  je  vermuthet  hatte.  Schon  in  den  Vormittagsstunden  war 
auch  im  Legationsviertel  und  seiner  nächsten  Umgebung  eine  auf- 
fallende Unruhe  bemerkt  worden ;  verschiedene  christliche  Chinesen 
gaben  an,  dass  neuerdings  grosse  Mengen  Boxer  im  Anzüge  seien. 
Gegen  10  Uhr  sah  Baron  Ketteier  zwei  Boxer  in  »voller  Uniform« 
lebhaft  gesticulirend  und  die  Passanten  haranguirend  durch  die 
Legationsstrasse  fahren ;  empört  über  diese  Kühnheit  und  froh. 
der  chinesischen  Polizei  einen  lebendigen  Beweis  ihrer  geflissent- 
lichen Lauheit  vorhalten  zu  können,  nahm  er,  unterstützt  von 
einigen  Herren  und  Seesoldaten  seiner  Gresandtschaft  einen  der 
Boxer  fest  und  Hess  ihn  fesseln,  während  es  dem  zweiten  gelang 
zu  entkommen. 

Der  Polizei-Präsident  von  Peking,  Tschungli,  wurde  von  dem 
Vorfalle  in  Kenntniss  gesetzt  und  ersucht,  zum  Verhör  des  Ge- 
fangenen in  die  deutsche  Legation  zu  kommen ;  trotz  der  bei  dem 
Manne  vorgefundenen  Waffen  und  Abzeichen  behauptete  Tschungli 
doch,  dass  er  keinen  Grund  habe,  ihn  als  gefährliches  Individuum 
einzuziehen,  verlangte  vielmehr  dessen  Auslieferung.  Baron 
Ketteier  erklärte,  diese  nur  zugeben  zu  können,  wenn  wirklich 
gegen  die  Secte  vorgegangen  würde,  und  so  verblieb  der  Häftling 
bis  auf  Weiteres  in  der  Gesandtschaft.*) 

Nachmittags  liess  Fregatten-Capitän  von  Thomann  auf  die 
von  einem  Missionär  stammende  Mittheilung  hin,  die  Boxer  hätten 
sich  eines  Brunnens  in  nächster  Nähe  der  k.  und  k.  Gesandtschaft 
bemächtigt  und  ihn  vergiftet,  die  bezeichnete  Gegend  und  das  im 
Osten  an  die  Legation  grenzende,  weitläufige,  jedoch  verlassen 
stehende  Palais  eines  kaiserlichen  Prinzen  durch  eine  starke  Pa- 
trouille abstreifen ;    das  Resultat  war  negativ.    Glücklicher    waren 


*)  Gegen  Abend  erzählten  unsere  Diener,  die  deutschen  Soldaten  hätten  schon  ihre 
ganze  Munition  auf  den  einzigen  Boxer  verschossen ;  sie  wussten  es  gewiss,  dass  der  Ge- 
fangene alle  Kugeln,  die  scheinbar  in  seinen  Körper  eingedrungen  —  ausgespuckt  habe  aod 
noch  immer  frisch  und  munter  sei.  Man  sieht,  wie  prompt  die  Boxerreclame  su 
verstand.  —  Der  Gefangene  entkam  am  22.  Juni,  wurde  jedoch  auf  der  Flucht 


193 

einige  Stunden  später  Deutsche,  Franzosen  und  Italiener,  indem 
sie  in  einem  von  den  Boxern  eiligst  geräumten  Tempel  nebst 
einer  Menge  ihrer  Abzeichen  Schriften  von  documentarischem 
Werthe  vorfanden.  Diese  Papiere  enthielten  einen  äusserst 
detaillirten  Actionsplan  und,  was  späterhin  von  noch  grösserer 
Bedeutung,  die  Namen  von  hohen  Persönlichkeiten,  welche  der 
Gesellschaft  des  »J'hotuan«  materielle  Unterstützung  zuwendeten. 
Daneben  befand  sich  auch  eine  Liste  proscribirter  Chinesen.  So 
viel  über  diesen  fortan  wohlgehüteten  Fund  verlautete,  stimmten 
die  bisherigen  Vorfallenheiten  genau  mit  dem  in  Art  eines  Ka- 
lenders verfassten  Programm  der  Boxer. 

Es  erscheint  nun  aber  an  der  Zeit,  die  Massnahmen  kurz  zu 
besprechen,  welche  bisher  zur  Vertheidigung  des  Legationsviertels 
getroffen  worden  waren. 

Schon  am  6.  Juni  hatten  die  Commandanten  der  verschiedenen 
Detachements,  unter  denen  der  russische  Schiffs-Lieutenant  Baron 
Raden  als  Aeltester  fungirte,*)  ihre  erste  Zusammenkunft  abge- 
halten, der  in  den  nächsten  Tagen  noch  zwei  folgten.  Es  wurde 
die  Eventualität  eines  allgemeinen  Angriffes  durch  die  Boxer  ins 
Auge  gefasst ;  dass  reguläres  chinesisches  Militär  sich  an  einem 
solchen  betheiligen  würde,  glaubte  man  vorderhand  nicht  in  Er- 
wägung ziehen  zu  müssen. 

Der  ganze,  die  Legationen  umfassende  Complex  zerfiel  durch 
den  aus  der  Kaiserstadt  kommenden,  zwischen  Tschienmen  und 
Hatamen  die  Mauer  der  Tartarenstadt  in  einem  vergitterten  Durch- 
lass  passirenden  Canal  naturgemäss  in  zwei  Gruppen,  deren  west- 
licher die  holländische,  amerikanische,  russische  und  englische 
Gesandtschaft  angehörten,  während  alle  übrigen  in  der  östlichen 
lagen ;  innerhalb  jeder  Gruppe  einigte  man  sich  zu  gegenseitiger 
Unterstützung.  Ein  starker  Angriff  auf  eine  der  Legationen  sollte 
<len  benachbarten  gleich  durch  eine  Patrouille  mitgetheilt  werden 
^d  auf  diesem  Wege  successive  auf  der  ganzen  Stellung  in  die 
Gefechtsbereitschaft  übergegangen  werden. 

Amerikanern  und  Russen  fiel  die  Bewachung  des  westlichen, 
Italienern  und  Franzosen,  eventuell  auch  den  Deutschen  das  Halten 
^cs  ostlichen  Theiles  der  Legationsstrasse  zu ;  die  Nordbrücke  des 
^ales  hatten  die  Engländer,  die  östlich  davon  gelegene  Kreuzung 
^^  Tschangan-Strasse  mit  der  Customs-Strasse  die  Oesterreicher- 

*)  Fregatten-Capitän  von  Thomann  konnte  damals  noch  immer  hoffen,  die  Rück- 
'^  nich  Taku  anzutreten  und  enthielt  sich  deshalb  einer  persönlichen  Betheiligung 
^  denBerathiingen;  Linienschifis-Lieutenant  Kollsur  traf  daher  als  österreichisch-unga- 
"*llW  Dttadiement-Commandant  die  Abmachungen. 

r:  Kimpfe  in  China.  13 


194 

Uncarn    ^^^  vertheidigen.    Letztere   sollten,    da    sie    auch  die    Be- 

chung    d^^   noch   weiter   abseits   liegenden  belgischen  Legation 
besorgten,     d^rch  eine  Abtheilung  des  französischen  Detachements 
erstärkt     xv^^rden.     Die    Deutschen    übernahmen    im    Osten,    die 
A.merikanex'      ^m  Westen  die  Besetzung   der  Stadtmauer,    russische 
Posten  bexv^*-^^^^^  ^^^  mittlere,  beide  Gruppen  verbindende  Brücke, 
die  Tapaner"       unterhielten    an   den  Zugängen  des  im  Norden    ihrer 
GesandtscU^^^  gelegenen  Suwang-Fu,  später  kurzweg  Fu  genannt, 
Wachen  und    entsendeten  Patrouillen  durch  das  Gewinkel  zwischen 
dem  V^  und    dem  Finanz-Inspectorat  bis  zur  österreichisch-ungari- 
' eben  Legation.  Späterhin,  als  Sir  Robert  Hart  die  fremdländischen 
Ancestellten   des  Seezollwesens  aus  dem  Nordosten  der  Stadt  ein- 
berufen (^^.    J^^')  ^^^  unter  dem  Commando  eines  seiner  Beamten, 
des  ehemalig'e^  preussischen  Officiers  Ernst  von  Strauch  militärisch 
orcanisirt     batte,    übernahmen    diese    Herren    die    Bewachung   der 
/uffänge    zum    Finanz-Inspectorat    und    zu    der    vom    Seezollwesen 
unterhaltenen     Post.     Zu     jener     Zeit    nahmen    die    Beamten    der 
russisch-chinesischen    Bank    auch    an    der   Bewachung   des    Fusses 
der     Stadtmauer     gemeinsam     mit     der     amerikanischen     Marine- 
Infanterie  Theil.     Das  deutsche  Detachement    stellte    eine  Wache 
für  die  nordwestlich  der  k.  und  k.  Gesandtschaft  befindliche  elek- 
trische Centrale  der  Firma  Siemens  &  Halske  bei. 

Ausser  (lewehren  verfügten  die  Detachements  noch  über  drei 
fahrbare  vSchnellfeuerwaflFen,  d.  i.  die  englische  Mitrailleuse  älteren 
Nordenfeldt-Systems,  das  amerikanische  Maschinengewehr  von 
6-5  Millinieter  Caliber  und  die  italienische  37  Millimeter  Schnell- 
feuorkanone  ;  die  Gewehr-Mitrailleuse  des  österreichisch-ungarischen 
Uetachements  wurde  zuerst  auf  einem  Holzsockel  installirt,  bis  es 
am  V^'  J^"^  gelang,  auch  für  sie  einen  allerdings  sehr  gebrech- 
lichen Handwagen  zu  adaptiren. 

Am  meisten  exponirt  war  die  belgische  Gesandtschaft,  deren 
Insassen  sich  im  Nothfalle  auf  die  österreichisch-ungarische  Lega- 
tion zurückziehen  sollten;  dazu  standen  ihnen  zwei  Wege  oflFen,  die 
Wahl  zwischen  diesen  beiden  hing  natürlich  von  vorher  nicht  be- 
stimmbaren Umständen  ab. 

I)i(^  Position  der  österreichisch-ungarischen  Gesandtschaft 
war  eine  der  wichtigsten  und  dort  aller  Wahrscheinlichkeit  nach 
auch  der  erste  Angriff  zu  gewärtigen;  zu  ihrer  Sicherung  wurden 
vom  »^  Juni  ab  ausser  dem  Posten  am  Hauptthor  in  der  Customs- 
Strasst»  noch  zwei,  die  Nord-  und  Ostmauer  abpatrouillirende 
Wachen  und  ein  Posten  im  1.  Stockwerk  des  vom  Detachement 
h«»wohnlen    (iebäudes    unterhalten,    welcher    das   angrenzende   Fu 


und  das  schmale,  an  beiden  Seiten  abgesperrte  Gasschen  zwischen 
diesem  und  der  Ostmauer  zu  überwachen  hatte.  So  lange  die 
Mitrailleuse  nicht  fahrbar  gemacht  war,  stand  sie  auf  einer  Weg- 


DSB  Legation Bviortet  mit  Umgebung. 

1-J40M 


Cti)n***n(Ullt 


kreuzung  im  Garten,  von  wo  aus  sie  das  Hauptthor  und  den  grössten 
Theil  der  ganzen  Anlage  hätte  bestreichen  können.  Für  den  Fall, 
als  es  den  Boxern  wider  altes  Erwarten  doch  gelingen  sollte,  in 
überwältigender   Ueberzahl    einzudringen,    war   das   Mannschafts- 

18* 


196 

gebäude,  in  dem  die  Munition  und  Proviant  auf  14  Tage  verwahrt 
lagen,  als  Rückzugs-  und  Vertheidigungspunkt  ausersehen.  In 
dessen  äusseren  Bogengängen  hatten  wir  mit  Steinen,  Erdsäcken, 
Hängematten  u.  dgl.  Schützenstände  errichtet,  in  dem  noch  sehr 
jungen  Garten  überdies  unter  thätigster  Mithilfe  der  unermüdlichen 
Frau  von  Rosthorn  aus  Draht  und  Netzen  Annäherungshindernisse 
improvisirt,  um  ungebetene  Eindringlinge  zu  unfreiwilligem 
»Kotow«  zu  zwingen  und  umso  länger  unter  Feuer  halten  zu 
können;  in  der  Nordwest-  und  in  der  Nordostecke  waren  erhöhte 
Schützenstände  geschaffen  worden,  von  wo  aus  man  die  Verlänge- 
rung der  Customs-Strasse  gegen  Norden  und  einen  grossen  Theil 
der  Tschangan-tsie  beschiessen  konnte. 

Mit  der  Wache  in  der  belgischen  Legation  war  für  die  Nacht- 
zeit —  um  die  es  sich  zunächst  handelte  —  eine  Verständigung 
durch  Signalpatronen  festgesetzt ;  ansonst  gingen  häufig  Patrouillen 
hin  und  her.  Auf  Anregung  des  österreichisch-ungarischen  Ge- 
schäftsträgers dehnte  die  elektrische  Centrale  den  Betrieb  statt 
wie  früher  nur  bis  Mitternacht  nun  bis  zu  Tagesanbruch  aus. 

Bis  zum  13.  Juni  hatte  sich  zwar  in  der  unmittelbaren  Umgebung 
des  Legationsviertels,  in  dem  jedoch  der  Zahl  nach  noch  immer 
die  von  Chinesen  bewohnten  Häuser  vorherrschten,  nichts  direct 
Alarmirendes  zugetragen  und  das  Einzige,  was  vielleicht  kriege- 
rische Zeiten  voraussetzen  liess,  war  das  Vorüberziehen  grösserer 
chinesischer  Truppenmengen ;  mandschurische  Bannerleute  mit 
ihren  unhandlichen  Dreimännerbüchsen,  dann  wieder  Kansu-  (Tung- 
Fuhsiang-)Cavallerie  und  Infanterie  und  Wuwei-Truppen,  die  letz- 
teren drei  alle  ganz  modern  bewaffnet,  marschirten  frühmorgens 
und  nachmittags  in  langen  Reihen  stets  unter  misstönendem  Schalle 
ihrer  langen  Trompeten  vorbei  und  so  mancher  Schelm  deutete 
mit  einem  bezeichnenden  Grinsen  zuerst  auf  seine  Waffe  und  dann 
auf  uns  —  es  zuckte  einen  in  den  Fingern,  dem  Kerl  eins  auf  die 
scheckige  Blouse  zu  brennen ! 

Inzwischen  hatten  wir  Officiere  nicht  versäumt,  uns  über  Weg 
und  Steg  in  der  nächsten  Nachbarschaft  zu  orientiren,  was  trotz 
des  im  Allgemeinen  erkennbaren  Princips,  dass  Strassen,  Gassen 
und  Gässchen  einander  unter  rechtem  Winkel  schneiden,  in  Peking 
nicht  ganz  so  einfach  ist,  als  es  aussieht,  da  es  auch  eine  Menge 
Sackgassen  gibt,  in  die  zu  gerathen  unter  Umständen  ärgerlich 
hätte  werden  können. 

Der  13.  Juni  war  ein  richtiger  Pekinger  Sommertag;  die 
drückende  Hitze  wurde  durch  einen  den  fusshohen  Staub  auf- 
wirbelnden Wind    noch    unleidlicher   gemacht    und    man 


197 

förmlich,  durch  die  bösen  Nachrichten  und  das  Ausbleiben  von 
guten,  das  heisst  über  die  Fortschritte  der  Seymour-Colonne,  ohne- 
dies schon  gespannt,  nach  einer  Erfrischung,  in  welcher  Form 
immer  —  die  flüssige  damals  noch  ausgenommen,  von  welcher  Art 
es  ja  vorderhand  genug  gab. 

Um  6V4  Uhr  abends  —  die  zur  Erhaltung  von  physischer 
Spannkraft  unbedingt  nothwendige  Tennispartie  hatte  eben  be- 
gonnen —  wurde  ein  vom  amerikanischen  Minister  gesandter  Brief 
bei  uns  abgegeben;  Inhalt  eine  kurze  Meldung  des  Seecadetten 
Erich  Prochaska  und  ein  Schreiben  des  von  Dr.  von  Rosthorn 
schmerzlich  erwarteten  Consulats-Secretärs  Gottwald,  beide  datirt 
Langfang,  12.  Juni.  Die  erste  Nachricht  von  der  Seymour-Expedition! 

Ersterer  zeigte  an,  dass  er  sich  mit  25  Mann  der  »Zenta«  im 
Zuge  des  Vice-Admirals  selbst  befand  und  man  am  11.  Juni  bei 
Lofa  ein  Scharmützel  mit  Boxern  bestanden  habe;  die  fernere 
Bitte,  man  möge  bei  Ankunft  des  Zuges  mehrere  Karren  zum 
Transport  von  Proviant  und  dergleichen  entgegenschicken,  deutete 
darauf  hin,  dass  der  Schreibende  jedenfalls  in  Uebereinstimmung 
mit  allen  anderen  an  der  Expedition  Betheiligten  noch  damit  ge- 
rechnet hatte,  Peking  zu  erreichen. 

Herrn  Gottwald'sMittheilungen  an  seinen  neuen  Chef  waren  etwas 
ausführlicher ;  er  erwähnte,  dass  dem  Zuge,  in  dem  er  sich  befand> 
noch  weitere  fünf  folgen  würden,  ferner  dass  am  11.  Juni  in  Tientsin 
1800  Mann  Russen  eingetroffen  seien,  das  Scharmützel  mit  Boxern 
und  die  Verzögerungen  durch  die  Reparatur  der  Bahnstrecke. 

Der  Ueberbringer  dieser  heissverschlungenen  Botschaften, 
der  16jährige  Sohn  Fago  des  ersten  Secretärs  der  amerikanischen 
Gesandschaft,  Mr.  Squiers,  Hess  uns  mit  echtem  Yankee-Phlegma 
Zeit,  das  Schriftliche  gehörig  durchzusehen,  bis  er  fortfuhr: 

»Eben  sind  grosse  Massen  Boxer  durch  das  Hatamen  herein- 
gezogen, in  der  Legationsstrasse  herrscht  ein  furchtbares  Gedränge, 
die  Leute  machen  viel  Lärm;  Mr.  Pathig,  Sie  wissen,  der  Privat- 
secretär  Lihungtschangs,  der  sich  bisher  immer  weigerte,  das 
Pekinger  Haus  Li's  zu  verlassen,  glaubt,  dass  es  heute  doch  los- 
gehen werde,  er  will  bei  uns  schlafen.  Wenn  Sie  eine  Antwort 
nach  Langfang  schicken  wollen,  lassen  Sie  vSie  vor  8  Uhr  in 
der  amerikanischen  Gesandtschaft  sein,  wir  wollen  zu  der  Stunde 
einen  chinesischen  Läufer  aussenden,  ich  muss  aber  sehen,  dass  ich 
zurückkomme,  sonst  wird  mir  der  Tumult  zu  arg.  Da  hören 
Sie's  schon.« 

Und  in  der  That  —  aus  der  Richtung  von  Hatamen  drang  schon 
wüster  Lärm    her,    in    dem    man  vorderhand  nur  »Scha-scha«  und 


198 

»Scha-u-scha-u«  (Verbrennt  sie!)  unterschied;  Kollaf  setzte  die 
schrille  Pfeife  an  und  keine  halbe  Minute  später  standen  wir  an 
unseren  Posten.  Von  der  Nordostecke  aus,  wo  ich  mit  sieben  Mann 
auf  die  weiteren  Ueberraschungen  wartete,  konnte  man  anfanglich 
nur  eine  in  eine  Staubwolke  gehüllte,  brüllende,  dichte  Menschen- 
menge erkennen,  die  sich  vom  Hatamen-Boulevard  westwärts  gegen 
uns  bewegte;  auf  ungefähr  500  Schritt  erst  nahm  man  in  der 
Abendsonne  blitzende  WaflFen,  dann  rauchende  Fackeln  und  endlich 
auch  die  untrüglichen  rothen  und  orangefarbigen  Abzeichen  der 
Boxer  aus.  Nun  war's  Zeit,  und  wenn  mich  auch  die  Rücksicht 
auf  die  massenhaft  mit-  und  zulaufenden  unschuldigen  GaflFer  noch 
ein  paar  Augenblicke  zurückhielt,  so  galt's  doch  zu  handeln  — 
die  Kerle  hatten  an  die  Gerüste  der  im  Bau  befindlichen  kaiser- 
lichen Münze  Feuer  gelegt  und  kamen  mit  Triumphgeheul 
näher  —  ein  paar  Salven,  Wuthgeschrei  und  dann  ein  Gelaufe! 
Mit  auffallig  raschem  Verständniss  zerstreute  sich  die  Bande  und 
Hess  die  Schaulustigen  allein  zurück,  die  sich  nun  auch  im  bunten 
Durcheinander  in  Sicherheit  zu  bringen  suchten.  —  Nach  einigen 
Minuten  tauchten  viel  näher  an  uns  aus  einem  Hause  wieder  ein 
paar  rothe  Turbane  auf,  verschwanden  aber  blitzschnell,  als  gleich- 
zeitig drei  bis  vier  Schüsse  gegen  sie  fielen.  In  dem  Gewühl  nach  den 
ersten  Salven  konnte  man  nicht  deutlich  erkennen,  was  unsere  Gewehre 
ausgerichtet,  sicherlich  aber  ganz  Befriedigendes,*)  nach  der  Eile 
zu  schliessen,  mit  der  die  ganze  Horde  verschwand.  —  Bald  wurde 
es  in  unserer  Nachbarschaft  ganz  still,  man  sah  nur  mehr  fried- 
liebende Bürger,  denen  der  Schrecken  sichtlich  noch  in  allen 
Gliedern  sass,  aus  den  Häusern  hervorkommen  und  im  beschleunig- 
ten Tempo  ihre  Wohnungen  aufsuchen. 

Der  Brand  hatte  am  Gerüste  des  Münzamtes  nur  wenig 
Schaden  gethan,  das  angrenzende  Gebäude  der  chinesischen  Bank 
war  durch  unser  Eingreifen  von  der  Zerstörung  bewahrt  worden; 
ein  amerikanisches  Missionsgebäude  in  der  Nähe  des  Hatamen 
stand  in  Flammen,  die  in  der  Legationsstrasse  vordringenden 
Boxer  holten  sich  auch  dort  bei  den  Italienern  und  herbeigeeilten 
Freiwilligen  —  zumeist  Bew^ohner  des  Hotel  Peking  —  blutige 
Köpfe. 

Angesichts  des  Eintrittes  einer  so  ernsten  Situation  übernahm 
Fregatten-Capitän  von  Thomann  nun  persönlich  das  Commando 
über  das  Detachement. 

♦;  Ein  in  der  Tschangan-Strassc  wohnhaft  gewesener,  später  nach  Shanghai  ge- 
flüchteter chinesischer  Beamter  erzählte  im  »Shanghai  Mercury«,  dass  die  Boxer  durch 
das  Feuer  der  Oesterreicher-Ungarn  eine  Menge  Todte  und  Verwundete  hatten. 


199 

Die  belgische  Gesandtschaft  war  diesmal  nicht  angegriffen 
worden,  dafür  begannen  die  Boxer  bald  darauf  im  Norden  der 
Tartarenstadt  ihr  Zerstörungsvverk,  das  sich  nach  10  Uhr  nachts 
durch  grellen  Feuerschein  und  durch  die  Entfernung  gedämpftes 
Geschrei  anzeigte.  Aus  der  Richtung,  wo  beides  wahrzunehmen, 
erkannte  man,  dass  es  die  katholische  Kirche  zum  heiligen  Joseph, 
das  Tung-tang,  sein  müsse,  das  da  überfallen  wurde;  ein  Hilfs- 
versuch war  leider  wegen  der  grossen  Strecke  Weges  dahin  aus- 
geschlossen. 

Beinahe  im  selben  Augenblick,  wo  der  Brand  des  Tung-tang 
bemerkt  wurde,  rückten  die  Boxer  wieder  in  grosser  Zahl  mit 
brennenden  Fackeln  und  unter  dem  unvermeidlichen  Geschrei  über 
die  nach  Süden  zu  abfallende  Strasse  gegen  die  Legation  vor,  so 
dass  jene  bald  wie  ein  wogender  Feuerstrom  aussah.  Das  Detache- 
ment  war  schon  alarmirt  und  stand  der  grösste  Theil  desselben 
mit  der  Mitrailleuse  an  der  Strassenkreuzung.  Um  den  Denkzettel 
eindring'licher  zu  gestalten,  befahl  Fregatten-Capitän  von  Thomann, 
die  nur  mit  blanken  Waffen  ausgerüsteten  Angreifer  bis  auf 
50  Schritt  herankommen  zu  lassen  und  erst  dann  das  Feuer  zu 
eroffnen;  so  geschah  es  auch,  und  als  dann  einige  Lagen  in  vsie 
hineingeknattert  hatten,  entflohen  die  Boxer  unter  lauten  Ver- 
wünschungen nach  Norden  zurück.  Eine  Weile  wurde  noch  zuge- 
wartet, ob  sie  nicht  wieder  vorkämen,  dann  ging  ihnen,  als  auf 
das  Schiessen  hin  auch  14  Mann  Franzosen  unter  Aspirant  Herber 
und  einige  Zollbeamte  herbeigeeilt  waren,  eine  12  Mann  starke 
Patrouille  nach. 

Zu  unserem  grossen  Erstaunen  fanden  wir  aber  weder  Todte 
noch  Verwundete,  deren  es  gewiss  so  manchen  gegeben  haben 
musste;  einige  mögen  wohl  in  die  nächsten  Häuser  weggeschleppt 
worden  sein,  wahrscheinlich  haben  sich  jedoch  die  Boxer  begnügt, 
ihre  Fackeln  auf  die  Strasse  zu  werfen,  und  rissen  beim  ersten 
Schuss  durch  die  beiderseits  des  Fahrdammes  befindlichen  tiefen 
und  breiten  Gräben  aus.  Ein  weiterer  Erklärungsgrund  mag  auch 
darin  liegen,  dass  man  in  der  irrigen  Annahme,  die  Fackeln  würden 
hoch  g'eschwungen,  die  Leute  angewiesen  hatte,  unter  die  vordersten 
Lichterreihen  zu  zielen,  wodurch  dann  die  Geschosse  zu  kurz  fielen; 
dieser  übrigens  verzeihlichp  Irrthum  hat  auch  die  Geller  verur- 
sacht, welche  die  Lichtleitung  beschädigten,  die  etwa  100  Schritt 
von  der  Strassenkreuzung  in  sieben  Meter  Höhe  den  Weg 
übersetzt.*) 

*)  Der  Bericht  des  Timcs-Correspondenten  Dr.  Morrison  über  die  Belagerung,  welcher 
sich  durch  seine  böswiUigen  Erfindungen  und  Verdrehungen    bezüglich   der  Person    des 


200 

Die  mit  noch  brennenden,  aus  den  bekannten  Weihrauch- 
stäbchen zusammengesetzten  Fackeln  übersaete  Strasse  wurde  auf 
etwa  1000  Schritt  gegen  Norden  abgesucht,  hiebei  noch  zwei  durch 
Seitengassen  fliehende  Boxer  niedergeschossen,  ausser  einigen  als 
verdächtig  aufgegriflFenen,  bald  aber  als  harmlos  erkannten  und 
verwarnt  entlassenen  Chinesen  jedoch  keiner  der  Mordgesellen 
mehr  angetroffen;  in  einem  Hause,  dessen  Bewohner  man  eilends 
flüchten  hörte,  fand  man  einen  grossen  Haufen  gebrauchsfertiger 
Fackeln.  Ungefähr  800  Schritt  von  der  Legation  stiess  man  auf 
die  schon  halbverkohlte  Leiche  einer  Chinesin,  die  an  einem  Hals- 
band mit  Kreuz  und  Muttergottesbild  als  Christin  erkannt  wurde; 
Hände  und  Füsse  waren  gefesselt,  und  da  weder  am  Kopf  noch 
an  den  unverbrannten  Gliedern  irgend  eine  Verwundung  zu  sehen 
war,  musste  man  annehmen,  dass  die  Aermste  lebendig  ins  Feuer 
geworfen  worden  war.  Auch  in  der  Legationsstrasse  hatten  Italiener 
und  Franzosen  nachts  auf  verdächtige  Erscheinungen,  jedoch  mit 
unbekanntem  Erfolge  geschossen ;  der  Rest  der  Nacht  verlief  ruhig. 

So  endete  unsere  ervSte  Bekanntschaft  mit  den  Boxern ;  sie 
hat  uns  keinen  allzu  hohen  Begriff  vom  so  sehr  gerühmten  Muth 
dieser  »himmlischen  Soldaten«,  wohl  aber  einen  tiefen  Abscheu 
gegen  ihre  bestialische  Mord-  und  Zerstörungswuth  beigebracht. 
Letztere  wendete  sich  nun  gegen  die  entlegenen,  nicht  vertheidigten 
Missionen,  die  Fremden,  Christen  und  fremdenfreundlichen  Chinesen 
gehörigen  Häuser  und  sorgte  dafür,  dass  uns  fortan  wochenlang 
der  schauerlich  schöne  Anblick  gewaltiger  Brände  beschieden  war. 
Diesen  fielen  nach  und  nach  die  Häuser  der  Zollbeamten  und  der 
französischen  Dolmetscher-Eleven  im  Nordosten  der  Stadt,  die  im 
selben  Viertel  gelegene  ehemalige  japanische  Gesandtschaft,  das 
Nantang,  die  katholische  Missionsanstalt  mit  ihrem  Spital  im  Süd- 
westen der  Tartarenstadt,  alle  die  europäische  Artikel  enthaltenden 
Kaufläden,   endlich   auch  der   grösste  Theil  des   reichen  Handels- 


Fregatten-Capitäns  von  Thoraann  und  des  österreichisch-ungarischen  Detachements  über- 
haupt als  ein  Cabinetstück  perfid  tendenziöser  Journalistik  darstellt,  schliesst  seine 
hämischen  Bemerkungen  über  die  Abwehr  des  nächtlichen  Angriffes  mit  dem  gewagten 
Ausspruche :  »Dieses  Fiasco  habe  nur  geholfen,  den  Glauben  der  Boxer  an  ihre  Unver- 
wundbarkeit  zu  befestigen.«  Nun  sind  aber  die  Boxer  über  Hals  und  Kopf  geflohen  und 
haben  nie  wieder  gewagt,  ihre  Unverwundbarkeit  gerade  gegen  die  österreichisch- 
ungarischen  Gewehrläufe  zu  erproben  —  Dr.  Morrison  findet  vielleicht  noch  für  diesen 
Widerspruch  der  Thatsachcn  mit  seinem  Apercu  die  chinesische  ZauberformeL  —  Obige 
Details  wurden  mit  Absicht  in  so  ausgedehntem  Masse  angeführt,  und  wenn  sich  später 
an  einzelnen  Stellen  ähnliche  Längen  finden,  so  möge  der  Leser  sie  entschuldigen,  sie 
sind  die  Antwort  auf  die  unqualificirbaren  Angriffe  Dr.  Morrison*s  und  seiner  wenigen 
Genossen. 


201 


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Skizze  der  österr.-ungar.  Gesandtschaft. 

Chinttm- Häuser 


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Stall-Gebäude 


Chinesische 


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nings  •  Hindernis«« 
ins  Dr&ht  v.  Netzan 
B.  dgl. 

..«^  Draht  >Btrricade 

<  Diener>RAame 

K  Ktkohe 

B  Brunnen 

Qih  Glashaus 

Ol».  Gärtnerhaus 

w«.  Wachzimmer 


Häuser 


vierteis  in  der  Chinesenstadt  und  das  äussere  Wachhaus  auf  dem 
Tschien-men*)  zum  Opfer. 

*)  Der  am  16.  Juni  ausgebrochene  Brand  in  der  »Bücher«-,  »Fächer«-  und 
»Laternen« -Strasse  ergriff,  durch  Südwind  getragen,  auch  das  äussere  als  geheiligt  anzu- 
sehende Tschien-men  und  hat  den  Chinesen  einen  auf  l^'a  bis  2  Millionen  Dollars  ge- 
Khatzten  Schaden  verursacht,  die  damit  ihren  Aberglauben  und  die  Furcht  vor  den 
Boxern  bezahlten.  Letztere  hatten  ursprünglich  nur  einige  Läden  mit  europäischer  Waare 
angezündet  und  fertigten  die  ängstlichen  Nachbarn  damit  ab,  dass  »ihr  Feuer  den  Göttern 
wohlgefaUig  sei  und  wie  eine  Kerze  nur  nach  aufwärts  brenne« ;  als  aber  auch  ein  Theater 
Fener  fing  nnd  die  Besitzer  mit  schmutzigem  Wasser  Löschversuche  anstellten,  erklärten 
die  Boxerhänptlinge,  nun  hätten  sie  keine  Macht  mehr,  der  Feuergott  sei  durch  die  Besudelung 
mit  dem  unreinen  Inhalt  der  Siele  schwer  beleidigt  und  nehme  Rache.  Der  Aberglaube 
der  Betroffenen  war  so  gross,  dass  sie,  anstatt  die  brandlegenden  Boxer  zu  verjagen,  über 
die  Leute  thätlich  herfielen,  die  das  brennende  Theater  zu  löschen  versucht  hatten. 


202 

Wenngleich  am  Morgen  nach  dem  ersten  Angriff  die  Nach- 
barschaft des  Legationsviertels  ganz  ruhig  erschien,  so  wurde  doch 
Vorsorge  gegen  ein  Einschleichen  der  Boxer  getroffen  und  dem- 
gemäss  der  Verkehr  in  und  aus  jenem  durch  verstärkte  Posten  auf 
den  Strassen  unter  scharfe  Controle  genommen ;  Chinesen  durften 
die  Zugänge  nur  gegen  Vorweisung  eines  Passirscheines  über- 
schreiten, worein  sie  sich  trotz  mannigfacher  anfanglicher  Missver- 
ständnisse bald  fügten.  Diese  Passirscheine  bestanden  freilich  zu- 
meist nur  aus  Visitkarten  oder  ein  paar  Zeilen  Fremder  und  mögen 
auch  des  Oefteren  missbraucht  worden  sein.  Durch  Maueranschläge 
im  Legationsviertel  wurde  die  Benützung  gewisser  Strassen  unter- 
sagt und  den  friedlichen  Einwohnern  nahegelegt,  sich  bei  Nacht  nicht 
ausser  Hause  aufzuhalten,  und  wenn  durchaus  nöthig,  nur  mit 
einer  Laterne  auszugehen,  aber  ja  nicht  vor  Wachen  zu  entlaufen, 
wenn  sie  angerufen  würden. 

Am  Vormittag  begab  sich  der  französische  Detachement- 
Commandant,  Linienschiffs  -  Lieutenant  Darcy,  im  Auftrage  seines 
Gesandten  mit  einer  Patrouille  nachdem  noch  rauchenden  Tung-tang; 
dort  constatirte  er,  dass  die  Boxer  die  in  die  Kirche  geflüchteten 
christlichen  Chinesen  —  angeblich  300  an  der  Zahl  —  massacrirt 
hatten,  nur  wenige  waren  ihrem  grausamen  Wüthen  entronnen. 
Der  greise  Pfarrer  Pore  Dor^*)  wurde  vermisst ;  kein  Zweifel,  dass 
er  seine  Standhaftigkeit,  bis  zum  letzten  Augenblick  als  Troster 
seiner  Seelengemeinde  auszuharren,  mit  dem  Märtyrertode  be- 
siegelt hatte.  Es  ist  daher  kein  Wunder,  dass  sich  der  Fremden 
und  der  vSoldaten  insbesondere  eine  gerechte  Empörung  bemäch- 
tigte und  sie  trachteten,  jeden  Boxer,  devSsen  sie  habhaft  werden 
konnten,  sofort  unschädlich  zu  machen.  So  Hess  Freiherr  von 
Ketteier  auf  die  Meldung,  dass  jenseits  der  Stadtmauer  hinter  der 
deutschen  Gesandtschaft  ein  grosser  Trupp  von  ihnen  eben  ihre 
Exercitien  vor  versammeltem  Volke  vornehme,  gegen  sie  schiessen, 
wobei  sie  sieben  Todte  und  mehrere  Verwundete  verloren. 

Am  14.  wurde  beobachtet,  dass  bedeutendere  Massen  chine- 
sischen Militärs  aus  der  Stadt  gegen  Süden  abmarschirten ;  ein 
Gerücht  ging  um,  dass  Russen  —  offenbar  die  im  Brief  Herrn 
Gottwald 's  erwähnten  —  von  Tientsin  entlang  des  Peiho  in  Vor- 
rückung und  schon  auf  der  Hälfte  des  Weges  angelangt  seien. 


*)  Seine  arg  verstümmelte  Leiche  wurde  später  in  einiger  Entfemang  von  der 
Kirche  aufgehängt  vorgefunden.  Pere  Dot€  hatte  wiederholte  AufTorderungen,  sich  ins 
Peitang  oder  in  die  französische  Gesandtschaft  zurückzuziehen,  stets  abgelehnt  und  oft 
geäussert,  in  getreuer  Pflichterfüllung  sein  Leben  zu  opfern,  erscheine  ihm  der 
Abschluss  seiner  I^ufbahn  als  Missionär. 


später  abends  empfing  der  englische  Gesandte  vom  Vice- 
Admiral  Seymour  wieder  eine  Nachrichl;  dieser  zufolge  war  die 
Colonne  am  Morgen  noch  immer  in  Langfang  gewesen  und  hatte 
nebst  den  Schwierigkeiten,  die  Bahn  herzustellen,  auch  mit  Mangel 
an  Wasser  und  Lebensmitteln  zu  kämpfen.  Trotzdem  sprach  der 
Führer  der  Expedition  noch  immer  die  Hoffnung  aus,  am  15,  Anting 
zu  erreichen.  Diese  Botschaft  war  die  letzte  directe  von  dem  Entsatz- 
Corps;  obzwar  sie  im  Zusammenhalte  mit  den  Ereignissen  in 
Peking  keineswegs  als  sehr  ermuthigend  angesehen  werden  konnte. 
verfehlte  sie  doch  nicht,  eine  günstige  Wirkimg  auf  die  Ein- 
geschlossenen auszuüben  —  einer  der  wenigen  vorbeitreibenden 
Strohhalme  I 

Nachtsüber  verstärkten  die  Franzosen  unsere  Stellung  an  der 
Strassenkreuzung.  bei  der  es  übrigens  in  der  ersten  Hälfte  der 
Nacht  ziemlich  still  blieb;  nach  9  Uhr  begann  zwar  wieder  im 
Norden  derselbe  Fackelzug,  wie  in  der  Nacht  vorher,  jedoch  an- 
scheinend unter  geringerer  Betheiligung,  auch  schwenkte  er,  auf 
ungefähr  300  Schritte  mit  einer  Gewehrsalve  empfangen,  westwäna 
ah  und  wendete  sich  den  englischen  Posten  zu,  die  den  zu- 
gedachten Besuch  ebenfalls  ohne  Anstrengung  abwiesen. 

Hingegen  erhob  sich  mit  Einbruch  der  Nacht  ein  kaum  be- 
schreiblicher  Tumult  in  der  Chinesenstadt;  dort  tobten  die  wahr- 
scheinlich durch  die  Schüsse  der  Deutschen  aufgeregten  Boxer- 
[nassen.  Das  Geschrei  «Scha^scha!«  und -.Scha-u — Scha-u!»  schwoll 
zuT  .Stärke  des  Orcanes  an  und  klang  drohend  genug  —  es  mussten 
wohl  Zehntausende  sein,  die  dort  wütheten;  dazu  noch  grellen 
Feuerschein  auf  mehreren  Seiten,  eine  wahre  Hollennacht!  Zwar 
wussten  wir  die  hohe  Mauer  und  die  geschlossenen  Tbore  zwischen 
uns  und  der  einem  Paroxysmus  verfallenen  blutdürstigen  Menge, 
auch  eine  deutsche  Wache  und  ungefähr  200  Mann  bisher  gut- 
gesinnter Truppen  des  Prinzen  Tsching  auf  dem  Wall  —  wie 
aber,  wenn  sich  die  Thore  öffneten?  —  Ich  glaube  nicht,  dass  damals 
auch  nur  einer  der  Fremden  Schlaf  gefunden  hat,  ~~  Plötzlich  — 
e»  mochte  ''il  Uhr  sein  —  stieg  nordöstlich  von  uns  eine  rothe 
Signalpatrone  auf.  die  belgische  Legalion  war  angegriffen  worden; 
Geschrei  und  Gewehrschüsse  aus  derselben  Richtung  zeigten  uns 
an,  dass  die  Boxer  von  der  kleinen  Wache  gut  empfangen  worden. 
Augenblicklich  ging,  nein  flog  Kollaf  mit  je  sechs  Mann  unserer  Leute 
und  Franzosen  zur  Unterstützung  ab;  als  Freiwilliger  schloss  ich 
mich  an.  nur  sehr  erstaunt,  was  mein  Freund  laufen  konnte. 
Durch  das  finstere  Wirrsal  verödeter  Gässchen  stürmte  die  kleine 
Schaar  vorwärts;     Kollaf  kannte  sich   genau  aus    und    führte    uns 


V 


.-   -      :.-   I-eiration.    die    besonders   leicht   zu 

..-   :.  .r:  Alles   ruhigf   gfefunden,   geg-en  die 

-. .  -  1^.  .'.rvard.     Als  wir   athemlos   ankamen, 

^  -    -       -.r'Ier  in  voller  Flucht,  zwei  mussten 

-     >---":  .irhkeit  glauben.    Unser  brav(»r  See- 

^;  'r  Sache    famos    gemacht,    die   Rande 

s--.  •   .i.»>>  J^ie  nicht  die  Feuerbrände  hinein- 

•  .   <:.*.vrr4  abgegeben;    die  Herren  von  der 

•  ^ .     :'r.r:stliche    Diener    hatten    erfolgreich 
-,     ...->    :•-    :>i*d    wie   in    der   Nacht   vorher:    die 

-     ' .  '  \:t  Fackeln,   aber  vier  Todte  zwischt»n 

~    '.•".j: spuren.     Noch  war  einiges  (lelaufe 

-;ron,    rasch  wurden    die    betreffenden 

- .'  r.ichem  leisem  Klopfen  —  geöffnen  und 

*  .  ^:  r.    beisammen;    zu  je    vier    oder    fünf 

:  r.    zusammengebunden,   wanderten    sit^ 

^. .-.-.::  und  am  folgenden  Tage  nach  einem 

:^s:t^  Polizeistube.     Da  man  ihnt^n  jedc^ch 

:  ..:<  vorwitzige  Neugierde  und  verfrühte 

;.::     /.orstörung    der    belgischen    Li^gation 

.....-.,.    sie    als    Warnung,     künftig    früher 

.-- 0  v^triemen  mit,  dit»  ihntni  di<^  PcMtvSche 

.     ^  —>  verursacht  hatte. 

:  Darcv  war  auf  die  Schüsse  zu  unserem 

cn    und    unzufrieden,    dass   auch    s<Mno 

•  -  .j^vnommen:  von  seinem  Standpunkte  hatte 

.   ■-,<  Schicksal  der  beknschtm  Gesandtschaft 

.    ..  .-  unsere  Angelegt»nheit.   er  mochte  el^cn 

\:.;:r.^sen  noch  nothwendiger  brauchen  würde 

-  ->renz  war  noch  rascher  v(»rgessen   als  ent- 

<.>-.^   Illieb   nach    dem    misslungenen  Ueberfall 

-  --  Ml  \lles  still;  der  betäubende  Lärm  jenseits 
.-.*  <ich  erst  gegen  Alorgt-ngrauen.  Als  er 
....  Sprachkundige  auch  die  herzzerreissenden 
.^...     an    denen   sich  —  weiss  (lott    aus  welch 

."i^r  Zorn    der    Erretter    von    Dvnastie    und 

■■-,-    l.Y  Tuni,  schitMi  es  fast,    als   c;b    sich  dii* 

^-'-.en  Elemente  in  d^r  nächtlichen  Lärmorgie 

.  _  »-  -niiittag  ging  ruhig  hin.  An  unserer  Strassen- 

nur  wenige    chinesische   Passanten    blicken 


205 

und  befolgten  willig  die  Weisungen  hinsichtlich  des  einzuschlagenden 
Weges;  die  würdevollen,  sonst  aufgeblasenen  Herren  in  der 
kleinen  Polizeistube  an  der  Ecke  gegenüber  der  Legation  zeigten 
sich,  durch  Dr.  von  Rosthorn's  befehlendes  Auftreten  und  die 
unmittelbare  Nähe  fremder  Soldaten  eingeschüchtert,  äusserst 
dienstbefliessen  und  thaten  Alles,  was  man  verlangte.  Die  Kulis, 
welche  uns  mit  Trinkwasser  aus  einem  einige  hundert  Schritt  ent- 
fernten Brunnen  in  der  Tschangan-Strasse  und  mit  Eis  versahen, 
waren  fast  die  einzige  regelmässig  wiederkehrende  lebendige 
Staffage  in  dem  Stilleben;  ein  kleiner  Obst-  und  Kuchenhändler 
an  der  anderen  Strassenecke  verschwand  an  diesem  Tage  und 
überliess  unseren  Wachposten  sein  winziges  Häuschen,  die  darin 
Schutz  vor  der  glühenden  Sonne  fanden.  Dieses  langsame  Auf- 
hören des  sonst  so  regen  Verkehrs  bedeutete  für  unsere  Dol- 
metscher —  zwei  des  Pidgin-Englisch  nur  sehr  wenig  mächtige 
Boys  —  besonders  aber  auch  für  Herrn  von  Rosthorn  eine  wohl- 
thätige  Entlastung;  er  war  in  den  letzten  Tagen  gar  zu  oft  um 
seine  hilfreiche  Intervention  angegangen  worden,  wenn  sich  der 
wachehabende  Officier  gar  nicht  mehr  mit  den  Chinesen  ver- 
ständigen konnte.  Wenn  sich  solche  Verlegenheiten  nur  ein-  bis 
zweimal  im  Tage  einstellen,  mag  es  hingehen,  aber  das  war  wohl 
zehnmal  öfter  geschehen  und  dadurch  die  Zeit  und  Geduld  des 
Geschäftsträgers,  der  Alles  in  einer  Person  vereinigte  —  Reprä- 
sentant einer  Grossmacht,  Secretär,  Interpret  und  Rathgeber  in 
hunderterlei  kleinen  Angelegenheiten  des  täglichen  Lebens  — 
schon  ungebührlich  in  Anspruch  genommen.  Wie  ganz  anders  standen 
hierin  die  übrigen  Gesandtschaften  mit  ihrem  zahlreichen  Stabe 
an  Beamten  und  Studenten*)  da,  der  ihnen  erlaubte,  überallhin 
sprach-,  landes-  und  stadtkundige  Personen  zu  delegiren! 

Wie  ausserordentlich  wichtig  und  gerade  unter  den  ange- 
deuteten Verhältnissen  auch  schwierig  die  » Sprachenfrage c  an 
einem  so  exponirten  Posten  wie  dem  unseren  war,  wo  ein  Missver- 
ständniss  gar  leicht  fatale  Folgen  nach  sich  ziehen  konnte,  bedarf 
gewiss  keines  besonderen  Hinweises. 

Aber  auch  in  anderer  Beziehung  als  in  militär-polizeilicher 
bot  gerade  auch  unser  Posten  viel  Interessantes :  wir  hatten  vollauf 
Gelegenheit,  als  Erste  das  Elend  in  seinen  erschreckendsten  Formen 
kennen  zu  lernen,  welches  die  ruchlosen  boxerischen  Hände  über 
die  chinesischen  Christen  gebracht  hatten.  Wie  viele  Weiber  und 

*)  England,  Frankreich  und  Russland  lassen  bei  ihren  Legationen  in  Peking  die 
Anwärter  auf  Consulats-  und  diplomatische  Posten  in  China  einige  Jahre  im  Chinesi- 
schen unterrichten. 


206 

Kinder,  altersschwache  Greise  kamen  nicht  bei  unserer  Linie  herein, 
um  Schutz  und  Hilfe  zu  erflehen,  nachdem  sie,  von  Haus  und  Hof 
vertrieben,  mit  knapper  Noth  oft  nur  wie  durch  ein  Wunder  das 
nackte  Leben  gerettet !  Die  meisten  unter  ihnen  hatten  mehr  denn 
eine  böse,  von  Messer  und  Speer  oder  Brand  herrührende  Ver- 
wundung und  ganz  unauslöschlich  ist  uns  Allen  der  Anblick  nament- 
lich eines  dieser  Aermsten  geblieben.  Drei  Tage  nach  dem  Massacre 
im  Tungtang  schleppte  sich  ein  hochbetagter  Mann  zu  uns  heran, 
kaum  noch  fähig,  von  Weitem  sein  Halskettchen  mit  dem  Crucifix 
zu  zeigen ;  Kopf,  Schultern,  Arme  und  Hals  waren  durch  beiläufig 
ein  Dutzend  Hiebe  buchstäblich  zerfleischt,  der  ganze  Oberkörper 
mit  geronnenem  Blut  und  Staub  bedeckt,  in  den  tiefen  Fleisch- 
wunden schon  Würmer!*) 

Am  15.  Juni  war  das  Suwangfu,  um  das  sich  später  so  heisse 
Kämpfe  abspielen  sollten,  als  Zufluchtsort  für  die  christlichen 
Chinesen  erwählt  und  auf  Andrängen  einiger  Gesandten,  vor- 
nehmlich des  japanischen,  von  seinem  Besitzer,  dem  Prinzen  Su, 
ein  grosser  Theil  des  aus  mehreren  geräumigen  Tempeln,  Höfen 
und  Gärten  bestehenden  Complexes  auch  eingeräumt  worden; 
dort  lagerten  die  unglücklichen  Flüchtlinge,  schliesslich  gegen  3000 
an  der  Zahl,  unter  Aufsicht  der  Missionäre,  dicht  zusammen- 
gedrängt, die  Kranken  und  Verwundeten  gewartet  von  den  Aerzten 
der  Fremden  und  unermüdlichen  Krankenpflegerinnen  aller  christ- 
lichen Bekenntnisse,  voran  die  katholischen  Klosterfrauen.  In  der 
Nacht  vom  14.  auf  den  15.  Juni  war  das  Nantang  zerstört,  viele 
der  nach  dem  5.  Juni  dorthin  geflüchteten  Christen  ermordet,  der 
Leiter  der  Anstalt,  Pere  d'Addosio,  jedoch  noch  rechtzeitig  gerettet 
worden;  am  15.  nachmittags  befreiten  Deutsche  und  Engländer 
im  Verein  mit  Freiwilligen,  unter  denen  sich  auch  unser  Lands- 
mann Wihlfahrt  befand,  die  eingeschlossenen  Ueberlebenden  und 
brachten  sie  ins  Legationsviertel.  Dabei  hatte  es  wieder  einen 
Zusammenstoss  mit  Boxern  und  auf  Seite  letzterer  einige  Todte 
gegeben. 

Die  verschiedensten  Gerüchte  circulirten,  doch  überwogen 
die  günstigen.  Ein  kaiserliches  Edict  sollte  ergangen  sein,  welches 
den  Unwillen  über  die  beklagenswerthen  Gewaltthaten  der  auf- 
rührerischen Räuber  und  gewisser,  mit  ihnen  verbündeter,  übel- 
gesinnter Volksschichten  ausdrückte,  strenge  Bestrafung  der  Misse- 
thäter  und  von  drei  saumseligen  höheren  Beamten,  darunter  der  Polizei- 
präsident Tschungli,  anordnete.     Dann  hiess  es  wieder,  die  Russen 

*)   Der   Greis   genas  vollständig   und  wurde  allgemein   als    ein   neuer 
Beweis  der  Zähigkeit  gezeigt,  welche  der  gelben  Race  überhaupt  eignen  ist« 


seien  so  nahe,  dass  sie  noch  abends  einziehen  würden  —  die 
Colonne  Seymour  jedoch  noch  immer  bei  Langfang-.  —  Der  belgi- 
sche Gesandte  M.  de  Joostens  hatte  im  Laufe  des  Tages  sein 
Archiv  in  die  österreichisch-ungarische  Gesandtschaft  bringen 
lassen  und  kam  gegen  S  Uhr  abends  selbst  mit  seinen  Herren 
und  der  Wache  dahin,  da  er  die  Aufgabe  des  kleinen  Detachements 
der  »Zenta«  nicht  länger  durch  die  Bewachung  auch  seiner  Legatton 
erschweren  wollte;  Herr  von  Rosthorn  drang  aber  in  ihn.  sich 
durch  solche  Erwägungen  nicht  leiten  zu  lassen,  sondern  die  Frage 
nur  von  dem  Standpunkte  aus  zu  betrachten,  ob  er  die  Sicherheit 
seines  Hauses  durch  die  kleine  Wache,  die  ihm  auf  jeden  Fall 
zur  Verfügung   bleiben    würde,  als   gewährleistet   ansehen   könne. 


Augenblicklich  liege  auch  gar  kein  Grund  zur  Befürchtung  vor, 
dass  die  Abcommandirung  der  acht  Mann  für  unsere  Gesandlschaft 
eine  Verlegenheit  bilden  würde. 

Der  belgische  Minister  kehrte  daraufhin  mit  seiner  Escorte 
und  begleitet  von  Dr.  von  Rosthorn  zurück;  während  seiner  Ab- 
wesenheit war  schon  an  ein  Nebengebäude  Feuer  gelegt  worden, 
das  die  Matrosen  nun  rasch  erstickten  —  sonst  wurde  Alles  ruhig 
vorgefunden.  Die  Nacht  verlief  bis  auf  einige  dem  Uebereifer  der 
Posten  zugeschriebene  Schüsse  bei  Amerikanern  und  Italienern 
ganz  ruhig,  ein  schon  nachmittags  im  Westen  der  Stadt  ausgebrochener 
Brand  verlosch  allmählich. 

Samstag  den  16.  Juni  notificirte  das  Tsungli-Yamen  das  am 
jtorta^e   erschienene   kaiserliche  Decret   den    fremden  Gesandten; 


208 

der  der  Fremdensache  anscheinend  günstige  Inhalt,  der  bisher  nur 
auf  mündlichem  Wege  bekannt  geworden  war,  erfuhr  eine  wichtige 
Ergänzung  durch  die  Anfrage  des  Yamens,  welches  die  geeignet- 
sten Aufstellungen  für  die  zum  Schutze  des  Legationsviertels  aus- 
ersehenen Truppen  des  unter  Yunglu'sißefehl  stehenden  Wuwei-Corps 
wären.  Auf  diesen  Punkt  wurde  selbstverständlich  gar  keine  Antwort 
ertheilt,  auf  nicht  officiellem  Wege  liess  man  aber  die  Chinesen 
wissen,  dass  sie  sehr  gut  thäten,  ihre  Truppen  überhaupt  so  weit  als 
möglich  von  den  Linien  der  Fremden  zu  halten.  Ob  das  Aussprechen 
dieses  Wunsches  daran  schuld  war  oder  nicht,  so  blieben  doch 
mit  Ausnahme  der  Stadtmauer  und  der  Nordbrücke  über  den  Canal 
chinesische  Truppen  thatsächlich  in  gehöriger  Entfernung  von  den 
Aussenposten  der  Fremden;  auf  dem  zweitgenannten  Punkte  wurden 
am  18.  Yunglu's  Soldaten  den  Engländern  gegenüber  aufgeführt, 
verhielten  sich  aber  noch  ruhig. 

Der  Wortlaut  des  ganzen  Decretes  machte  allerdings  einen 
bestechenden  Eindruck,  enthielt  er  doch  zum  erstenmale  Aus- 
drücke wie  »Boxer-Briganten«  und  ordnete  ausserdem  die  Zerstörung 
aller  in  und  ausser  der  Stadt  errichteten  Altäre  an,  womit  nur  jene 
der  Boxer  gemeint  sein  konnten,  deren  mysteriöser  Nimbus  hiedurch 
am  schwersten  getroffen  worden  wäre;  wäre  —  denn  durch  die 
bisherigen  Erfahrungen  mit  kaiserlichen  Enunciationen  und  ihren 
Folgen  war  die  Ansicht  nur  zu  gerechtfertigt,  dass  auch  diesmal 
nur  schöne  Worte,  aber  keinerlei  Thaten  beabsichtigt  waren. 

Allerdings  fehlten  auch  noch  jetzt  nicht  die  unverbesserlichen 
Optimisten,  welche  die  im  Decrete  ausgesprochenen  freundlichen 
Vorsätze  als  bare  Münze  nahmen. 

Von  den  Russen  keine  Spur,  über  Seymour  nur  vage  Gerüchte 
aus  chinesischer  Quelle,  dass  seine  Colonne  noch  immer  nicht  weiter- 
gekommen sei ;  dagegen  wurden  wieder  mehr  Zuzüge  von  chinesischem 
Militär  und  hauptsächlich  Soldaten  Tung-Fuhsiang's  beobachtet. 
—  Vormittags  betheiligte  sich  LinienschiflFs-Lieutenant  KoUaf  mit 
15  Mann  an  einer  von  Amerikanern,  Engländern  und  Japanern 
unternommenen  Razzia  gegen  Boxer  in  einem  unweit  unserer 
Gesandtschaft  gelegenen  Taoistentempel ;  geängstigte  Nachbarn 
hatten  das  Versteck  verrathen.  Die  Thore  wurden  gewaltsam 
geöffnet  und  nun  begann  für  die  überraschten  Boxer  ein  aussichts- 
loser Verzweiflungskampf;  Kollaf  kam  dabei  als  einer  der  ersten 
Eingedrungenen  ins  Handgemenge  und  verschoss  die  ganze 
Ladung  seines  Revolvers.  Kein  einziger  der  »himmlischen  Soldaten« 
entkam,  im  Tempel  selbst  zählte  man  38  Todte,  im  Vorhof  noch 
einige  weitere;  auch  wurden  dort  fünf  Gefangene  gemacht»  < 


209 

chinesischen  Polizei  wanderten;  von  den  Fremden  wurde  kein 
einziger  verwundet,  trotzdem  die  Boxer  bei  ihrem  Erscheinen 
Speere  und  Messer  nach  ihnen  warfen.  Der  Mehrzahl  nach  w^aren 
es  junge,  unreife  Leute.  Man  konnte  wohl  eine  reiche  Beute  an 
plumpen  Waffen,  Abzeichen  und  Amuleten  sammeln,  fand  auch 
eine  Wagenladung  Brandfackeln,  einige  Lebensmittel,  jedoch  keine 
gravirenden  Schriften.  Die  ganze,  kaum  20  Minuten  währende 
Affaire  lockte  zahlreiche  Neugierige  herbei,  die  sich  aber  in  respect- 
voller  Entfernung  und  ungewöhnlich  still  hielten;  vielleicht  dämmerte 
doch  einigen  von  ihnen,  dass  es  mit  dem  Boxerzauber  nicht  ganz 
geheuer  war. 

Gegen  Mittag  brach  in  der  Chinesenstadt  das  verheerende 
Feuer  aus,  das,  wie  schon  angedeutet,  bald  auch  das  äussere  Thor 
und  Wachhaus  des  Tschien-men  ergriff. 

Nachmittags  erschienen  im  Auftrage  von  Sir  Robert  Hart 
dessen  Stellvertreter  Mr.  Bredon  und  Herr  von  Strauch  bei 
Fregatten- Capitän  von  Thomann,  um  hinsichtlich  gewisser  Even- 
tualitäten seine  Entschlüsse  zu  erfragen,  die  dann  auch  für  die 
Vertheidiger  des  Zollinspectorates  massgebend  sein  sollten. 

Damit  war  die  wichtigste  Frage  berührt,  die  uns  schon  seit 
Tagen  intensiv  beschäftigt  hatte. 

Blieben  die  Unruhen  auf  Angriffe  der  Boxer  beschränkt,  deren 
Bewaffnung  eine  primitive  war,  so  konnte  man  die  Legation  auch 
gegenüber  einer  noch  so  grossen  Ueberzahl  erfolgreich  vertheidigen ; 
anders,  wenn  reguläres  chinesisches  Militär  zu  offenen  Feindselig- 
keiten überging.  Im  letzteren  Falle  war  es  klar,  dass  der  Vortheil 
guten  militärischen  Geistes,  besserer  Disciplin  und  rationellen 
Gebrauches  der  Waffen  unter  den  bestehenden,  rein  localen  Ver- 
hältnissen nicht  ausreichen  würde,  um  nur  halbwegs  organisirten 
Angriffen  mit  Feuerwaffen,  aus  Gewehren  und  Geschützen,  geschweige 
denn  einer  nicht  zu  verhindernden  längeren  Cernirung  zu  wider- 
stehen. 

Die  Lage  der  Gesandtschaft  war  eben  zu  ungünstig;  sie  konnte 
von  allen  vier  Seiten  gleichzeitig  angegriffen  werden  und  in  diesem 
unvermeidlichen  Falle  hätten  die  30  Mann  Besatzung  —  die  frühere 
Evacuirung  der  belgischen  Gesandtschaft  und  Einziehung  der 
dortigen  Wache  als  selbstverständlich  vorausgesetzt  —  trotz  der 
Verstärkung  durch  eine  Mitrailleuse  für  die  Vertheidigung  des 
Vierecks  von  480  Schritt  Umfang  nicht  ausgereicht. 

Vor  Allem  hätten  die  Zugänge,  d.  i.  die  Verlängerung  der 
Customsstrasse  gegen  Nord  und  die  Tschanganstrasse  im  Osten 
und    Westen    vertheidigt    werden    müssen;    dafür    kam    jedoch 

Wintarlnlder:  Kämpfe  in  China.  14 


210 

wegen  der  beschränkten  Zahl  der  Vertheidiger,  die  es  auch  ganz 
unmöglich  gemacht  hätte,  die  geschlossenen  Häuserreihen  zu 
beiden  Seiten  ersterer  zu  besetzen,  nur  die  Strassenkreuzung 
in  Betracht;  ein  dort  errichtetes  Reduit,  aus  dem  man  gegen 
Westen,  Norden  und  Osten  hätte  feuern  können,  hätte  schon 
in  Anbetracht  dessen,  dass  man  es  nur  aus  Ziegeln  in  ganz  provi- 
sorischer Manier  auszuführen  vermocht  hätte,  nicht  lange  gehalten 
werden  können.  Nun  steigt  aber  der  Stadttheil  im  Norden  so  an, 
dass  das  Reduit  oder  Blockhaus,  wie  man  es  nennen  will,  eine 
unausführbare  Höhe  hätte  haben  müssen,  um  seine  Besatzung  zu 
decken;  zur  Herstellung  von  Horizontaldeckungen  fehlte  jegliches 
Material.  So,  wie  die  Dinge  lagen,  hätte  also  eine  Barricade  an 
der  Strassenkreuzung  nur  einen  Werth  gegen  offen  auf  beiden 
Strassen  vorrückende  Gegner  gehabt,  gar  keinen  aber  gegen  die 
aus  dominirender  Höhe  erfolgende  Beschiessung.  Es  blieb  also 
nur  die  Vertheidigung  des  Complexes  innerhalb  der  Umfassungs- 
mauer. Dieser  konnte  von  Norden  her  ebenfalls  eingeschossen 
werden,  im  Osten  überhöhte  das  dicht  angrenzende  prinzliche  Fu 
die  Mauer  und  auch  die  Gebäude  so,  dass  man  plongirendem  Feuer 
ausgesetzt  gewesen  wäre;  ausserdem  stand  mit  Sicherheit  zu 
erwarten,  dass  von  dieser  Seite  her  Brände  hereingeworfen  würden, 
gegen  die  man  machtlos  gewesen  wäre ;  im  Süden  schloss  sich  ein 
Gewinkel  chinesischer  Häuser  an,  deren  Bewohner  erwiesenermassen 
boxerisch  gesinnt  waren  und  die  ihren  Freunden  nur  zu  gerne 
behilflich  gewesen,  uns  auszuräuchern,  während  unsere  Aufmerk- 
samkeit durch  das  Gefecht  gebunden.  Im  Westen  konnte  sich,  nur 
durch  Strassenbreite  von  uns  getrennt,  der  Gegner  unbehelligt  in 
dem  hoch  ummauerten  Raum  des  Prinzengrabes  festsetzen  und  uns 
beschiessen.  In  das  Häusergewirr  südlich  von  uns  war  gar  kein 
Einblick  möglich,  ebensowenig  in  den  Raum  hinter  der  Mauer  an 
der  Westseite  der  Customsstrasse. 

Uns  im  Vorhinein  durch  Zerstörung  des  prinzlichen  Fu  im 
Osten  und  der  chinesischen  Häuser  im  Süden  etwas  freieren  Aus- 
blick wenigstens  nach  zwei  Seiten  hin  zu  schaffen,  ging  ebenfalls 
nicht  an,  denn  erstens  durften  wir,  solange  keine  offenen  Feind- 
seligkeiten bestanden,  doch  nicht  selbst  Boxer  spielen  und  dort 
Feuer  legen  und  zweitens  hätten  wir,  abgesehen  von  der  eminenten 
Gefahr,  dass  die  Brände  auf  die  Legationsgebäude  überspringen 
würden,  damit  nicht  unser  Ziel  erreicht,  denn  die  überbleibenden 
Mauern  niederzureissen,  fehlte  uns  die  Handkraft  —  die  um  Hab 
und  Gut  gekommenen  Nachbarn  hätten  gewiss  nicht  mitgeholA»«- 
Die  Bauart  der  drei  Haupthäuser  mit  ihren  luftigen  Bc' 


211 

war  auch  die  denkbar  ungeeigcnetste  und  hätten  wir  Tausende  und 
Tausende  von  Erdsäcken  haben  müssen,  um  sie  nur  gewehrschuss- 
sicher zu  machen  —  von  Geschützfeuer,  mit  dem  wir  doch  unbe- 
dingt rechnen  mussten,  überhaupt  zu  schweigen.  Dazu  kam  noch, 
dass  ausser  unserer  durch  den  verschärften  Wachdienst  ohnedies 
überanstrengten  Mannschaft  gar  keine  Arbeitskräfte  und  überdies 
auch  nur  Werkzeuge  in  absolut  ungenügender  Art  und  Zahl  —  je 
eine  Haue  und  Schaufel  des  Gärtners,  eine  grössere  und  eine 
kleinere  Hacke,  Hammer,  Zange  etc.  nur  aus  dem  Haushalte  von 
Frau  von  Rosthorn,  ein  paar  Schraubenzieher  für  unsere  Gewehre 
—  zur  Verfügung  standen  und  last  not  least  die  Brunnen  in  der 
Gesandtschaft  nur  sehr  wenig  und  noch  dazu  nicht  trinkbares 
Wasser  enthielten. 

Während  also  einerseits  unüberwindliche  materielle  Verhält- 
nisse die  Versetzung  der  Gesandtschaft  in  vertheidigungsfahigen  Zu- 
stand verwehrten,  drängte  sich  die  Frage  auf,  ob  es  möglich  sein  werde, 
mit  den  übrigen  Gesandtschaften  in  Verbindung  zu  bleiben  —  und 
hier  lag  die  grösste  Schwierigkeit.  Einmal  auf  den  Raum  innerhalb 
der  Umfassungsmauern  beschränkt,  konnten  wir  jeden  Augenblick 
unbemerkt  abgeschnitten  werden  und  wären  dann  gezwungen 
gewesen,  uns  den  Weg  zu  den  nächsten  Fremden,  d.  i.  ins  ZoU- 
inspectorat  oder,  weil  dieses  vermuthlich  auch  nicht  mehr  gehalten 
sein  würde,  in  die  französische  Gesandtschaft  zu  erkämpfen  —  auf 
einer  geraden,  offenen  Strasse  wieder  von  allen  vier  Quadranten 
beschossen  und  angegriffen.  Schon  die  Wasser-,  in  zweiter  Linie 
auch  die  Proviantfrage  hätte  aber  binnen  Kurzem  den  Rückzug 
unvermeidlich  gemacht,  ob  er  dann  überhaupt  noch  möglich  gewesen 
ohne  Unterstützung  unserer  Nachbarn,  die  dann  wahrscheinlich  selbst 
auch  sehr  bedrängt  waren,  konnte  Niemand  wagen  guten  Gewissens 
zu  bejahen;  im  Gegentheile  war  vorauszusehen,  dass  die  Räumung 
der  Legation  während  eines  im  Gange  befindlichen  Gefechtes  oder 
auch  nur  nach  einigen  Tagen,  w-ährend  deren  sich  unsere  Gegner 
unbehelligt  in  unserem  Rücken  festsetzen  konnten,  mit  der  Auf- 
reibung der  Handvoll  Leute  enden  müsse. 

Dann  wäre  aber  das  Opfer  an  Menschenleben  umsonst  gebracht 
gewesen;  die  Legationsgebäude  waren  einfach  nicht  haltbar  und  das 
Interesse  der  Allgemeinheit  konnte  gefördert  werden,  wenn  ihre 
Besatzung  noch  rechtzeitig  jene  des  enger  zusammenhängenden 
Haupttheiles  des  Fremdenviertels  verstärkte.  Die  zu  vertheidigende 
Linie  wurde  dadurch  um  ein  Erhebliches  kürzer,  während  anderer- 
seits die  Situation  der  aufgegebenen  Gesandtschaft  den  Chinesen 
in  den  folgenden  Kämpfen  keinen  offensiven  Werth  darbot. 

14* 


216 

dass  derlei  doch  nur  mehr  ein  ganz  gewöhnliches  bedeutungsloses 
Vorkommniss  sei. 

Die  Nacht  und  der  ganze  folgende  Tag,  18.  Juni,  wurden 
durch  keinerlei  Rencontres  gestört  —  aber  auch  von  dem  mythischen 
russischen  Entsatz  kam  kein  Lebenszeichen.  Wie  der  Director  der 
chinesischen  Bank  mittheilte,  hatten  ihm  eingeborene  Confidenten 
aus  Tientsin  berichtet,  dass  auch  dort  bereits  schwere  Unruhen 
ausgebrochen  seien  —  >wenn  ich  die  Botschaft  recht  verstanden 
habe«,  schloss  Mr.  Houston  seine  nur  für  den  männlichen  Theil 
der  Fremdengemeinde  berechneten  Mittheilungen,  »so  geht's  dort 
noch  viel  ärger  zu  als  hier  in  Peking«. 

Das  Ereigniss  des  Tages  war  der  neuerliche,  im  kaiserlichen 
Auftrage  erfolgte  Besuch  dreier  chinesischer  Minister  und  eines 
weiteren  hohen,  im  Rufe  der  Beliebtheit  bei  Hofe  stehenden 
Beamten  beim  englischen  Gesandten,  mit  dem,  obgleich  er  nicht 
Doyen  des  diplomatischen  Corps  war  —  diese  Würde  trug  der 
spanische  Gesandte  Don  Bernardo  de  Cologan  —  die  Chinesen 
doch  gegenwärtig  am  meisten  verkehrten,  weil  der  von  Vice-Admiral 
Seymour  befehligte  Entsatz  ihrer  Meinung  nach  hauptsächlich  aus 
Engländern  bestand. 

Unter  vielen  Betheuerungen  des  Bedauerns  über  die  Ruhe- 
störungen in  Peking,  die  von  nun  an  jedoch  gewiss  verhindert 
werden  würden,  erkundigten  sie  sich  angelegentlich  nach  der  wirk- 
lichen Stärke  der  Colonne  Seymour,  wo  sie  augenblicklich  stehe, 
und  sprachen  wieder  den  Wunsch  aus,  man  möge  die  fremden 
Truppen  zur  Beruhigung  des  V'olkes  doch  nicht  weiter  als  Huang- 
Tsun,  etwa  18  Kilometer  von  Peking,  kommen  lassen.  Sir  Claude 
konnte  seinerseits  nur  schon  öfter  Gesagtes  wiederholen:  »Die 
Truppen  seien  nicht  in  feindlicher  Absicht,  sondern  nur  um  die 
Regierung  im  Schutze  der  Fremden  und  in  der  Unterdrückung 
der  aufrührerischen  Unruhestifter  zu  unterstützen,  gegen  Peking 
entsendet  worden.«  Als  hierauf  ganz  natürlich  die  Sprache  auf 
den  Widerstand  kam,  den  die  Expedition  durch  die  Boxer  erfahren 
hatte,  baten  die]  Chinesen,  dies  doch  nicht  der  Regierung  zur 
Last  legen  zu  wollen  —  die  Antwort,  dass  man  letzteres  gewiss 
nicht  thun  werde,  solange  sich  reguläre  Truppen  von  den  Feind- 
seligkeiten ferne  hielten,  zwang  den  Sendungen  des  Hofes  die 
vorsichtige  Einwendung  ab,  dass  man  doch  bedenken  möge,  wie 
schwer  es  den  commandirenden  Officieren  sei,  das  Ueberlaufen 
einzelner  Soldaten  zu  den  Boxern  zu  verhindern!  Fast  zur 
selben  Stunde  kämpften  solche  einzelne  Ceberläufer  —  einige 
Tausend  stark  —  bei  Langfang  gegen  die  Fremden! 


217 

Die  Ansicht  Sir  Claude's,  dass  die  Gewalthaber  den  Vertretern 
der  Friedenspartei  im  Tsungli-Yamen  das  harmlose  Verg^nügen 
überliessen,  mit  den  Fremden  noch  zu  verhandeln,  während  die 
Dinge  schon  ihren  >richtigen«  Lauf  genommen,  ist  jedenfalls  nicht 
anfechtbar. 

An  diesem  Tage  hatten  wir  zum  erstenmale  erfahren,  wie 
Peking  bei  Regen  aussehen  kann,  bald  standen  auf  den  Wegen 
und  im  Garten  tiefe  Pfützen,  die  Strassengräben  drohten  überzu- 
laufen, kurz  ein  desperates  Bild.  Die  empfindlich  kühle  Nacht  ver- 
lief ganz  ruhig,  nur  hatten  wir  am  Morgen  des  19.  Juni  den  Ver- 
druss,  constatiren  zu  müssen,  dass  bis  auf  zwei  alle  übrigen 
chinesischen  Diener,  und  was  am  schmerzlichsten,  auch  unter  Mit- 
nahme der  kostbaren,  für  den  Gebrauch  vor  dem  Wagen  unent- 
behrlichen Maulthiere  verschwunden  waren.  Da  der  Gärtner,  ein 
höchst  intelligenter  und  beherzter  Japaner,  ebenfalls  schon  acht 
Tage  vorher  von  seiner  Gesandtschaft  als  Freiwilliger  reclamirt 
worden  war,  blieben  wir  fortan  sozusagen  auf  uns  allein  ange- 
wiesen, ein  Ersatz  für  die  Flüchtlinge  war  nicht  für  schweres  Geld 
aufzutreiben  —  die  Ratten  hatten  das  sinkende  Schiff  verlassen! 
Bisher  war  man  nicht  sehr  erstaunt,  noch  weniger  aber  beunruhigt 
gewesen,  dass  auch  so  manche  chinesische  Familie  ihren  Wohnsitz 
innerhalb  des  Legations  vierteis  verlassen  hatte  und  weggezogen 
war,  dies  ging  ja  Alles  auf  Rechnung  ihrer  Furcht ;  nur  in  einem 
Falle  beklagte  man  einen  Abgang  dieser  Art:  Hsü-tung,  Erzieher 
des  Kronprinzen  Pu-tschun  und  einer  der  einflussreichsten  und 
thätigsten  Beschützer  der  Boxer,  war,  angeblich  durch  einen  Passir- 
schein der  französischen  Gesandtschaft  gedeckt,  in  einen  anderen 
Stadttheil  gezogen  und  dadurch  ein  unter  Umständen  werthvoller 
Geisel  den  Händen  der  Fremden  entschlüpft. 

Der  geschäftliche  Verkehr  in  unserem  Bereiche   hatte  natür- 
lich langsam  aufgehört  und  dadurch  war  es   auch  nicht  leicht  ge- 
wesen,   einen    genügenden  Vorrath    an  Lebensmitteln    —    die    von 
Bord  der  »Zenta«  mitgebrachten  Conserven  nicht  gerechnet  —  für 
Wenigstens  14  Tage  aufzustapeln.    Von  Tientsin  kam  am  19.  Juni 
noch  ein  Courier  herauf,  der  berichtete,  von  Boxern  überfallen  und 
seiner   mitgeführten   Briefschaften    beraubt    worden    zu    sein,  und 
Weiter  aussagte,    die  Colonne  Seymour  könne,    von  vorne    und  im 
R-ücken    eingeschlossen,    in    dem   ganz    von  Boxern   beherrschten 
-Lande  nicht  mehr  vorwärts;  diese  schlimmen  Nachrichten  wurden 
jedoch  dflf  Allgemeinheit  einstweilen  vorenthalten. 

Wiewohl  durch  die    letzten  16  Tage  schon   genügend  vorbe- 
ireitet, sich  nichts  Guten  zu  versehen,  glaubten  aber  doch  die  Ge- 


218 

sandten  ihren  Augen  nicht  trauen  zu  dürfen,  als  sie  nachmittags 
vom  Tsungli-Yamen  identische,  vom  19.  Juni,  4  Uhr  nachmittags 
datirte  Noten  nachstehenden  Inhaltes  empfingen:  »Die  Admirale 
haben  durch  den  Doyen  des  Consular- Corps  in  Tientsin  am  18.  Juni 
vom  Vicekönig  die  Uebergabe  der  Taku-Forts  verlangt  und  mit 
Gewaltanwendung  gedroht ;  die  chinesische  Regierung  erblickt 
hierin  einen  casus  belli*)  und  demgemäss  werden  die  Gesandten 
aufgefordert,  Peking  binnen  24  Stunden  unter  chinesischer  Escorte 
zu  verlassen.« 

Es  war  also  bitterer  Ernst  und  eingetreten,  was  kein  Mensch 
bisher  für  denkbar  gehalten  hatte ;  die  chinesische  Regierung  warf 
in  ihrer  selbstüberschätzenden  Verblendung  ganz  Europa,  den  Ver- 
einigten Staaten  und  Japan  den  Fehdehandschuh  hin! 

In  den  ersten  Augenblicken  machten  die  Gesandten  kein  Hehl 
daraus,  dass  sie  den  entschiedenen  Schritt  der  Admirale  als  vor- 
eilig verurtheilten ;  bei  ihrer  Unkenntniss,  wie  nahe  die  gänzliche 
Unterbindung  jeden  Verkehres  zwischen  der  See  und  dem  Inneren 
gewesen,  ist  diese  Wallung  nur  zu  erklärlich! 

In  einer  improvisirten  Conferenz  der  Minister  wurde  der 
Abzug  nach  Tientsin  über  Tungtschan  beschlossen,  trotzdem  man 
sich  der  beinahe  unüberwindlichen  Schwierigkeiten,  innerhalb  der 
gewährten  Frist  die  Transportmittel  für  die  ganze  Fremden- 
gemeinde, d.  i.  über  900  Personen,  wovon  mehr  als  200  Frauen 
und  Kinder,  aufzutreiben,  wohl  bewusst  war;  die  Stimmen,  welche 
sich  gegen  die  Vertrauenswürdigkeit  der  versprochenen  chinesi- 
schen Escorte  erhoben,  drangen  einstweilen  noch  nicht  durch. 

Dr.  von  Rosthorn  theilte  uns  diesen  ßeschluss  mit  und  demzu- 
folge begannen  die  Vorbereitungen  für  die  Reise,  die  mangels 
anderer  Beförderungsmittel  zu  Fuss  zu  bew^erkstelligen  war;  er 
selbst  war  jedoch  ebensowenig  wie  die  meisten  Militärs,  die  aber 
nicht  gefragt  wurden,  für  den  Abzug  und  unternahm  noch  spät 
abends  bei  den  Gesandten  Englands  und  Russlands  Schritte,  um 
eine  gemeinsame  Action  des  ganzen  diplomatischen  Corps  ein- 
zuleiten. 

Vielleicht  Hess  sich  noch  Zeit  und  damit  Vieles  gewinnen,  wenn 
man  der  chinesischen  Regierung  vorstellte,  dass  die  Aufforderung 
zur  Uebergabe  der  Taku-Forts  —  ihre  seitherige  Einnahme  durch 
die  Fremden  glaubte  man  annehmen  zu  können  —  ganz  ohne  Vor- 
wissen der  diplomatischen  Vertreter  erfolgt  sei,  und  auf  die  Mög- 

*)  Nach  anderer  Ucbersetzung:  Die  Kriegserklärung.  Das  Datunf  der  Uebcr- 
reichung  der  Forderung  haben  die  Chinesen  jedenfalls  absichtlich  um  iwei  Tage  tpiter 
angesetzt,  als  sie  thatsächlich  erfolgte. 


219 

lichkeit  hinwies,  sobald  eine  Verständigung  zwischen  Gesandten 
und  Admiralen  wieder  hergestellt  sein  werde,  unter  gewissen  Be- 
dingungen zu  einem  Arrangement  zu  kommen.  v.Rosthorn  vermochte 
die  zarten  Bedenken  des  russischen  Ministers  gegen  einen  solchen 
Handel  nicht  zu  beseitigen,  weshalb  auch  Sir  Claude  Macdonald  seine 
bereits  gegebene  Zustimmung  zurückzog,  und  kehrte  gegen  1 1  Uhr 
nachts  von  seinen  erfolglosen  Gängen  zurück ;  die  Minister  sendeten 
aber  dessenungeachtet  und  ohne  Vorwissen  des  österreichisch- 
ungarischen Geschäftsträgers  noch  in  der  Nacht  eine  vom  Doyen 
unterfertigte  Note  an  das  Tsungli-Yamen.  In  dieser  wurde  zwar 
der  Entschluss,  Peking  zu  verlassen,  mitgetheilt,  gleichzeitig  jedoch 
auf  die  Unmöglichkeit  hingewiesen,  die  Abreise  binnen  24  Stunden 
ohne  Beihilfe  der  chinesischen  Regierung  zu  organisiren,  nach  den 
Massnahmen  (der  Chinesen)  gefragt,  welche  zum  Schutze  der  Ab- 
ziehenden getroffen  würden,  und  endlich  verlangt,  dass  man  die 
auf  dem  Wege  gegen  Peking  befindlichen  Detachements  (Seymour's 
Colonne)  vom  bevorstehenden  Abzug  der  Fremden  verständige, 
damit  sie  sich  mit  den  Ministern  vereinigen  können.  Den  Schluss 
bildete  das  Ansuchen  um  eine  Zusammenkunft  mit  den  Prinzen 
des  Yamens  um  9  Uhr  vormittags  des  20.  Juni  behufs  mündlicher 
Verhandlung  aller  dieser  Fragen. 

Der  Morgen  letzteren  Tages  brach  an,  ohne  dass  vom  Yamen 
irgend  eine  Antwort  eingetroffen  wäre  —  an  und  für  sich  ein  sehr 
grober  Verstoss  gegen  die  gewöhnlichste  Courtoisie  im  Verkehre  — 
das  in  der  französischen  Gesandtschaft  versammelte  diplomatische 
Corps  sandte  daher  um  7  Uhr  morgens  eine  zweite  Depesche  an 
das  Tsungli-Yamen,  in  der  das  Verlangen  gestellt  wurde,  den  Ge- 
sandten eine  Verständigung  mit  den  Admiralen  zu  ermöglichen. 
Als  Zweck  dieser  Verständigung  wurde  angegeben,  die  Admirale 
wissen  zu  lassen,  dass  nach  Ansicht  des  diplomatischen  Corps  die 
Ankunft  der  erwarteten  Verstärkungen  der  Legationswachen  die 
Sicherheit  der  Fremden  in  Peking  genügend  verbürge  und  somit 
die  Taku-Forts  zurückgegeben  werden  könnten.*) 

Da  das  Yamen  noch  immer  keine  Antwort  gab,  erschien  es 
jedoch  mehr  als  zweifelhaft,  ob  die  Prinzen  um  9  Uhr  die  fremden 
Minister  empfangen  würden ;  der  deutsche  Gesandte  erklärte,  sich 
mit  seinem  Dolmetsch,  Herrn  Cordes,  dorthin  begeben  zu  wollen, 


*)  Officicller  Bericht  des  französischen  Gesandten  ddo.  Peking,  28.  August  1900. 
In  der  Darstellung    Sir  Claude  Macdonald's   geschieht  dieses  Briefes    keiner  Erwähnung, 
man  sieht   jedoch  aus  dem  Rapport  M.  Pichon's,   dass  die  Idee  Rosthom's  doch  durch- 
gegriffen hat.     von  Rosthom  erwähnt  diese    rweite  Note  nicht  eigons,  weil  er  erst  nach 
,  ihrer  Abtendang,  nm  8  Uhr,  Kenntniss  von  dem  Meeting  erhielt  und  hinging. 


220 

da  er  seinen  Besuch  in  einer  eigenen  Angelegenheit  zu  dieser 
Stunde  angesagt  habe,  und  bestand  ungeachtet  der  Vorstellungen 
seiner  Collegen,  namentlich  M.  Pichon's,  die  ihn  auf  die  sichtliche 
Gefahr,  über  unsere  Linien  hinauszugehen,  aufmerksam  machten, 
auf  der  Ausführung  seines  Vorhabens.  Bei  der  Gelegenheit  wollte 
er  auch  eine  Auskunft  wegen  des  Empfanges  des  gesammten 
diplomatischen  Corps  einholen. 

Ungefähr  um  8%  Uhr  passirten  Baron  Ketteier  und  Herr 
Cordes  in  ihren  Sänften  die  Barricade  bei  der  österreichisch-unga- 
rischen Gesandtschaft,  ersterer  schickte  fünf  Seesoldaten,  die  er 
als  Escorte  mitgenommen,  von  dort  zurück  und  setzte  seinen  Weg, 
nur  von  zwei  Mafus  begleitet,  fort.  Kurze  Zeit  darauf  kam  einer 
der  letzteren  im  Galopp  zurück  und  berichtete  ganz  verstört,  der 
Minister  sei  am  Hatamen-Boulevard  durch  chinesische  Soldaten  er- 
schossen, der  Dolmetsch  schwer  verwundet  worden! 

Herr  von  Rosthorn  eilte  mit  dieser  Unglücksbotschaft  in  die 
französische  Legation  zurück,  wo  noch  die  meisten  Gesandten  ver- 
sammelt waren.  Der  deutsche  Detachement-Commandant  Ober- 
lieutenant Graf  Soden  brach  allsogleich  mit  20  Mann  nach  der 
Stätte  auf,  wo  das  abscheuliche  Attentat  vorgefallen,  musste  sich 
aber,  von  allen  Seiten  angeschossen  und  da  die  Sänfte  mit  Baron 
Ketteier  an  dem  vom  Mafu  bezeichneten  Punkte  nicht  mehr  zu 
sehen  war,  wieder  unverrichteter  Dinge  zurückziehen. 

Herr  Cordes  war  inzwischen  schwer  verwundet  in  der  ameri- 
kanischen Mission  zunächst  dem  Hatamen  angelangt  und  gab,  als 
er  nach  einer  schweren  Ohnmacht  wieder  zu  sich  gekommen  und 
in  die  deutsche  Gesandtschaft  transportirt  worden  war,  folgende, 
nur  auszugsweise  wiederholte,  die  ganze  Niedertracht  des  An- 
schlages immerhin  aber  kennzeichnende  Darstellung.  »Wir  hatten 
eben  den  Hatamen-Boulevard  erreicht,  als  aus  einem  kleinen  Polizei- 
haus ein  Mandschu-Soldat  von  rückwärts  an  die  erste  Sänfte  heran- 
trat und  unmittelbar  darauf  durch  deren  Seitenfenster  einen  Schuss 
abgab;  entsetzt  hatten  meine  Kulis  die  mich  bergende  Sänfte  zu 
Boden  gestellt  und  war  ich  aufgesprungen,  als  ein  zweiter  Schuss 
mich  in  die  Hüften  traf.  Obwohl  stark  blutend,  lief  ich,  von  Ge- 
wehrschüssen verfolgt,  durch  die  nächste  Gasse,  hinter  mir  zwei 
mit  Lanzen  Bewaffnete  her;  fast  am  Ende  meiner  Kräfte,  sah  ich 
mich  um  und  erhob  dabei  einen  mir  in  der  Hand  gebliebenen 
Theil  des  Sänften  verschlusses,  was  meinen  Verfolgern  genügfte, 
um  von  mir  abzustehen.  Bald  darauf  fiel  ich,  der  Bewusstlosigkeit 
nahe,  an  der  vSchwelle  einer  der  amerikanischen  Missionen  nieder» 
Freiherr  von  Ketteier  muss  in  den  Kopf  getroffen  worden  und  auo» 


blicklich  todt  gewesen  sein,  denn  ich  habe  weder  einen  Laut  von 
ihm  ßfehört.  noch  eine  Bewegung  wahrgenommen.* 

Aus  der  Erzählung  des  nur  mit  so  knapper  Noth  dem  Tode 
Entronnenen  ging  klar  hervor,  dass  der  Ueberfall  durchaus  nicht 
das  Werk  eines  auf  eigene  Faust  handelnden  Soldaten,  auch  nicht 
ein  Act  von  Boxern  gewesen,  sondern  jedenfalls  auf  höhere  Ver- 
anlassung als  ein  verächtlicher  Mord  in  Scene  gesetzt  worden  war. 

Die  Gesandten,  welche  eben  eine  neuerliche  Note,  die  dritte 
seit  Empfang  der  Aufforderung,  Peking  zu  verlassen,  redigirt 
hatten,  waren  durch  die  Hiobsbotschaft  ganz  consternirt  und 
schickten,  noch  bevor  sie  Herrn  Cordes'  Aussage  kannten,  in  der 
allerdings  sehr  schwachen  Hoffnung,  dass  ihr  College  vielleicht 
doch  noch  am  Leben  sei,  eine  schriftliche  Anfrage  nach  dem  Ver- 
bleib des  deutschen  Ministers  an  das  TsungU-Yamen  ab. 

Den  deprimirenden  Eindruck  des  neuesten  Ereignisses  auszu- 
malen, würde  schwer  fallen;  welcjie  Aussichten  eröffneten  sich  aber 
für  unsere  bevorstehende  Reise  nach  Tienlsin.  durch  ein  in  wildem 
Aufruhr  gegen  alle  Fremden  befindliches  Land,  dessen  Regierung 
vor  nichts  mehr,  auch  nicht  vor  dem  infamsten  Bruch  des  Völker- 
rechtes zurückschreckte!  Wenn  schon  in  der  Hauptstadt  dieses  auf 
seine  Jahrtausende  alte  Culiur  pochenden  Reiches  nicht  einmal 
mehr  der  Vertreter  eines  der  mächtigsten  Herrscher  vor  hinter- 
listigem Meuchelmord  sicher  war.  was  sollten  erst  wir  von  der 
angekündigten  Escorte  erwarten?  Wir  machten  uns  gegenseitig 
kein  Hehl  aus  unseren  düsteren  Vorahnungen  und  waren  darauf 
gefasst.  draussen  im  freien  Felde  einen  letzten  Verzweiflung.'i- 
kampf  auszufechten.  der  nur  mit  unserem  Untergang,  aber  wenig- 
sten.s  mit  den  Waffen  in  der  Hand,  enden  konnte. 

Unsere  Vorbereitungen  wären  einfach  genug  gewesen:  Pro- 
viant und  Munition  auf  ein  paar  Karren  verladen,  alles  Uebrige 
musste  preisgegeben  werden,  aber  da  fehlten  uns  eben  die  Maul- 
thiere!  Nach  vielen  fruchtlosen  Versuchen  gelang  es  endlich,  ein 
Maulthier  für  einen  unserer  Wagen  und  einen  zweiten  bespannten 
Karren  aufzutreiben;  beides  verdankten  wir  dem  Zuvorkommen 
des*  Attaches  der  belgischen  Gesandtschaft  Herrn  Merghelinck. 

Noch  bevor  die  Transportmittel  zugesichert  waren,  liess  Fre- 
galten-Capitän  von  Thomann  die  Leben.smittel  für  den  achttägigen 
Marsch  —  solange  würde  man  mit  der  ganzen  Colonne  wohl  bis 
Tientsin  brauchen  —  in  die  französische  Gesandtschaft  schaffen; 
Jedermann  rausste  das  Mitzunehmende  aufs  Aeusserste  beschränken, 
waa  man  eben  selbst  tragen  konnte.  Einige  Sorge  bereitete  auch 
\  schwache  Handwagen  unserer  Mitrailleuse.    die  natürlich  mit- 


224 

gestehen,  werde  auch  den  Fremden  Schutz  angedeihen 
lassen.  Die  Gesandten  mögen  nicht  selbst  ins  Yamen 
kommen,  weil  der  Weg  dahin  nicht  sicher,  aber  sich  schrift- 
lich eingehend  über  die  Absichten  ihrer  respectiven 
Regierungen  äussern,  von  denen  man  sich  chinesischer- 
seits  im  Voraus  schmeichle,  dass  sie  friedliche  seien.  Der 
Wortlaut  des  Schriftstückes  machte  zweifellos  einen  guten  Ein- 
druck. 

Nachdem  M.  Pichon,  sich  auf  die  Ansicht  Sir  Robertos  stützend, 
den  unverhofften  günstigen  Umschwung  der  Dinge  auseinander- 
gesetzt, fügte  er  hinzu,  dass  man  nun  umso  eher  beruhigt  in 
Peking  bleiben  und  die  weitere  Entwicklung  abwarten 
werde!  Umso  eher?  Ja,  war  denn  nicht  der  Exodus  be- 
schlossen worden? 

Zu  dieser  vorgeschrittenen  Stunde  erst  erfuhren  wir, 
die  bis  zum  letzten  Augenblick  unsere  Pflicht  als  äusserster  isolirter 
Vorposten  erfüllt  hatten,  dass  sich  die  Gesandten  nach  dem 
Abgang  vonDr.  vonRosthorn  aus  der  französischen  Gesandt- 
schaft anders  besonnen  und  die  Entscheidung  getroffen 
hatten,  lieber  in  Peking  zu  bleiben,  als  sich  der  offenen 
Gefahr  eines  Massacres  unterwegs  auszusetzen! 

Kein  Mensch  hatte  unserer  gedacht,  so  sehr  war  Jedermann 
von  seinen  eigenen  Sorgen  erfüllt  gewesen,  so  selbstverständlich 
erschien  allen  Eingeweihten  der  neue  Entschluss! 

Als  sich  endlich  dieses  in  mancher  Beziehung  so  fatale  — 
Missverständniss  —  wir  wollen  deshalb  gegen  Niemanden  Steine 
werfen  —  gelöst  hatte,  kehrten  wir  sogleich  in  die  kaum  verlassene 
Gesandtschaft  zurück. 

vonThomann's  erster  Befehl  war,  auf  den  Gartenmauern  nur  die 
nothwendigsten  Posten  aufzustellen  und  alle  disponiblen  Hände 
zum  Wiederaufbaue  unserer  Barricade  zu  verwenden  —  ein  Theil 
der  Leute  war  mit  der  schwer  fortzubringenden  Mitrailleuse  und 
den  Karren,  die  bei  der  französischen  Barricade  nicht  so  leicht 
durchkommen  konnten,  zurückgeblieben. 

Kaum  wurden  jedoch  die  ersten  Ziegel  wieder  geschichtet, 
so  prasselte  aus  dem  oberen  Stadtviertel  jenseits  der  Tschanganstrasse 
ein  Hagel  von  Geschossen  auf  uns  nieder,  die  wir  ganz  deckungs- 
los auf  der  Strasse  standen!  Nur  zu  gut  erkannten  wir  die  aus 
Oesterreich  importirten  Gewehre  an  ihrem  scharfen  Knall,  aus  allen 
Häusern,  vorne  und  von  weiter  seitwärts,  also  auf  30 — 100  Schritt 
Entfernung,  schössen  die  wohlverborgenen  Soldaten  Tung-Fiihsiang''8 
—  wie  mir   scheint,  hatte   der  Reigen-  noch   einige  Minuten  • 


225 

4  Uhr  begonnen.  Das  chinesische  Militär  war  zu  offener  Feind- 
seligkeit übergegangen. 

Da  gab's  keine  Zeit  zu  verlieren  und  so  wurde,  das  Feuer 
erwidernd,  der  für  diesen  Fall  beschlossene  Rückzug  angetreten;*) 
als  wir  endlich  die  französische  Barricade  erreicht  hatten,  konnte  von 
dort  aus  sogleich  die  Antwort  auf  den  Ueberfall  beginnen.  Matrose 
Petrovac,  einer  der  Posten  auf  der  Umfassungsmauer,  fehlte  — 
kam  jedoch  unmittelbar,  nachdem  sein  Abgang  erhoben  worden, 
mit  einem  Weichschusse  durch  beide  Oberschenkel  an  und  wurde 
als  erster  Verwundeter  den  sachkundigen  Händen  des  Arztes  in 
der  französischen  Legation,  M^decin  Major  Dr.  Jean  Matignon, 
übergeben. 

Das  Ehepaar  von  Rosthorn  war  auf  dem  Weg  durch  den  Stall- 
tract  und  dann  auch  durch  die  Customsstrasse  glücklich  aus  dem 
Kugelregen  zurückgekehrt  —  die  Freude,  wieder  auf  unserem  Grund 
und  Boden  zu  stehen,  hatte  nicht  fünf  Minuten  gedauert! 

So  also  sah  der  eben  wieder  angekündigte  Schutz  durch 
die  chinesische  Regierung  aus?  Gut  denn,  dass  wir  es  wussten, 
von  jetzt  an  standen  wir  im  Krieg,  allerdings  in  einem  fast  aus- 
sichtslosen, aber  dafür  waren  auch  alle  Rücksichten  bei  Seite  zu 
werfen,  und  wenn  den  Chinesen  daran  lag,  uns  Fremde  sammt  und 
sonders  auszurotten,  so  sollten  sie  sich's  ein  Stück  Arbeit  kosten 
lassen! 

*)  Viele  bisherige  fremdländische  Berichte,  voran  wieder  der  famose  aus  Dr.  Morrison's 
Feder  und  ein  von  Sir  Claude  Macdonald  in  seiner  Eigenschaft  als  »Obercommandant« 
der  Vertheidigung  an  den  Marquis  Lansdowne  gerichteter  Rapport  vom  24.  December 
1900  ignoriren  das  Factum  gänzlich,  dass  das  österreichisch-ungarische  Detachement 
▼on  dem  Beschlüsse,  in  Peking  zu  bleiben,  erst  erfuhr,  nachdem  es  die  Legation  ver- 
lassen und  seine  eigene  Barricade  zerstört  hatte,  und  kommen  auf  dieser  Basis  zu  ganz 
falschen  Schlüssen.  Wie  frivol  aber  speciell  der  zweite,  auch  dem  englischen  Parlamente 
▼orgelegtc  Bericht  verfasst  wurde,  zeigt  Folgendes:  Sir  Claude  schildert  —  ausfuhrlich  in 
seinem  Sinne  —  die  Ereignisse  am  20.  Juni  nachmittags  und  schreibt  unter  dem  21.  Juni 
wörtlich  Nachstehendes:  »Die  österreichisch-ungarische  Gesandtschaft  wurde  stark  ange- 
griffen: ein  französischer  Seesoldat  (!)  wurde  getödtet  und  ein  Oesterreicher  verwundet 
hinter  der  österreichischen  Barricade;  dies  führte  zum  Rückzug  der  Oesterreicher 
auf  die  französische  Legation,  wodurch  die  ganze  Ostseite  des  grossen  Blocks  der  Zoll- 
gebäade  preisgegeben  wurde,  die  bis  dahin  durch  Freiwillige  des  Seezolldienstes  gehalten 
worden  waren.«  Datum,  Bestand  der  Barricade,  der  Umstand,  dass  auch  noch  Franzosen  an 
der  Vertheidigung  dieser  nicht  mehr  bestandenen  Barricade  theilgenommen  haben,  Ursache 
des  Rückzuges  der  Oesterreicher-Ungarn,  endlich,  dass  das  Finanzinspectorat  noch  besetzt 
gewesen,  das  Alles  ist  absolut  unrichtig.  Es  muss  dem  Leser  überlassen  bleiben,  sich 
daraus  ein  Bild  zu  machen,  welcher  Werth  solchen  o  f  f  ic  i  eilen  Berichten  zukommt.  Kann 
es  da  noch  wnndemehmen,  wenn  Mitkämpfer  aus  dem  englischen  Lager  —  d.  h.  solche 
▼eiBchiedener  Nationen,  die  in  der  englischen  Gesandtschaft  ihr  Wissen  sammelten  —  in 
ihren  »Selbtterlebten«  eine  noch  kühnere  Phantasie  entwickeln  ? 

UlBlwkalder:  Kämpfe  in  China.  15 


Nun  waren  wir  in  Peking  hcimatslos;  das  österreichisch- 
ungarische  Detachement  zog'  als  Verstärkung  der  franzosischen 
Garnison,  freudig  begrüsst,  in  diese  Gesandtschaft  ein  und  nahm 
gleich  an  dem  Feuergefecht  von  der  Barricade  aus  iheil.  Dr.  von 
Rosthorn  trat  als  Freiwilliger  der  Besatzung  bei.  nur  Frau  von  Rost- 
horn  musste  dem  allgemeinen  Beschlüsse  Rechnung  tragen  un< 
ebenso  wie  alle  übrigen  Frauen  vorderhand  in  die  englische  G<^ 
sandtschafl  übersiedeln. 

Dort  fanden  sich  alle  Minister,  bis  auf  den  italienischetii 
Marchesc  Salvago  Raggi.  und  tiie  beiden  Geschäftsträger  von 
Deutschland  und  Oesterreich-Ungarn.  die  gesammten  Zollbeamten, 
nichtkatholischen  Missionäre,  die  fremden  Professoren  der  chinesi- 
schen Universität,  dia 
wenigen  Angestellten 
der  beiden  Banken  und 
Kaufleute  mit  ihren 
Familien  und  treuge- 
bliebenen chinesischen 
hii^nern  zusammen,  so- 
weit der  männliche 
Theil  es  nicht  vorzog, 
bei  der  Verlheidig^ung 
ili;r  respectiven  Lega.- 
tionen  mitzuwirken. 

Die  britische  Ge- 
sandtschaft eignete  sich 
vermöge  ihrer  Ausdeh- 
nung, namentlich  aber^ 
ihrer  vorth eilhaften,  relativ  geschützten  Lage  und  der  Stärke  ihrep 
Umfassungsmauern  und  Gebäude  am  besten  zu  diesem  Zwecke;  sie 
bot  von  allen  in  Frage  kommenden  Niederlassungen  einzig  wirk* 
liehen  Schutz,  so  dass  sie  als  Centrum  und  gleichzeitig  letztei 
Rückzugspunkt  erwählt  wurde. 

Dort  wurde  auch  unter  der  segensreichen  Leitung  des  deutschen 
Stabsarztes  Dr.  Carl  Velde.  dem  ausser  Erfahrungen  auf  den 
Schlachtfeldern  Thessaliens  eine  im  Laufe  eines  mehrjährigei 
Aufenthaltes  in  Peking  en.vorbcne  eingehende  Kenntniss  der  fiii 
die.sen  Ort  typischen  Verhältnisse  zu  Gebote  stand,  ein  Spita] 
eingerichtet,  das  nur  zu  bald  an  Ueberfüllung  litt:  glöcklirh^rwei' 
fehlte  es  überhaupt  nicht  an  Aer^icn.  Dr.  P'     "  ." 

Gesandtschaft.    Dr.    Lippett     vom    amerik.n 
Dr.  Coltmaii  von  der  Pekinger  Universität. 


227 

russischen  und  japanischen  Gesandtschaften,  einer  von  der  franco- 
belgischen  Bahngesellschaft,  sie  Alle  stellten  sich  zur  Verfügung 
und  fanden  an  geistlichen  und  Laien-Krankenpflegern,  letztere 
Damen  aus  den  Legationen,  und  auch  Sanitätsmannschaften  ein- 
zelner Detachements  nimmermüde  Helfer. 

Der  grösste  Theil  des  Proviantes,  das  entbehrliche  Gepäck 
und  die  Reservemunition  wurden  gleichfalls  successive  in  der  eng- 
lischen Gesandtschaft  deponirt.  Naturgemäss  brauchte  es  einige 
Zeit,  bis  das  Alles  einigermassen  in  Ordnung  kam,  und  es  ist  sicher- 
lich kein  geringes  Verdienst  des  praktischen  angelsächsischen  Sinnes, 
dass  durch  das  Zusammenwirken  von  Specialcomit^s  für  Verpflegung, 
Unterkunft,  sanitäre  Massnahmen,  Fortification,  Lösch  wesen,  Chinesen- 
departement u.  s.  w.  trotz  der  eingetretenen  Uebervölkerung  des 
kleinen  Complexes  für  das  Zusammenleben  so  verschiedener  Ele- 
mente leidliche  Verhältnisse  geschafften  wurden. 

Der  Versuchung  widerstehend,  in  weitere  Details  dieses  ganz 
eigenartigen,  manchmal  den  Vergleich  mit  einem  Jahrmarkt  her- 
vorrufenden Lagers  aller  Nationen  einzugehen,  sei  nur  im  Allge- 
meinen bemerkt,  dass  es  im  Besitz  fast  aller  materiellen  Hilfs- 
mittel stand  und  dort  auch  ein  Ueberfluss  an  relativ  unbeschäftigten 
geistigen  Mitarbeitern  herrschte. 

Von  den  Gesandtschaften  östlich  des  Canals  waren  am  20.  Juni 
nachmittags  die  italienische,  die  französische  und  die  deutsche 
besetzt;  die  japanische  und  spanische  bedurften,  durch  die  vor- 
genannten und  das  Fu  gedeckt,  keiner  Vertheidiger,  so  dass 
die  japanischen  Matrosen  und  Freiwilligen  unter  Oberstlieutenant 
Shiba  die  Zugänge  zum  Fu  und  zum  Theil  dieses  selbst  besetzen 
konnten. 

Von  den  weiteren,  im  Besitze  Fremder  befindlichen  Gebäuden, 
d.  i.  ein  japanisches  Hotel,  das  der  Firma  Jardine,  Matheson 
und  Co.  gehörige  Haus,  der  alte  Peking-Club,  die  Filiale  der  Hong- 
kong- und  Shanghai-Bank,  das  Kaufhaus  Kierulff^  und  Hotel  de 
Pekin,  war  nur  mehr  das  letztgenannte  bewohnt.  Dieses  mit  der 
französischen  Gesandtschaft  durch  zwei  Breschen  in  der  Mauer 
letzterer  direct  verbunden,  bildete  nicht  nur  durch  die  in  ihm  er- 
liegenden Vorräthe  eine  Hilfsquelle  von  grosser  Wichtigkeit,  sondern 
barg  in  seinen  Besitzern,  dem  Schweizer  August  Chamot  und  seiner 
Gattin,  einer  gebürtigen  Amerikanerin  von  ausserordentlicher  Kühn- 
heit und  Energie,  zwei  für  die  Geschicke  der  Eingeschlossenen 
providentielle  Persönlichkeiten.*)  Die  amerikanische  Mission    beim 

♦)  Um    diese    beiden  Personen,  deren  Verdienste    nicht    genug   gewürdigt  werden 
dem    Leser    vorzustellen,  brauche    ich    nur    den    Ausspruch    von    Linienschiflfs- 

15* 


223 

Hatamen,  welche  von  einem  Piket  der  Legationswache  unter  Captain 
Hall  besetzt  gewesen,  war  um  Mittag  evacuirt  worden. 

Westlich  des  Canals  waren  die  holländische  Gesandtschaft, 
die  russo-chinesische  Bank  und  das  Kaufhaus  Imbeck  schon 
geräumt  oder  noch  in  der  Räumung  begriflfen.  Die  englische, 
russische  und  amerikanische  Gesandtschaft  stellten,  durch  einige 
Strassenbarricaden  verbunden,  ein  zusammenhängendes  Ganzes  dar. 

Von  der  gänzlich  isolirten  nordlichen  Mission,  dem  Peitang, 
waren  bis  inclusive  17.  Juni  im  Allgemeinen  günstige  Nachrichten 
eingelaufen;  die  Garnison,  30  französische  Matrosen  unter  -Linien- 
schiflFs-Fähnrich  Henry  und  11  italienische  unter  Lieutenant  Olivieri, 
hatte  im  Vereine  mit  den  Missionären  und  400  mit  Lanzen  bewaff- 
neten Christen  bereits  zwei  grössere  AngriflFe  von  Boxern  erfolg- 
reich abgeschlagen. 

Dank  der  Voraussicht  des  Bischofs  Msgr.  Favier  wusste  man 
sie  mit  Lebensmitteln  auf  einige  Wochen  versorgt  —  war  es  schon 
vor  dem  19.  nicht  räthlich  erschienen,  die  Einwohnerschaft  des 
Peitang  in  das  Legationsviertel  übersiedeln  zu  machen,  so  hatten 
es  die  Ereignisse  in  den  letzten  24  Stunden  ganz  und  gar  aus- 
geschlossen ;  beklommenen  Herzens  musste  man  sich  darein  fügen, 
die  dort  Eingeschlossenen,  im  Ganzen  an  3000  Menschen,  allein 
ihrem  Schicksale  zu  überlassen. 

Bevor  wir  in  der  Erzählung  weitergehen,  dürfte  es  am  Platze 
sein,  die  Kräfte  der  Vertheidiger  —  nach  Gesandtschaften  gruppirt 
—  zu  recapituliren. 

Lieutenant  Darcy  in  seinem  Buch  »La  Defense  de  la  L^gation  de  France«  anzuführen 
und  zu  ergänzen: 

».  .  .  Chamot  wusste  Pferde,  Maulesel  und  Getreide  zusammenzubringen  in  einer 
Menge,  um  damit  alle  eingeschlossenen  Fremden  und  3000  chinesische  Christen  zwei 
Monate  lang  zu  ernähren.  Er  entdeckte  Mühlsteine  und  richtete  damit  yier  Zimmer  des 
H6tels  als  Mühlen  ein.  Wie  hat  er  das  gethan?  Das  ist  noch  für  Viele  eine  ungelöste 
Frage  und  insbesondere  für  mich.  Aber  es  ist  nicht  zu  leugnen,  dass  ohne  ihn  die 
chinesischen  Christen  noch  vor  der  Ankunft  der  Truppen  Hungers  gestorben  wären. 
Seine  wunderbare  Thätigkeit,  seltene  Intelligenz,  sein  Muth  und  Kaltblut,  seine  Energie 
Hessen  ihn  alle  Schwierigkeiten  überwinden.  Müller,  Bäcker,  Koch,  Erbauer  von  Barri- 
caden  und  Krdwerken,  Führer  der  Kulis  etc.  etc.  —  Chamot  war  das  Alles,  hat  während 
dieser  Belagerung  Alles  besorgt  und  Alles  aus  eigenem  Antrieb,  ohne  um  die  Meinung 
oder  den  Rath  von  irgend  Jemanden  zu  fragen.  Diejenigen,  die  am  wenigsten 
gerne  seine  unschätzbaren  Eigenschaften  anerkannten,  zauderten  nicht, 
sich  an  ihn  zu  wenden,  wenn  sie  sich  in  Verlegenheit  befanden.«  Ich  fuge 
noch  bei,  dass  Frau  Chamot  ihrem  Gatten  nie  von  der  Seite  wich,  an  seiner  Seite 
in  den  Barricaden  kämpfte  und  dabei  noch  immer  Zeit  fand,  tausenderlei  kleine 
Dienste  im  Verborgenen  zu  leisten,  von  denen  man  annahm,  sie  wären  Ton  ihrem 
chinesischen  Personale  ausgeführt  worden,  kurzum  in  jeder  Beziehung  mit  ihrem  Manne 
wetteiferte. 


229 


Officiere     Mann 

Englische     Gesandtschaft:         3 


79 


Russische 


Amerikanische 


79 


53 


(Marine-Infanterie  und 

3  Matrosen) 

1  Nordenfeldt-Mitrailleuse 

(davon  7  Kosaken,  der  Rest 

Matrosen) 

(davon  3  Matrosen,  der  Rest 

Marine-Infanterie) 

I  Gewehrmitrailleuse 


Deutsche                  » 
Französische            » 

Franzosen 
Oesterreicher-  Ungarn 
Italienische  Gesandtschaft: 

1 

3 
5 
1 

50 

45 
30 

28 

Japanische 

(Fu) 

4 

25 

I .  Gewehrmitrailleuse 

1  37    Millimeter    Schnell 

feuerkanone 


Zusammen     21 


389 


Hiezu  kamen  noch  an  Freiwilligen*)  etwa  50  vorläufig  in  der 
englischen  Legation  concentrirte,  5  in  der  französischen  Legation 
und  17  Japaner;  in  Summa  zur  Vertheidigung  der  ganzen,  rund 
3^4  Kilometer  messenden  Linie  482  Mann,  1  kleincalibrige  Schnell- 
feuerkanone, 1  altartige  Mitrailleuse  und  2  Maschinengewehre. 
Schon  diese  Zahlen  allein  zeigen,  dass  man  sich  in  einer  recht 
prekären  Lage  befand.  Verschlimmert  wurde  sie  aber  noch  durch 
die  Beschränktheit  verfügbarer  Munition.  Oesterreicher-Ungarn 
und  Amerikaner  waren  am  besten  versehen,  d.  i.  500**)  Patronen 
per  Gewehr,  ausserdem  konnten  wenigstens  erstere  auch  die 
Dotation  der  Mitrailleuse,  4000  Schuss,  nöthigenfalls  für  die  Gewehre 
verwenden.  Dann  kamen  Franzosen  mit  circa  350,  Engländer  mit 
ungefähr  250,  Deutsche  mit  220 ;  seitens  der  japanischen  Matrosen 
liegt   keine    verlässliche   Angabe   vor,    doch   sollen    sie    nur    etwa 


*)  Hier  siud  nur  jene  FreiwiUigcn  genannt,  die  wenigstens  mit  Kugelgcwehren 
bewaffnet  waren;  als  späterhin  Gewehre  von  Todten  und  Verwundeten  frei  und  solche 
>on  gefaUencn  Chinesen  erbeutet  wurden,  konnten  noch  mehr  waffenfähige  Männer 
bewaffnet  werden,  so  dass  im  Ganzen  rund  100  Civilpersonen  als  Combattanten  auftraten. 

**)  Die  Zahlen  beziehen  sich  auf  das  Datum  des  Eintreffens  des  Detachements ; 
der  Munitionsverbrauch  vom  13.  Juni  angefangen,  an  und  für  sich  unbedeutend,  spielte 
ximsoweniger  eine  Rolle,  weif  er  gerade  nur  die  am  besten  versehenen  Nationen  betraf.  Die 
X<.ussen  hatten  ein  Geschütz  in  Tientsin  gelassen,  die  Munition  —  DO  Schuss  —  war 
^ber  nach  Peking  gekommen;  die  kleine  italienische  Kanone  war  mit  70  Patronen  dotirt. 
Ausserdem  befanden  sich  in  der  englischen  Gesandtschaft  etwa  70  Pfund  altes  Pulver, 
^ic  viel  Patronen  die  Freiwilligen  besasscn,  ist  nicht  genau  bekannt. 


230 

120  Schuss  per  Gewehr  gehabt  haben;  die  Italiener  besassen  90, 
die  Russen  sogar  nur  60  Patronen  per  Mann. 

Die  stricteste  Oekonomie  mit  diesen  unersetzlichen  Vorräthen 
war  somit  geboten. 

Ueber  die  Stärke  unserer  Gegner,  nur  vom  regulären  Militär 
sprechend,  fehlen  heute  noch  zuverlässige  Daten;  man  schätzte 
ihre  Zahl  auf  15.000  Mann,  die  Palasttruppen  nicht  eingerechnet. 
Wie  viele  Boxer  auf  ihrer  Seite  standen,  entzieht  sich  vollends 
der  Beurtheilung.  Von  den  regulären  Truppen  führte  die  Hälfte 
moderne  kleincalibrige  Gewehre,  der  Rest  Einlader  des  älteren 
Systems  Mauser.  Hinsichtlich  der  Artillerie  der  Chinesen  waren 
wir  insoferne  ganz  auf  Vermuthungen  angewiesen,  als  wir  Stück- 
zahl und  Caliber  nicht  kannten,  wohl  aber  wussten  wir,  dass 
moderne  Hinterlader  vorhanden  waren.  — 

Die  Chinesen  setzten  —  einmal  im  Zuge  —  das  Feuer  von 
der  Nordseite  des  Legationsviertels  aus  den  Häusern  östlich  der 
Nordbrücke  und  aus  der  Kaiserstadt  fort  und  richteten  es  gegen 
die  französische  Barricade,  das  Fu  und  die  englische  Gesandt- 
schaft. 

Als  erstes  Opfer  fiel,  durch  einen  Kopfschuss  tödtlich  getroflfen, 
der  französische  Matrose  Julard;  bei  Sonnenuntergang  vSah  man 
von  der  englischen  Gesandtschaft  aus,  wie  Mr.  Huberty  James,  Pro- 
fessor an  der  Pekinger  Universität,  von  drei  Tung-Fuhsiang-Reitern 
verfolgt  und  angegriffen  wurde.  Sein  Geschick  war  insoferne  ein 
besonders  tragisches,  als  er  kurz  vorher  noch  zu  einem  letzten, 
allerdings  hoffnungslosen  Verständigungsversuche  seine  Hilfe 
geboten  hatte.  Wie  der  englische  Gesandte  berichtet,  ersuchte 
Prinz  Su,  durch  den  Ausbruch  der  Feindseligkeiten  erschreckt, 
den  zufällig  im  Fu  bei  ihm  w^eilenden  Mr.  James,  an  Sir  Claude 
die  Botschaft  zu  überbringen,  dass  nach  seiner  Ueberzeugung  noch 
jetzt  die  Einstellung  der  Gewaltmassregeln  erreicht  werden  könnte, 
wenn  er  dem  Hofe  die  beruhigende  Versicherung  zu  überbringen 
in  der  Lage  wäre,  dass  die  fremden  Mächte  keine  Theilung  Chinas 
beabsichtigen.  Mr.  James  eilte  damit  in  die  englische  Legation 
und  erhielt  vom  Gesandten  die  Zusicherung  im  Namen  von  Gross- 
britannien, Sir  Claude  glaubte  auch  bezüglich  der  übrigen  Nationen 
das  Nämliche  behaupten  zu  können;  Prinz  Su  brach  sofort  nach 
der  Kaiserstadt  auf,  wo  er  aber  mit  seinem  Vermittlungsantrage 
kein  Glück  gehabt  zu  haben  scheint.  Mr.  James  dürfte  im  Ver- 
trauen auf  seine  perfecteKenntniss  des  Chinesischen  der  Versuchung 
erlegen  sein,  mit  den  Soldaten  ausserhalb  des  Fu  unterhandeln  zu 
wollen;    man  sah  ihn  zwar  nicht  fallen,  doch  besteht  kein  Zweifd 


231 

darüber,  dass  er  ein  grausames  Ende  gefunden  hat  —  sein  Leich- 
nam wurde  auch  später  nicht  gefunden. 

Bei  der  französischen  Barricade  ging's  äusserst  lebhaft  her. 
Unsere  Gewehrmitrailleuse  war  dort  aufgefahren  worden  und 
that  vorzügliche  Dienste,  ihr  kugelfester  Schild  gab  einen  aus- 
gezeichneten Beobachtungspunkt,  wenn  ihn  auch  so  mancher  Schuss 
mit  einem  Geräusche  wie  von  einem  Hammerschlage  traf.  Volle 
36  Stunden  währte  dort  das  Feuer  auf  unsere  Stellung,  bald 
schwächer,  bald  stärker;  erwidert  wurde  es  nur  dann,  wenn  sich 
Chinesen  sehen  Hessen. 

Während  man  allseits  an  der  Verstärkung  der  Barricaden 
arbeitete,  waren  unsere  Gegner  nicht  müssig  und  legten  rings  um 
uns  Feuer,  vorderhand  noch  in  weiterem  Umkreise,  bald  aber 
kamen  sie  näher  und  näher;  in  der  Nacht  zum  21.  Juni  brannten 
die  holländische  und  belgische  Legation,  sowie  die  amerikanische 
Mission  beim  Hatamen  nieder. 

Die  erste  Nacht  in  der  französischen  Gesandtschaft  war  ver- 
gleichsweise noch  ruhig;  die  beiden  Detachements  wechselten  im 
Dienste  an  der  Barricade,  zu  der  man  durch  eine  Bresche  in  der 
Nordmauer  und  auf  einem  kleirfen  Umwege  durch  einige  enge 
Gässchen  fast  ganz  gedeckt  herankonnte  —  nur  das  letzte  unge- 
schützte Stück  musste  rasch  durchlaufen  werden.  Die  Barricaden- 
besatzung  war  stark  genug,  um  auch  gegen  die  japanische  Stellung 
und  durch  die  enge  Gasse  bis  an  die  Stadtmauer  Sicherungs- 
patrouillen auszuschicken,  und  so  durfte  sich  die  Hälfte  der  Lega- 
tionsbesatzung einige  Ruhe  gönnen;  dass  von  Nord,  Nordwest  und 
sogar  aus  Südost,  wahrscheinlich  vom  Hatamen  her,  des  Oefteren 
Kugeln  über  den  Garten  pfiffen,  that  dem  wohlverdienten  Schlummer 
keinen  Abbruch.  Bis  spät  in  die  Nacht  hinein  herrschte  aber  in 
den  zahlreichen  Gebäuden  ein  reges  Treiben,  die  nach  der  eng- 
lischen Gesandtschaft  übersiedelten  Familien  hatten  noch  Manches 
holen  zu  lassen  und  so  campirten  die  Neuankömmlinge  einstweilen 
im  Fremdenpavillon,  in  der  Capelle  und  ich  mit  den  Matrosen  der 
»Zenta«  im  Nordstalle;  einige  Störung  bereiteten  nur  Pferde,  die 
sich  losgerissen  hatten  und  nun,  wo  ihre  Wärter  sie  nicht  mehr 
betreuten,  nach  ihrem  besten  Wissen  und  Erinnern  Futter  suchten. 

Der  halbe  21.  Juni  verging  mit  dem  Transport  der  Reservemuni- 
tion, des  Proviants  und  Gepäcks  in  die  englische  Gesandtschaft 
und  um  sich  ein  bischen  einzurichten,  d.  h.  es  wurden  einige  weitere 
Schützenstände  an  der  Nordmauer  und  dann  noch  einige  Lager- 
stätten für  die  Leute  improvisirt.  Ihre  Verpflegung  übernahm 
Chamot,    wodurch    wir    einer    grossen  Sorge    überhoben    wurden; 


232 

Officiere  und  Freiwillige  etablirten  in  dem  Hause  des  beurlaubten 
ersten  Secretärs,  Baron  D'Anthouard,  eine  Messe,  deren  Tafel  in 
den  ersten  Wochen  dank  den  von  Mr.  und  Mme.  Pichon  gross- 
müthig  überlassenen  Vorräthen  an  Conserven  und  Getränken  im 
ganzen  Fremdenviertel  sogar  in  dem  Ruf  besonderer  Leckerheit 
stand  —  nicht  ganz  mit  Unrecht.  Das  Schönste  daran  war  aber 
der  freudige  Geist  einer  sich  rasch  entw^ickelnden  herzlichen 
Kameradschaft;  Darcy  wollte  durchaus  nicht  präsidiren  und  um 
jeden  Preis  Rosthorn  oder  Thomann  diese  Ehre  überlassen.  Herber, 
dieser  bei  aller  Tüchtigkeit  und  Entschlossenheit  so  überaus 
bescheidene  junge  Mann  erschöpfte  sich  in  Aufmerksamkeiten  für 
die  Anderen,  Dr.  Matignon,  von  stets  sprühender  Laune,  fand  an 
Pelliot,  der  das  zuweilen  undankbare  Amt  eines  »chef  de  gamelle« 
übernommen,  in  chinesischen  Fragen  einen  stets  schlagfertigen 
Widerpart,  Professor  Gie^ter  von  der  Pekinger  Universität  fiel  da 
oft  mit  dem  Gewicht  seiner  Erfahrungen  als  Autorität  ein,  sogar 
Hauptmann  Labrousse,  auf  dem  Wege  von  Tongking  nach  Sibirien 
in  Peking  abgeschnitten,  machte  dem  Geist  des  Hauses  Concessionen 
und  trat  aus  seinem  herben  Ernst  heraus;  Veroudart  und  Feit,  zwei 
angehende  Dolmetsche  der  Gesandtschaft,  überraschten  uns  bei 
jeder  Gelegenheit  durch  ihre  treffenden  Bemerkungen  über  die 
kleinen  und  grossen  Vorfälle  intra  et  extra  muros. 

Späterhin  kamen  noch  mehr  Freiwillige,  Franzosen,  Belgier 
und  ein  Italiener  hinzu,  die  wir  alle  noch  kennen  lernen  werden; 
das  würdigste  Präsidium  erhielt  die  kleine  Messe  aber  erst,  als 
Frau  von  Rosthorn  am  26.  Juni  wieder  in  die  französische  Gesandt- 
schaft übersiedelte. 

Am  Vormittag  waren  Soldaten  und  Boxer  in  grosser  Zahl 
über  die  verlassene  österreichisch  ungarische  Legation  hergefallen, 
offenbar  um  sie  gründlichst  zu  plündern;  unter  ein  scharfes  Feuer 
genommen,  bis  sie  das  Thor  in  der  Customsstrasse  erreicht  hatten, 
entzogen  sie  sich  bald  unserer  Sicht  und  suchten  sich  dann  einen 
anderen  Ein-  und  Ausgang,  denn  nur  Wenige  wagten  es,  beute- 
beladen wieder  durch  den  Haupteingang  abzuziehen,  und  von  diesen 
büssten  mehrere  ihren  Vorwitz.  Für  uns  bedeutete  das  eine  harte 
Probe,  sozusagen  ohnmächtig  zusehen  zu  müssen,  wie  all  das 
Zurückgelassene  nun  in  solche  Hände  fiel,  während  wir  selbst  es 
nur  zu  sehr  entbehrten. 

Gleichfalls  am  Morgen  hatten  die  Chinesen  auch  die  englische 
Gesandtschaft  beschossen  und  richteten  jetzt  vereinzelt  und  wohl- 
verborgen auch  gegen  die  Gebäude  der  italienischen  hegaAon. 
Feuer.  In  der  Nähe  des  Hatamens,  nahe  dem  Fusse  der  Stadt* 


233 

plünderten  Boxer  das  verlassene  Haus  eines  Amerikaners;  die 
deutsche  Wache  gab  Feuer  auf  sie  ab  und  vertrieb  sie  mit  Ver* 
lust  von  einem  Dutzend  Todten. 

Um  3  Uhr  wurde  unser  erster  Gefallener  im  Garten  zwischen 
Ministerhaus  und  Fremdenpavillon  begraben.  Die  Ceremonie  ging 
in  aller  Stille  vor  sich  —  die  Salve  gaben  draussen  die  Chinesen  ab! 

Nachmittags  beobachteten  wir  von  der  Barricade  aus,  dass 
gerade  von  Westen  her  auf  die  österreichisch-ungarische  Gesandt- 
schaft ein  ziemlich  lebhaftes  Gewehrfeuer  unterhalten  wurde; 
Japaner  meldeten,  dass  letzteres  von  chinesischen  Soldaten,  die 
hinter  den  Mauern  des  Prinzengrabes  zu  sehen  seien,  herrühre.  Wir 
standen  vor  einem  Räthsel :  sollten  die  Fremden  doch  Parteigänger 
in  den  Reihen  des  chinesischen  Militärs  haben  ?  So  wenig  glaubhaft 
dies  erscheinen  mochte,  so  bestärkte  sich  diese  Annahme  gegen 
Abend  dadurch,  dass  ein  äusserst  lebhaftes  Gewehrfeuer  in  der 
Nähe  der  italienischen  Barricade  hörbar  wurde,  das  jedoch  nicht 
den  Italienern  galt.  Der  deutsche  Posten  auf  der  Mauer  stellte  fest, 
dass  Tsching-Truppen  vom  Hatamen  aus  mit  Gewehren  und  Wall- 
büchsen auf  Boxer  schössen,  welche  die  am  Vormittag  durch  die 
Deutschen  gestörte  Plünderung  des  Hauses  fortsetzen  wollten. 

Was  nützte  uns  aber  diese  verschämte  Theilnahme  eines 
Theiles  der  chinesischen  Truppen  an  unseren  Geschicken,  wenn 
wir  seine  Stellungen  nicht  kannten,  uns  mit  ihm  auch  nicht  zu  ver- 
ständigen vermochten  und  kaum  wussten,  wie  die  Tsching-Truppen 
aussahen?  —  Unter  diesen  Umständen  bildete  das  Ganze  eher 
einen  Nachtheil  für  uns,  umsomehr,  als  die  verlorenen  Schüsse 
unserer  Parteigänger  uns  selbst  gefährdeten;  jedenfalls  wurde 
man  nur  unsicher  und  verlor  die  besten  Gelegenheiten,  einen  guten 
Schuss  anzubringen  durch  das  Scrutinium,  ob  man  nicht  am  Ende 
einen  gutgesinnten  Beschützer  vor  sich  habe. 

Nach  Sonnenuntergang  flammte  unsere  v^erlassene  und  ge- 
plünderte Legation,  kurz  darauf  das  angrenzende  alte  Fu  auf  —  ein 
Anblick,  der  uns  das  Herz  zusammenschnürte!  Das  war  aber  nur 
der  Anfang,  denn  noch  vor  Mitternacht  brannten  auch  schon  die 
chinesische  Bank,  das  Münzamt  und  näher  gegen  uns  zu  das 
Finanzinspectorat,  die  gegenüberliegende  chinesische  Post  und 
mehrere  weitere  Häuser,  uns  mit  Qualm  einhüllend;  es  war  ein 
schauerliches  Bild,  das  jedoch  die  Chinesen  zu  lautem  Triumph- 
geschrei begeisterte.  Dazu  schössen  sie  wieder  einmal  wie  toll  von 
der  Nordseite  her  —  Alles  schien  darauf  hinzudeuten,  dass  sie, 
durch  das  Fortschreiten  ihres  Zerstörungswerkes  ermuthigt,  zu 
einem  gewaltsamen  Angriff  übergehen  würden.  Doch  kam's  nicht 


234 

dazu  —  beim  grellen  Feuerschein  nahm  man  nur  hie  und  da  ein 
paar  über  die  Strasse  eilende  Boxer  oder  Soldaten  aus,  denen  man 
gleichwohl  nachschoss,  nur  um  zu  zeigen:  wir  wachen! 

Spät  am  Abend  hatte  Darcy,  um  dem  auf  die  Dauer  nicht 
haltbaren  Zustande  ein  Ende  zu  machen,  dass  kein  einheitlicher 
Oberbefehl  bestand,  den  übrigen  Detachement-Commandanten  den 
Vorschlag  gemacht,  Fregatten  -  Capitän  von  Thomann  das  Ober- 
commando  zu  übertragen,  und  diese  hatten  ihre  Zustimmung  aus- 
gesprochen; Thomann  nahm  die  ihm  zugedachte  Aufgabe  an  und 
sollte  am  kommenden  Tage  das  Ganze  erst  organisirt  und  den 
Ministern  mitgetheilt  werden,  einstweilen  erwählte  er  nur  Labrousse 
und  mich  zu  seinen  Adjutanten. 

Ueber  Verlangen  der  englischen  Gesandtschaft  entsendete  das 
deutsche  Detachements  abends  zwölf  Mann  Verstärkung  dahin  ab, 
die  2  Tage  in  der  englischen  und  russischen  Legation  verblieben. 

Am  Morgen  des  22.  Juni  rückten  die  Chinesen  von  Nordosten, 
Osten  und  Südwesten  her  vor  und  beschossen  die  französische 
Barricade,  die  italienische  und  die  amerikanische  Stellung  äusserst 
lebhaft ;  der  Brand  in  der  Customsstrasse  hatte  im  Laufe  der  Nacht 
immer  weiter  um  sich  gegriffen  und  standen  die  Häuser  vor  der 
erstgenannten  Barricade  bereits  in  hellen  Flammen.  Ihn  eindämmen 
zu  wollen,  war,  ganz  abgesehen  von  dem  nach  Sonnenaufgang  ver- 
stärkt aufgenommenen  Gewehrfeuer  unserer  Gegner,  ganz  aus- 
geschlossen; um  6V4  Uhr  brannten  die  Häuser  zu  beiden  Seiten 
unserer  Barricade,  endlich  letztere  selbst,  die  ja  nur  aus  mit  Stein 
und  Erde  gefüllten  Holzkisten  bestand,  so  dass  die  Mitrailleuse 
und  die  Leute  von  dort  bis  nahe  an  die  Ecke  von  Cusstoms- 
und  Legationsstrasse  zurückgezogen  werden  mussten.  Aus  der 
Deckung  hinter  den  brennenden  Häusern  hervor  schössen  die 
Chinesen  immer  heftiger;  in  diesem  Augenblick  war  die  Stellung 
der  Italiener  schon  sehr  unangenehm  geworden,  da  sie  in  der 
Legationsstrasse  in  der  Front  und  von  Norden  in  der  linken  Flanke 
angegriffen  wurden.  Bis  7  Uhr  früh  hatten  sie  auch  schon  zwei 
Verwundete.  Eine  französische  Patrouille  ging  westlich  der  bren- 
nenden Häuser  bis  zu  dem  noch  nicht  völlig  niedergebrannten 
Finanzinspectorat  vor  und  stellte  fest,  dass  in  letzteres  ebenfalls 
schon  Tung-Fuhsiang-Soldaten  und  Boxer  vorgerückt  waren.  Von 
Südwesten  her,  d.  i.  vom  Wachhause  auf  dem  Tschien-men,  er- 
öffneten die  Chinesen  Geschützfeuer  gegen  die  amerikanische  und 
gegen  die  deutsche  Legation  —  dort  waren  die  Truppen  des 
Prinzen  Tsching  also  gewiss  schon  durch  andere  ersetzt  wordeo: 
hingegen  blieb  die  chinesische  Besatzung  des  Hatamen  rel«* 


235 

thätig,  dafür  brannten  in  dem  Block  unter  jenem  schon  mehrere 
Häuser  und  wurde  von  jener  Seite  gegen  die  deutsche  Wache  am 
Fusse  der  Mauer  gefeuert. 

In  dieser  Situation  —  es  mochte  8'/4  Uhr  geworden  sein  —  kam 
der  deutsche  Detachement-Commandant  mit  der  Meldung  zu  Thomann, 
dass  die  Amerikaner  nach  durch  einen  Soldaten  überbrachter  Mit- 
theilung* hart  bedrängt  seien  und  ihre  Stellung  räumen  müssten; 
eben  wurden  auch  einige  Verwundete  von  der  italienischen  Barricade 
zurückgeschafft,  deren  Besatzung  sich  obendrein  gegen  in  den 
Häusern  zu  ihrer  Rechten  verborgene  Boxer  zu  wehren  hatte. 
Thomann  sandte  die  mit  den  Verwundeten  gekommenen  Italiener 
allsogleich  zurück  und  Hess  erstere  durch  Franzosen  und  unsere 
Leute  in  die  Ambulanz  des  Dr.  Matignon  bringen.  Wenn  die 
Amerikaner  thatsächlich  ihren  Posten  räumten,  so  war  damit  die 
Trennung  der  West-  und  Ostgruppe  besiegelt,  denn  dann  war 
jeden  Augenblick  zu  gewärtigen,  dass  die  Chinesen  längs  der 
Stadtmauer  und  auf  dieser  vorrückend,  die  südliche  und  die  mitt- 
lere Brücke  über  den  Canal  besetzten  und  so  die  Verbindung  ab- 
schnitten. Ehe  von  Thomann  noch  Zeit  hatte,  selbst  an  die  Stelle  zu 
eilen,  von  der  eine  so  bedenkliche  Meldung  eingelaufen  war,  er- 
schien Graf  Soden  wieder  jenseits  der  Strasse  und  rief  herüber, 
die  Amerikaner  hätten  bereits  geräumt  und  er  könne  unter  diesen 
Umständen  auch  nicht  mehr  seine  Gesandtschaft  halten.  Damals 
fegte  bereits  ein  solcher  Kugelregen  über  die  Legationsstrasse, 
dass  Soden,  dessen  hervorragende  Kaltblütigkeit  wir  noch  kennen 
lernen  werden,  nicht  mehr  über  die  Strasse  herüberkam,  sondern 
an  die  Mauer  gegenüber  der  französischen  Gesandtschaft  gelehnt, 
seine  Meldung  erstattete,  auch  hatte  fast  im  selben  Moment  die 
italienische  Barricade  Feuer  gefangen.  Die  bestimmte  Mittheilung 
Soden's  gestattete  keinen  Zweifel  und  somit  war  weiter  kein 
Moment  zu  verlieren ;  so  Hess  von  Thomann  das  verabredete  Signal 
zum  Rückzug  auf  die  englische  Gesandtschaft  geben,  dem  folgend 
die  Detachements  der  Ostgruppe  sich  auf  jene  zurückzogen,  wobei 
einer  unserer  Leute,  Matrose  Bernardis,  durch  einen  Schuss  ins 
Bein  verwundet  wurde. 

In  der  englischen  Legation,  die  bisher  nur  wenig  beschossen 
worden  war,  kamen  gleichzeitig  mit  den  Detachements  der  Ost- 
gruppe  auch  das  amerikanische  und  das  russische  an,  als  es  sich 
herausstellte,  dass  die  dem  deutschen  Officier  zweimal  überbrachte 
Und  von  ihm  wiederholte  Meldung  über  die  Lage  bei  den  Ameri- 
kanern durchaus  nicht  zutreffend  und  viel  zu  übertrieben  gewesen 
'War!  Amerikaner  und  Russen  waren  im  Gegensatz  zu  der  Meldung, 


236 

dass  erstere  bereits  ihre  Position  geräumt  hatten,  erst  zurückge- 
gangen, als  die  Ostgruppe  verlassen  wurde. 

Inzwischen  hatte  sich  SirClaude  Macdonald  von 
den  in  seiner  Gesan  dt  Schaft  anwesenden  Ministern  das 
Obercommando  übertragen  lassen,  die,  wie  M.  Pichon 
in  seinem  Tagebuch  schon  unter  dem  20.  Juni  erwähnt, 
dort  ein  höheres  Comit^  für  die  Vertheidigung  unter 
Leitung  des  englischen  Gesandten  zu  formiren  be- 
schlossen hatten. 

Fregatten  -  Capitän  von  Thomann  fand  den  Augenblick  nicht 
passend,  um,  gestützt  auf  die  seinerseits  gänzlich  unbe- 
einflussteWahl  durch  die  Officiere,  Recriminationen  hie- 
gegen  zu  erheben  und  die  durch  naheliegende  innere  Gründe  zu 
erklärende,  seltsame  Action  der  die  englische  Gastfreundschaft 
geniessenden  Minister  anzufechten,  sondern  nahm  die  Erklärung 
Sir  Claude's  einfach  zur  Kentnniss.*) 

*)    Dies   der  wahre    Sachverhalt,   den    der   englische  Gesandte   und    seine  Gefolg- 
schaft so  drehen,  um  für  die  Uebernahme   des  Obercommandos    durch  Sir  Claude  einen 
anderen  als  den  thatsächlichen  Grund,  wie  oben  geschildert,  vorzuschieben.  Deshalb  ver- 
schweigen   alle  von  ihm   inspirirteu  Quellen   geflissentlich,    dass   der  Gedanke,    England 
die  Oberleitung  zukommen  zu  lassen,  schon  am  20.  Juni  in  der  englischen  Legation  ge- 
boren w^urde.  Die  Thatsache,  dass  die  Lage  bei  den  Amerikanern  übertrieben  gefahrlich 
geschildert  wurde,    was  allein  den  Rückzug  veranlasste,    wollen  die   anglophilen  Bericht- 
erstatter   durch    die    Angabe  entkräften,    dass    die    Meldung    von    einem    »unverantwort- 
lichen« Amerikaner    und    zwar  Thomann    directe    gemacht  wurde,    während  es  in  Wirk- 
lichkeit eine  Ordonnanz,  ein  amerikanischer  Soldat  gewesen  ist,  der  Graf  Soden  die  höchst 
alarmirenden    Meldungen    überbrachte,    was    Graf    Soden    dem    Schreiber    dieser    Zeilen 
späterhin    noch    mehrmals  wiederholte.    —    Es  ist  auch    absolut  unrichtig,    da.ss  die  Be- 
trauung   Sir    Claude's    mit    dem    Obercommando    die    Zustimmung    aller   diplomatischen 
Vertreter  fand,    denn  weder   der   deutsche    noch    der   österreichisch-ungarische  Geschäfts- 
träger haben  jemals  eine  solche  erthcilt,  es  sei  denn,  dass  Sir  Claude  aus  dem  Umstände, 
dass    diese  beiden  Herren  die   hierarchische  Stufe    des  »Ministers«    allerdings  noch  nicht 
erreicht  haben,  nur  auf  dem  Wortlaute  beharren  wolle,    dass  alle  fremden  »Mini.ster«  in 
Peking  ihn  in  seiner  Function  bestätigt  haben.  —  Welcher  Art  die  Führung  des  »Ober- 
commandos« vom    22.  Juni    an  gewesen  ist,  wird  der  Leser  selbst  noch  des  Oefleren  lu 
beurtheilen  Gelegenheit  haben  und  auch  erkennen,  dass  die  Commandanten  der  einzelnen 
Dctachements   vollauf  für   sich    das  Recht   beanspruchen  können,   den  Erfolg  nur    ihrem 
sich  aus  dem  gewöhnlichen  bon  sens  ergebenden  Zusammenwirken,  nicht  aber  der  »Leitung« 
zuzuschreiben.    —    Eine    alle   Punkte  der    englischen    Darstellung    umfassende    Wider- 
legung kann  hier,  so  leicht  und  verlockend  die  Sache  auch  wäre,  aus  Gründen  der  Deli- 
catesse  nicht    gegeben  werden,    aber  nur    um  zu  zeigen,    wie  nothwendig    sie   gegenüber 
einer   gewissen,    selbst    vor   der    Construction    von    Scandalen    nicht   zurückschreckenden 
Reclame-Kichtung  erscheint,  sei  Folgendes  erwähnt:  Im  Spätherbst  1901  wurde  in  Earl's 
Court    /u  London  eine  grosse  Spectakel-Pantoraime  »Die  Belagerung  der  Gesandtschaften 
in  Peking«  aufgeführt,  in  der  Sir  Claude  als  heldenhafter  Retter  in  einer  durch  Thomann 
geschaffenen  Panik  auftritt.  Das  Sensationsbcdürfniss   ist   nicht  wählerisch   in 
friedigung,    aber  jeder  andere  hätte  selbst  dagegen  Einsprache  erhoben,  sich  WM* 


237 

Der  erste  Befehl  des  neuen  Obercommandanten  für  die 
Detachements  der  Ostgruppe  lautete,  das  Fu  zu  besetzen.  Während 
letzteres  aber  noch  begangen  wurde,  um  die  besten  Stellungen  zu 
ermitteln,  folgte  bald  von  jedem  der  Minister  der  schriftliche  Be- 
fehl an  sein  Detachement,  unverzüglich  wieder  die  eigene  Gesandt- 
schaft und  die  zugehörigen  Posten  zu  besetzen,  der  auch  sogleich 
ausgeführt  wurde. 

Alle,  bis  auf  die  italienische,  welche  bereits  ein  Raub  der 
Flammen  geworden,  wurden  auch  thatsächlich  wieder  in  Besitz  ge- 
nommen, so  dass  nun  auch  Marchese  Salvago  in  der  englischen 
Gesandtschaft  Aufenthalt  nehmen  musste;  die  Chinesen  hatten  zu 
unserer  grossen  Freude  und  Verwunderung  ihren  Vortheil  nicht 
erkannt,  wiewohl  die  ganze  Position  beiläufig  eine  halbe  Stunde 
ihrer  Vertheidigung  ganz  entblösst  geblieben  war.  Man  dürfte  in 
der  Annahme  nicht  fehlgehen,  dass  sie  diesmal  das  Opfer  ihrer 
eigenen  Ideen  von  Lärmtaktik  gewesen  sind ;  die  Hornsignale  zum 
Rückzug  hatten  in  ihnen  wahrscheinlich  ganz  nach  ihrem  Sinne 
den  Glauben  erweckt,  dass  die  Fremden  sich  zu  einem  Angriffe 
vorbereiteten.  Einige  kleinere  Abtheilungen  von  ihnen,  die  sich 
schliesslich,  durch  die  Stille  doch  ermuthigt,  in  die  Nähe  der 
Legationen  gewagt,  wurden  rasch  vertrieben. 

Der  Verlust  der  italienischen  Legation  war  leider  nicht  mehr 
gutzumachen,  doch  bedeutete  er  für  die  Gesammtheit  keinen 
ernsten  Schaden;  auch  sie  hätte  binnen  Kurzem  geräumt  werden 
müssen.*) 

Ihre  nun  freigewordene  Besatzung  blieb  einstweilen  über 
Auftrag  des  italienischen  Ministers,    der   nun    auch    in  das  höhere 


der  Wahrheit  in  den  Olymp  hinaufjohlen  zu  lassen.  Der  russische  Detachements-Comman- 
dant  bewegt  sich  in  seinem  Berichte  ganz  im  englischen  Fahrwasser,  was  die  Kenner  der 
Verbältoisse  nicht  überrascht,   und  übertri£Pt    die  englischen  sogar  durch  die  falsche  Be- 
hauptung, die  Officiere  hätten  Sir  Claude  am  26.  Juni  das  Obercommando  übertragen.  Diese 
Darstellung  ist  aber  im  Allgemeinen  so  fehlerhaft  —  sie  lässt  z.  B.  die  österreichisch-unga- 
rische   und   die    italienische    Gesandtschaft   erst   am    16.  Juli    räumen,    die    Russen   die 
Lehrmeister  der  Deutschen  in  der  Benützung  von  Barricaden  sein  u.  s.  w.  —  dass  man 
iich  ernstlich  fragen  muss,  ob  es  möglich  sei,  dass  ihr  Verfasser  thatsächlich  in  Peking 
gewesen. 

*)   Dass  Nieasand  gerne   seine  Stellung  aufgibt,   ist  zu  begreiflich   und   daher  die 

MisstimmuDg    der  Italiener  ganz   erklärlich.    Die   Räumung    ihrer    Legation    wäre    aber 

dringend  nothwendig  geworden,  wie  ein  ein&ches  Rechenexempel  zeigt.  Die  Vertheidigungs- 

^'e  wurde  durch  ihre  Evacuation  um  ein  gattes  Stück,  etwa  0*3  Kilometer  verkürzt  und 

abgerundet    und    gleichzeitig    die  Besatzung    der  neuen  Linie    um  29    (die  Verwundeten 

^^    22.  Juni  abgerechnet,    26)    Mann  verstärkt.    Nun  konnte   aber    die  verkürzte 

^i^  der  verstärkten  Garnison  nur  mit  Mühe  gehalten  werden  —  wie  hätte  es  im 

^«  ausgesehen?    . 


238 

Comit6  für  die  Vertheidigxing  eintrat,  in  der  deutschen  Gesandt- 
schaft; endlich  fand  aber  dieser  Rath,  dass  das  Fu  durch  die 
Japaner  und  christlichen  Chinesen,  verstärkt  durch  einige  Eng- 
länder, doch  nicht  zu  halten  sein  würde,  und  so  wurde  das  italie- 
nische Detachement  am  23.  Juni  früh  als  ständige  Garnison 
dorthin  gelegt. 

Der  japanische  Militär- Attache,  Oberstlieutenant  Shiba,  über- 
nahm die  Vertheidigung  des  als  Deckung  der  Ostgruppe  gegen 
Norden  und  der  englischen  Gesandtschaft  gegen  Osten  äusserst 
wichtigen  Platzes  und  leitete  sie  in  heroischer  Weise. 

Die  Linie  französische — deutsche  Gesandtschaft  war  nun  die 
äusserste  im  Osten  und  auf  ihr  spielten  sich  die  heissesten,  mit 
einer  bei  Chinesen  ganz  unglaublichen  Zähigkeit  fortgeführten 
Kämpfe  ab ;  in  gemeinsamen  Fragen  auf  dieser  so  eminent  wich- 
tigen Linie  blieb  Fregatten-Capitän  von  Thomann  Entscheidender. 
Die  Legationen  waren  kaum  wieder  besetzt,  als  die  Chinesen  mit 
erneuerter  Heftigkeit  den  Feuerangriff  aufnahmen;  glücklicher- 
weise gaben  sie  ihr  Gewehrfeuer  höchst  unregelmässig,  dafür  aber 
um  so  verschwenderischer  ab.  War  ihr  Zielen  auch  nicht  zu 
fürchten,  so  stellten  die  bei  der  enormen  Schussanzahl  doch  un- 
vermeidlichen Zufallstreffer  eine  nicht  zu  unterschätzende  Gefahr 
dar,  gegen  die  man  sich  mit  allen  Mitteln  sichern  musste.  Besser, 
wenngleich  auch  nicht  sehr  rationell,  verwertheten  sie  schon  an 
diesem  Tage  ihre  auf  der  Stadtmauer  in  der  Nähe  des  Tschien-men 
aufgestellten  Geschütze,  die  sie  gegen  die  amerikanische  und  die 
deutsche  Gesandtschaft  spielen  Hessen;  einige  7*5  Centimeter  Gra- 
naten und  Shrapnels  fanden  ihren  Weg  auch  zu  uns  in  die  fran- 
zösische Gesandtschaft,  wo  sie  aber  nur  an  Dächern  und  Baum- 
kronen Schäden  anrichteten.  Unsere  Stellung  genoss  überhaupt 
als  Sammelpunkt  verlorener  Geschosse  aus  allen  Richtungen  eine 
besondere  Begünstigung ;  was  gegen  Amerikaner  und  Russen  weit 
im  Westen  vermeint  war,  schlug  ein,  nicht  minder  zahlreich  kamen 
solche  Grüsse,  die  das  Fu  im  Nordwesten  verfehlt  hatten  —  von 
Norden  her  über  Osten  bis  Südosten  war  das  Blei  wohl  für  uns 
bestimmt  gewesen.  Vorderhand  konnten  wir  all  das  nur  von  den 
Dächern,  der  Nordmauer  und  aus  der  Deckung  der  vor  dem 
Haupteingang  befindlichen  monumentalen  Steinlöwen  erwidern; 
die  Mitrailleuse  war  beim  Rückzug  in  die  englische  Gesandtschaft 
havarirt  worden,  und  als  sie  dort  zwei  unserer  Leute  reparirt  hatten, 
ereignete  sich  beim  Rücktransport  ein  ähnlicher  Unfall  an  ihrem 
gebrechlichen  Wagen,  dessen  Behebung  die  ganze  folgende  Nacht 
beanspruchte. 


239 

Mittags  stellten  unsere  Gegner  auf  kurze  Zeit  ihr  Feuer  ein, 
um  es  dann  wieder  bis  zum  Abend  fortzuführen. 

Die  Verluste  des  Tages  waren  nicht  unerheblich ;  bei  den 
Deutschen  1  Todter,  1  Schwerverwundeter,  Italiener  3  Verwun- 
dete, Russen  1  Schwerverwundeter,  Franzosen  und  Oesterreicher 
je  1  Verwundeter,  Engländer  1  Todter,  Amerikaner  2  Verwundete 
—  und  dabei  waren  die  Chinesen  nodh  relativ  weit!  Wenn  dies  im 
gesteigerten  Verhältnisse  zu  ihrer  Annäherung  so  weiter  ging, 
konnten  wir  allerdings  nicht  lange  aushalten. 

Am  Abend  wurde  Alles  für  den  Bau  neuer  Barricaden  in 
der  Legations-  und  in  der  Customsstrasse  vorbereitet;  die  hiefür 
in  Betracht  kommenden  Punkte  lagen  nur  weniges  östlich,  respec- 
tive  nördlich  des  Schnittpunktes  der  beiden  Strassen,  also  nahe  der 
Südostecke  der  französischen  Gesandtschaft.  Sie  weiter  vorzu- 
schieben ging  deshalb  nicht,  weil  sonst  die  Barricaden  aus  den 
bereits  zerstörten  Häusern  heraus  flankirt  worden  wären.  Um  sie 
mit  den  wenigen  christlichen  ("hinesen,  die  man  erhalten  konnte, 
in  der  Nacht  wenigstens  provisorisch  herzustellen,  musste  wieder 
zu  dem  »Kisten «-System  gegriffen  werden,  das  allerdings  seine 
Nachtheile  schon  erwiesen  hatte;  die  Barricade  in  der  Legations- 
strasse  erhielt  eine  Rückendeckung  und  wurde  von  Franzosen, 
die  andere  von  den  Leuten  der  »Zenta«  besetzt.  Die  Arbeit  verlief 
beinahe  ungestört,  wiewohl  es  keine  kleine  Mühe  kostete,  die  Angst 
der  Kulis  zu  überwinden. 

Zur  Sicherung  wurden  von  der  gemischten  Besatzung  der 
französischen  Legation  auch  in  der  Verlängerung  der  Customs- 
strasse zum  deutschen  Posten  am  Fusse  der  Mauer  Wachen  bei- 
gestellt. 

Um  den  Verkehr  zwischen  den  beiden  Vertheidigungsgruppen 
gegen  das  Feuer  der  Chinesen  aus  dem  Norden  von  der  Mauer 
der  Kaiserstadt  zu  sichern,  erbauten  in  derselben  Nacht  die  Eng- 
länder und  ihre  Missionäre  ein  leichtes  Ziegelparapet  auf  der 
mittleren  Brücke  und  quer  über  den  fast  ganz  trockenen  Canal 
eine  aus  Karren,  Balken  und  Steinen  zusammengesetzte  Barricade 
zwischen  dem  bereits  befestigten  Haupteingang  in  die  englische 
Gesandtschaft  und  dem  Fu,  so  dass  nur  die  kleine  Strecke  auf 
beiden  Böschungen  ohne  directen  Schutz  blieb.  Eine  zweite  Ver- 
bindung wurde  durch  Breschen  in  den  Trennungsmauern  zwischen 
Rötel  und  japanischer  Gesandtschaft  hergestellt;  von  letzterer 
führte  der  Weg  durch  das  Fu  zum  Canal. 

Hier  mag  gleich  erwähnt  werden,  dass  wir  schon  in  den 
ersten  Tagen  den  Mangel  an  grösseren  Werkzeugen  als  Infanterie- 


240 

spaten  recht  sehr  empfanden ;  das  Ausheben  von  Erde  machte  bei 
der  grossen  Härte  des  Bodens  viele  Schwierigkeiten,  besonders 
aber  dort,  wo  es  unter  feindlichem  Feuer  geschehen  musste, 
brauchte  es  länger  als  zulässig.  Aus  diesem  Grunde  musste  man 
sich  anderweitig  zu  behelfen  suchen ;  Ziegel  für  zwei  angefangene 
Neubauten  waren  in  der  Legationsstrasse  vorhanden  und  sonst 
nahm  man  zu  Erdsäcken  seine  Zuflucht.  Nun  scheuten  zwar  die 
Frauen  weder  die  Mühe  noch  irgendwelche  Opfer  an  ehedem  sorg- 
sam verwahrten  Stoffen  und  in  der  englischen  Legation  wetteiferten 
eine  Menge  klappernder  Nähmaschinen  mit  den  feindlichen  Ge- 
wehren um  die  Palme  im  Lärmen,  aber  das  Alles  genügte  kaum 
den  sich  stets  erneuernden  Anforderungen.  Tischwäsche,  Vorhänge 
und  kostbare  bunte  Seidenstoffe  wurden  zu  Säcken  verarbeitet, 
deren  Füllung  an  einem  geschützten  Punkte  vor  sich  gehen  konnte. 
Wunderlich  genug  sahen  die  Häuser  von  aussen  aus,  deren  Fenster 
auf  diese  Art  verbarricadirt  waren,  doch  erwies  sich  diese  Art 
Befestigung  äusserst  vortheilhaft. 

Unsere  Gegner,  unter  denen  wir  nur  mehr  wenige,  dafür  aber 
schon  mit  modernen  Gewehren  betheilte*)  Boxer  erkannt  hatten, 
denn  wie  es  sich  einmal  nicht  mehr  um  das  Morden  Wehrloser 
handelte,  überliessen  sie  gerne  dem  regulären  Militär  den  Vortritt 
—  unsere  Gegner  also  Hessen  uns  bis  Tagesanbruch  des  23.  Juni 
Ruhe,  um  die  dringendsten  Herstellungen  auszuführen.  Noch  in 
den  ersten  Morgenstunden  fand  eine  bis  ins  Finanzinspectorat 
vorgedrungene  Patrouille  unsere  unmittelbare  Nachbarschaft  un- 
besetzt und  constatirte,  dass  von  den  Gebäuden  der  österreichisch- 
ungarischen  Gesandtschaft  nur  mehr  das  Attach^haus  so  ziemlich 
unverletzt  stehen  geblieben  war. 

Um  7  Uhr  morgens  begann  die  Beschiessung  von  Neuem, 
als  Einleitung  crepirte  ein  Shrapnel  von  Südwesten  kommend  im 
Hofe,  ohne  aber  Jemanden  zu  verletzen ;  der  aufgefundene  Zünder- 
körper zeigte  Tempirung  1*4  Secunden**)  —  recht  gut  calculirt  für 
einen  Chinesen ! 

Das  Feuer  wurde  bald  allgemein;  unsere  Mitrailleuse  wan- 
derte auf  Ersuchen  der  Russen  zu  ihrer  Barricade  und  blieb  dort 
bis  abends  in  Action,  während  die  italienische  Schnellfeuerkanone 
vom  Nordstalle  der  englischen  Legation  die  chinesischen  Deckungen 

*)  Unter  den  nach  dem  Entsatz  saisirten  Papieren  Tschangli's  fanden  sich  aus- 
führliche Ausweise  über  Gewehre  und  Munition,  welche  den  Boxern  aus  den  Regie- 
rungsarsenalen  verabfolgt  worden  sind. 

**)  Die  meisten  in  der  Folge  aufgefundenen  Tempirringe  wiesen  Zeit«,  nur  weniir* 
Distanzscalen  auf. 


r 


im  Nordosten  wirksam  beschoss.  In  unserer  Xähe  rückten  die 
Chinesen  stetig  vor,  zum  Theil  die  halb  verkohlten  Ueberreste  der 
italienischen  Barricade  als  Deckung  benützend,  zum  Theil  in  den 
niedergebrannten  Häusern  der  beiden  von  uns  bestrichenen  Strassen. 
Das  Zerstörungswerk  schien  ihnen  aber  noch  zu  wenig  vorge- 
schritten und  50  legten  sie  wieder  in  den  noch  stehenden  oder  erst 
halbverfallenen  Gebäuden  Feuer ;  ein  frischer  nördlicher  Wind  trug 
die  Flammen  prasselnd  in  das  Gewinkel  an  der  Nordseite  der 
französischen  Gesandtschaft,  die  kleinen  Häuschen  schwanden  wie 
Zunder  und  das  Flugfeuer  kam  über  die  Mauer  herüber,  so  dass 
Darcy  die  ihr  zunächst  stehenden  alten  Bäume  fallen  liess,  um  den 
anstossenden  Stall  zu  sichern.  Hinter  der  italienischen  Gesandt 
Schaft  ging  die  japanische  Bank  in  Flammen  und  Rauch  auf,  gegen- 
über ersterer  fiel  das  grosse,  palastartige  Haus  Hsü-tung's  dem- 
selben Schicksale  anheim.  Dazu  feuerten  die  Chinesen  wieder 
lebhaft  und  unsere  auf  erhöhten  Punkten  und  hinter  den  Barri- 
caden  postirten  Schützen  konnten,  durch  die  dichten  Schwaden 
beifrsenden  Rauches  und  den  Funkenregen  arg  belästigt,  kaum  viel 
erwidern;  ähnlich  erging  es  auf  der  Westgruppe,  wo  die('hineBcn 
nachmittags  das  Hanlin  in  Brand  steckten.  Diese  alte  chinesische 
Hochschule  barg  in  ihren  ausgedehnten  Räumen  äusserst  werth- 
volle  historische  Documenle.  die  ältesten  Druckwerke  und  zuge- 
hörigen Platten :  aus  diesem  Grunde  hatte  man  auch  gehofft,  dass 
die  Chinesen,  deren  Respect  vor  allem  Geschriebenen  ja  bekannt 
ist,*)  davor  zurückschrecken  wurden,  Hand  daran  zu  legen.  Eitle 
Hoffnung,  denn  diesmal  schien  ihnen  auch  dieses  Opfer  nicht  zu 
gross,  um  den  Fremden  Schaden  zuzufügen.  Glücklicherweise  ge- 
lang es  den  Engländern,  das  Uebergreifen  der  Flammen  über  die 
Trennungsmauer  abzuwehren,  und  legten  sie  nun  selbst  in  das 
Hanlin  eine  Wache,  die  aus  dem  bisher  neutralen  Complex  später- 
hin grossen  Vortheil  ziehen  konnte. 

Alles  in  Allem  verlief  der  Tag  ziemlich  glimpflich;  KoUaf 
wurde  nachmittags  durch  einen  seichten  Schuss  in  den  rechten 
Oberschenkel  verwundet,  liess  sich  aber  dadurch  nicht  abhalten, 
Dien.Ht  zu  thun,  von  den  Engländern  wurde  ein  Freiwilliger  blessirt. 
Gegen  Abend  entstand  in  der  Dependance  des  Hotels  ein  Schaden- 
feuer, das  jedoch  von  den  Leuten  der  drei  Detachements  der  Ost- 
gruppe gedämpft  wurde,  obgleich  die  Chinesen  nicht  verfehlten,  die 
Brandstätte  heftig  zu  beschiessen.  Gleichzeitig  hatte  sich  ein  Trupp 

1  Nichli  Geschriebenes  od«  Gedruckt«   darf  .ils  Atifall  »edorrn  grben;    eigeae 
Oc»dbi'hir(«o    lai»cn  H«le    vun  Schriften  irnd  Büchern    »uf   .ler  suaise    saronieln   und 
dam  TvilrrenDcn.  [ti  Peking  eiisliren  mehrere  solche  «l.iteratur-Cretnalorien". 
WlnwilEiUn;  Klmpfn  in  Chiiu.  Itf 


242 

Boxer,  jedenfalls  mit  der  Absicht,  Feuer  zu  legen,  an  die  Rück- 
seite der  deutschen  Gesandtschaft  zu  schleichen  gewusst,  floh 
aber,  von  der  Wache  aufmerksam  empfangen,  mit  Zurücklassung 
einiger  Todter. 

Das  Wichtigste  blieb,  dass  die  Chinesen  bisher  auf  der  Stadt- 
mauer keine  Fortschritte  zu  machen  verstanden  hatten. 

Die  Nacht  wurde  eifrigst  ausgenützt,  um  unsere  Barricaden 
auszubauen,  wobei  man  in  der  Customsstrasse  durch  die  fort- 
dauernden Brände  und  gelegentlich  auch  durch  Gewehrfeuer  be- 
lästigt wurde;  besonders  unangenehm  war  der  Geruch  von  ver- 
brannten Leichen,  allerdings  insoferne  auch  eine  Genugthuung,  als 
er  darauf  schliessen  Hess,  dass  unser  Feuer  bisher  gute  Wirkung 
gethan  habe.  Doch  nützten  auch  unsere  Gegner  die  Dunkelheit 
gut  aus  und  bei  Tagesanbruch  machten  wir  die  Entdeckung,  dass 
sie  die  Ueberreste  der  italienischen  Barricade  beträchtlich  ver- 
stärkt und  sich  so  eine  günstige  Angriffsposition  geschaffen  hatten. 

Im  Zwielicht  wurden  ausserhalb  der  Stadtmauern  zwei  Raketen 
steigen  gesehen  —  konnten  sie  unter  diesen  Umständen  eine  andere 
Deutung  denn  als  Zeichen  vom  Herannahen  eines  Entsatzes  finden? 
Am  20.  Juni  hatten  wir  uns  im  Stillen  allerdings  auf  acht,  zehn  ja 
vielleicht  im  Aeussersten  auf  14  Tage  gezwungenen  Wartens  gefasst 
gemacht,  und  nun  —  wir  zählten  ja  erst  den  24.  Juni  —  kam  uns 
dieses  Zeichen  etwas  früh  vor,  aber  wie  gerne  hätten  wir  unseren 
Schätzungsfehler  eingestanden ! 

Lange  Zeit  war  uns  aber  nicht  beschieden,  um  alle  Für  und 
Wider  abzuwägen.  Um  5  Uhr  morgens  entspann  sich  bei  der 
französischen  Barricade  im  Osten  ein  äusserst  lebhaftes  Feuer- 
gefecht, so  dass  die  von  den  Leuten  der  »Zenta«  bestrittene  Thor- 
wache zur  Verstärkung  abgesendet  wurde;  gleich  darauf  hörte 
man  wieder  von  allen  Seiten  scharfes  Feuer.  Die  französische  Ge- 
sandtschaft wurde  aus  Ost  und  Nord  intensiv  beschossen,  an  den 
zwei  Barricaden  wurde  ebenfalls  hitzig  gefeuert  und  auch  die 
Wache  im  Verbindungsgässchen  zur  Mauer  war  schon  mit  den 
im  südöstlichen  Häuserblock  vorrückenden  Chinesen  ernstlich  im 
Gefecht,  so  dass  die  ganze  Besatzung  vollauf  beschäftigt  war. 

Nach  7  Uhr  morgens  nahm  das  Feuer  auf  der  Stadtmauer 
immer  mehr  zu  und  kam  von  Westen  her  auffallig  näher;  end- 
lich gegen  8  Uhr  morgens  erschien  Soden  und  theilte  mit,  dass 
die  Chinesen  auf  der  Stadtmauer  trotz  Feuers  der  Amerikaner  und 
aus  den  oberen  Stockwerken  der  westlich  gelegenen  Gebäude  der 
deutschen  Gesandtschaft  schon  bis  zur  Höhe  des  Canals  vorge- 
drungen seien.  »Ich  muss  gegen  sie  vorgehen   und  bitte  up 


Stärkung'«  schloss  der  dt-utschc  Officier .  Thomann  detachirte  un- 
venveilt  Bcyneburg  mit  acht  Mann  seiner  Leute  und  erhielt  von 
den  Franzosen  weitere  sieben  Mann  für  denselben  Zweck. 

Von  letzteren  übernahmen  fünf  die  Bewachung  der  Aufstiegs- 
rampe, die  übrigen  zwei  und  vier  Mann  unseres  Detachements  be- 
setzten das  halbverfallene  Wachhäuschen  auf  der  Mauer,  um  den 
Angreifem  den  Rücken  gegen  das  Hatamen  zu  freizuhalten;  Boyne- 
bürg  mit  vier  Mann  schloss  sich  der  aus  20  Seesoldaten  bestehenden 
Sturmcolonne  Soden's  an.  Diese  kleine  Schaar  rückte  anfanglich 
ohne  ernstlichen  Widerstand  vor.  doch  ermannten  sich  die  Chinesen 
—  Tung-Fuhsiang-Soldaten  —  bald  und  eröffneten  ein  wüthendes, 
glücklicherweise  aber  fast  ausnahmslos  zu  hoch  gehendes  Feuer; 
Soden  liess  dieses  erst  kurz  erwidern  und  ging  dann  mit  Hurrah! 
zum  Sturm  über.  Das  imponirte  den  Chinesen  dermassen.  dass  sie 
eilends  sich  zurückzogen  —  in  vier  Absätzen  wurden  sie  ins  Tschien- 
men  zurückgeworfen,  wobei  sie  zwar  einige  Verwundete  noch  weg- 
schleppen konnten,  dagegen  aber  30 — 10  Todte  liegen  Hessen.  Bis 
oberhalb  der  amerikanischen  Gesandtschaft  vorgedrungen,  kehrte 
Soden,  durch  den  von  unten  aufsteigenden  dichten  Rauch  ver- 
hindert, die  gegnerische  Stellung  zu  beurtheilen,  wieder  um  und 
liess  auf  dem  Rückweg  den  Gefallenen  Gewehre  und  Munition 
abnehmen;  von  seinen  eigenen  und  unseren  Leuten  war  wunder- 
barerweise Niemand  verwundet  worden.  Die  Wache  im  Osten  hatte 
inzwischen  mit  der  chinesischen  Besatzung  des  Hatamen  einige 
Schüsse  gewechselt,  was  genügte,  um  diese  am  Vordringen  zu 
Verhindern;  nun  übernahmen  wieder  die  Deutschen  diesen  Posten. 

Die  erbeuteten  Gewehre  waren  zu  unserer  Ueberraschung 
meist  Mannlicher-Carabiner  Modell  1891  und  ältere  11  Millimeter 
Mauser-Hinterlader,  sämmtliche  jedoch  trugen  den  Stempel  der 
Fabrik Steyr;  mit  ihnen  und  der  den  Todten  abgenommenen  Munition 
wurden  die  Freiwilligen  ausgerüstet,  den  ersten  Carabiner  erhielt 
Herr  von  Rosthorn,  der  ihn  fortan  ausgezeichnet  führte! 

Der  kühne  Vorstoss*)  hatte  also  nebst  seinem  Hauptzweck, 
auf  der  Mauer  Luft  zu  machen,  auch  noch  eine  höchst  willkommene 
Vermehrung  unserer  Wehrmittel  erreicht;  er  war  jedoch  kaum 
beendet,  so  wurde  die  Besatzung  der  französischen  Legation  zur 
Verstärkung  des  Fu  in  Anspruch  genommen.  Zehn  Franzosen  und 
sehn  Oesterreicher-Ungarn  unter  Seecadet  Mayer  gingen  allso- 
gleich  dahin  und  blieben  den  ganzen  Vormittag  dort,  wobei  einer 
Franzosen  schwer  verwundet  wurde.  Zur  selben  Zeit  machten 


•J  Dms   ' 


^TBchw  eigen 


214 

die  Engländer  auf  der  Südwestseite  einen  Ausfall,  bei  dem  es 
ihnen  zwar  gelang,  die  Chinesen  aus  ihrer  nächsten  Nähe  hinter 
ihre  Barricaden  zu  vertreiben,  in  welchem  sie  aber  durch  die 
schwere  Verwundung  von  Captain  Halliday  und  einem  Seesoldaten 
einen  fühlbaren  Verlust  erlitten. 

Die  Amerikaner  versuchten  vormittags,  unterstützt  durch  die 
Deutschen,  auf  der  Mauer  festen  Fuss  zu  fassen;  während  sie  an 
der  ihrer  Gesandtschaft  zunächst  gelegenen  Aufstiegsrampe  eine 
Barricade  erbauten,  rückte  Captain  Myers,  der  auch  das  Maschinen- 
gewehr seines  Detachements  auf  die  Mauer  hatte  schaffen  lassen, 
von  dem  von  Deutschen  besetzten  Posten  aus  vor.  Anfanglich  ge- 
wann die  gemischte  Abtheilung  auch  ohne  Verluste  rasch  an 
Terrain;  in  der  Nähe  der  Rampe  angelangt,  wurde  sie  aber  von 
übermächtigem  Gewehr-  und  Geschützfeuer  aus  dem  Wachhause  des 
Tschien-men  und  den  chinesischen  Barricaden  ostlich  davon  fest- 
gehalten und  musste  endlich,  da  ein  Sturm  auf  das  starke  Gebäude 
unmöglich  war,  gegen  Mittag  den  Versuch  aufgeben,  nachdem  ein 
Amerikaner  gefallen  und  einer  schwer  verwundet  war. 

Inzwischen  war  die  Stellung  auf  der  Mauer  gegen  das  Hatamen 
zu  durch  eine  leichte  Barricade  unter  Leitung  von  Labrousse 
etwas  befestigt  worden. 

Kurz  vorher  hatte  dieser  Officier  mit  zwei  amerikanischen 
Soldaten,  die  die  Unternehmungslust  zu  einem  kleinen  Abstecher 
verleitet  hatte,  in  einem  Hofe  nahe  dem  Fusse  der  Stadtmauer 
eine  Abtheilung  Chinesen  überrascht;  fast  ohne  Gegenwehr  wurden 
sie  —  insgesammt  22  Mann  —  niedergeschossen,  wobei  Labrousse 
über  keine  andere  Waffe  als  seinen  Revolver  verfügte.  Die  deutsche 
Wache  auf  der  Mauer  unterstützte,  durch  das  nahe  Schiessen  auf- 
merksam geworden,  mit  einigen  Schüssen  die  rasche  Execution. 
Der  französische  Officier  eilte  in  der  Annahme,  dass  die  ange- 
troffene Abtheilung  nur  die  Vorhut  einer  stärkeren  sein  könne, 
in  die  Gesandtschaft,  um  Succurs  für  die  Besetzung  des  Gässchens 
zu  holen.  Von  der  Besatzung,  die  eben  noch  20  Mann  ins  Fu 
detachirt  hatte,  konnten  nur  einige  Freiwillige  abgehen,  denen  ic 
mich  anschloss;  es  erfolgte  zwar  kein  Angriff  mehr,  dafür  käme 
wir  zurecht,  um  die  neue  Beute,  11  Millimeter  Mauser  sammt  Munitio 
zu  bergen.  Die  Chinesen  lagen  in  Gruppen,  wie  sie  der  Schrecx 
zusammengeballt  hatte,  übereinander  —  in  einer  Ecke  allein  "1 
auf  einem  Knäuel  —  einer  lebte  noch  und  erhielt  einen  Gnad 
schuss. 

Vormittags  fanden  wir  in  einem  verlassenen  Haus 
der  französischen  Gesandtschaft   einige  Säcke  Reis  und  Me* 


245 

wir   mit  Beschlag  belegten   und   tagsdarauf  unserem   in   der  eng- 
lischen Legation  erliegenden  eisernen  Vorrath  einverleibten. 

Zu  Mittag  trat  eine  Pause  ein;  bis  dahin  hatte  das  Feuer  an 
und  gegen  die  Barricaden  fast  ununterbrochen  gedauert. 

Nachdem  die  Deutschen  den  Amerikanern  sechs  Mann  Ver- 
stärkung beigestellt  hatten,  ersuchten  sie  nun  ihrerseits  um  die 
Ueberlassung  unserer  Mitrailleuse,  die  von  Thomann  mit  zwei 
Mann  sogleich  hinüberschaffen  Hess. 

Die  Besetzung  der  Stadtmauer  durch  die  Amerikaner  war 
für  den  Abend,  nach  Einbruch  der  Dunkelheit,  in  Aussicht  ge- 
nommen worden ;  entgegen  dieser  Abmachung  versuchte  der  ameri- 
kanische Detachement-Commandant  aber  schon  um  4'/^  Uhr  nach- 
mittags neuerdings  den  Aufstieg.  Eine  grosse  Menge  Erdsäcke 
und  Kulis  waren  bereitgestellt  worden,  um  von  der  Aufstiegs- 
rampe aus  sogleich  eine  provisorische  Deckung  quer  über  die 
Stadtmauer  errichten  zu  können,  unter  deren  Schutz  eine  festere 
Barricade  aus  den  die  Krete  der  Mauer  bedeckenden  grossen  Back- 
steinen erbaut  werden  sollte. 

Die  Chinesen  entdeckten  jedoch  das  Vorhaben  und  eröffneten 
ein  wüthendes  Feuer  aus  Gewehren  und  Schnellfeuerkanonen;  die 
Deutschen  sandten  den  Amerikanern  zehn  Mann  Verstärkung,  und 
da  ein  Vorgehen  der  Besatzung  des  Hatamen  zu  besorgen  war, 
ging  ich  mit  sechs  Franzosen  und  sechs  von  unseren  Leuten  auf 
die  Ostseite  der  Mauer  ab.  Einigemale  kamen  zwar  Chinesen  vom 
Hatamen  vor,  doch  zogen  sie  sich,  durch  unser  Feuer  vertrieben, 
eilends  wieder  zurück  und  begnügten  sich,  uns  vom  Wachhause 
aus  zu  beschiessen.  Die  in  aller  Eile  aufgeworfene  Barricade  und 
das  verfallene  Häuschen  boten  zwar  gegen  Osten  genügenden 
Schutz,  hingegen  waren  wir  im  Rücken  den  zahlreichen  Weit- 
schüssen vom  Tschien-men  her  schutzlos  ausgesetzt  —  es  musste 
unbedingt  eine  Rückendeckung  geschaffen  werden. 

Im  Augenblick  meines  Abgehens  auf  die  Mauer  kam  einer 
der  deutschen  Freiwilligen  mit  der  Meldung  in  die  französische 
Ciesandtschaft  gelaufen,  dass  die  Chinesen  beim  Canalgitter  ein- 
drängen; von  Thomann  sandte  unverzüglich  den  Seecadetten 
Boyneburg  mit  zehn  Mann  an  die  angeblich  bedrohte  Stelle,  doch 
stellte  sich  das  Ganze  als  ein  Irrthum  heraus,  worauf  die  kleine 
Abtheilung  zur  Verstärkung  der  Ostbarricade  auf  die  Mauer 
rückte. 

Das  Feuergefecht  beim  Tschien-men  wurde  mit  grosser  Heftig- 
keit bis  zu  Sonnenuntergang  weitergeführt ;  diesmal  gelang  es  aber 
den  Amerikanern   doch,  ihre  Stellung  zu  behaupten  und  sie  noth- 


246 

dürftig  gegen  Westen  zu  decken.  Wie  zu  erwarten,  hatten  die 
Chinesen  auch  auf  den  übrigen  Punkten  wieder  heftig  angegriffen 
und  wurde  an  unseren  beiden  Strassenbarricaden  und  im  Fu  wieder 
bis  Sonnenuntergang  heftig  gekämpft.  Gegen  letzteres  hatten  die 
Chinesen,  durch  die  umliegenden  Häuser  gedeckt,  heranzukommen 
vermocht  und  sogar  schon  eine  Bresche  in  die  äussere  Mauer  ge- 
schlagen, Japaner  und  Italiener  warfen  sie  zwar  zurück,  doch 
musste  neuerlich  eine  Verstärkung  von  fünf  Franzosen  hingesendet 
werden,  von  der  ein  Mann  fiel. 

Erst  nach  Sonnenuntergang  trat  einigermassen  Ruhe  ein  und 
konnten  die  von  der  Garnison  der  französischen  Legation  ausge- 
sendeten Verstärkungen  tourweise  eingezogen  werden.  Die  Barri- 
caden  auf  der  Mauer  wurden  nachtsüber  wesentlich  verstärkt,  auch 
eine  neue  am  Fusse  derselben  errichtet  und  für  die  von  Franzosen 
und  Oesterreicher-Ungarn  beigestellte  Wache  in  dem  dahin  führen- 
den Gässchen  eine  Deckung  geschaffen. 

Schon  an  diesem  Tage  machten  wir  die  bittere  Erfahrung, 
dass  wir  von  der  scharf  bedrängten  Ostlinie  wohl  fortwährend  um 
Unterstützungen  und  Verstärkungen  angegangen  wurden,  die  trotz 
der  Bedrohung  von  drei  Seiten  auch  gerne  beigestellt  wurden,  so 
lange  es  irgendwie  möglich  war,  unsere  bescheidenen  Anforderungen 
um  Arbeitskräfte  und  Werkzeuge  hingegen  stets  auf  Schwierig- 
keiten stiessen. 

Sir  Claude  hatte  mit  Unterstützung  der  protestan- 
tischen Missionäre  alle  Kulis  fast  ausschliesslich  für  die 
weitere  Befestigung  der  ohnedies  von  Hause  aus  unver- 
gleichlich grössere  Sicherheit  bietenden  englischen  Ge- 
sandtschaft mit  Beschlag  belegt  und  gab  nur  für  die 
Amerikaner,  Russen  und  das  Fu  Kräfte  ab;  über  die 
Lage  auf  der  Ostlinie  war  er  gar  nicht  orientirt  und 
brachte  ihr,  trotzdem  er  doch  die  Oberleitung  der  ganzen 
Vertheidigung  zu  führen  behauptete,  so  wenig  Interesse 
entgegen,  dass  er  während  der  ganzen  Belagerung  nur  ein 
einzigesmal,  als  das  Feuer  bereits  eingestellt  war,  am 
17.  Juli  —  also  erst  nahezu  vier  Wochen  nach  der  Ueber- 
nahme  des  Obercommandos  —  in  der  franzosischen  Ge- 
sandtschaft erschien,  um  sich  durch  den  Augenschein  über 
die  Situation  zu  informiren.  Und  doch  war  dies  das  erste 
und  exponirteste  Vorwerk  der  ganzen  Stellung  —  davon, 
ob  man  sie  zu  halten  vermöchte,  hing  die  Behauptung* 
aller  übrigen  Stellungen  östlich  des  Canals  ab,  sie  hielt 
die  Verstösse  der  Chinesen  auf  und  in  der  franzos'^ 


247 

Gesandtschaft  kämpfte  man  für  das  Leben  der  in  die  eng- 
lische Geflüchteten! 

So  auch  an  diesem  Abend;  wären  nicht  Chamot  und  Pere 
d'Addosio  gewesen,  so  hätten  wir  gar  keine  Kulis  bekommen  — 
die  Infanterie-Spaten  unserer  Leute,  die  irrthümlich  mit  dem  Ge- 
päck in  der  englischen  Legation  deponirt  worden  waren,  hatten 
auch  schon  Liebhaber  gefunden  und  waren  im  Augenblick,  wo 
wir  sie  verlangten,  nicht  mehr  zu  finden! 

Nachtsüber  fielen  nur  wenige  Schüsse,  gegen  12  Uhr  wurde 
eine  kurze  Fusillade  beim  Fu  hörbar,  die  Brände  in  unserer 
nächsten  Nähe  dauerten  fort  und  bedrohten  neuerdings  die  Barri- 
cade  in  der  Customsstrasse,  so  dass  dort  bis  10  Uhr  nachts  schwer 
gearbeitet  werden  musste,  um  letztere  zu  sichern. 

Am  25.  Juni  setzten  die  Chinesen  bei  Sonnenaufgang  den  all- 
gemeinen Angriff,  wenngleich  weniger  heftig  als  am  Vortag,  fort. 
Um  8  Uhr  hielten  die  Commandanten  der  Detachements  unter 
Vorsitz  Thomann's  —  Sir  Claude  war  erkrankt  —  auf  der  Stadt- 
mauer eine  Besprechung  hinsichtlich  der  zu  ihrer  Behauptung  noth- 
wendigen  Massnahmen  ab.  Das  Einfachste  und  Radicalste  wäre 
freilich  die  Wegnahme  und  Besetzung  der  grossen  Wachhäuser 
auf  dem  Hata-men  und  Tschien-men  gewesen,  dazu  reichten  aber 
die  vorhandenen  Kräfte  nicht  aus ;  man  musste  sich  also  begnügen, 
das  schon  besetzte  Stück,  welches  beiläufig  ebenso  lang  wie  das 
Legationsviertel  war,  durch  die  beiden  Barricaden  zu  halten.  Die 
westliche  sollte  von  Amerikanern  und  Russen,  die  östliche  mit 
vierstündiger  Ablösung  von  Deutschen,  Franzosen  und  Oesterreicher- 
Ungarn  vertheidigt  werden. 

Da  die  Chinesen  im  Tschien-men  ein  7  Centimeter  Geschütz 
und  eine  einpfündige  Schnellfeuerkanone  gerade,  während  die 
Versammlung  abgehalten  wurde,  gegen  die  erstgenannte  Barricade 
spielen  Hessen,  so  wurde  auf  Antrag  Thomann's  der  Versuch 
unternommen,  sie  durch  die  italienische  Kanone  zum  Schweigen 
zu  bringen. 

Boyneburg  mit  zehn  von  unseren  Leuten  löste  daher  eine 
gleiche  Anzahl  Italiener  im  Fu  ab,  welch  letztere  ihren  37  Milli- 
meter auf  die  Mauer  brachten.  Die  Chinesen  entzogen  gleich 
nach  dem  ersten  Schusse  ihre  beiden  Geschütze  der  Sicht,  die  Ge- 
schosse der  italienischen  Schnellfeuerkanone  (Stahlgranaten  mit 
Bodenzündern)  erwiesen  sich  aber  in  ihrer  Sprengwirkung  zu  schwach, 
um  dem  massiven  Thurmgebäude  etwas  Ernstliches  anzuhaben; 
zudem  waren  im  Ganzen  nur  mehr  40  Patronen  vorhanden,  so  dass 
man  eine  Fortsetzung  des  Probeschiessens  aufgeben  musste.  Beide 


248 

italienische  Vormeister  wurden  verwundet,    die  Kanone  wieder  in 
die  englische  Legation  geschafft. 

Nach  dem  Fehlschlagen  des  Versuches  erübrigte  nur  mehr, 
die  Barricade  selbst  so  weit  zu  verstärken,  um  sie  auch  gegen 
Geschütze  zu  sichern;  aus  letzteren  eröffneten  übrigens  die  Chinesen 
unmittelbar  nach  dem  Zurückziehen  des  italienischen  Geschützes 
wieder  ihr  Feuer  gegen  die  amerikanische  und  deutsche  Gesandt- 
schaft. Mittlerweile  hatte  sich  unten  der  Kampf  wieder  sehr 
lebhaft  gestaltet. 

Im  Fu  fiel  Matrose  Dettan,  kaum  dass  er  seinen  Posten  an 
einem  Schiessloch  eingenommen  hatte,  durch  einen  Kopfschuss.  Im 
Osten  der  französischen  Gesandtschaft  setzten  sich  Soldaten  und 
mit  Gewehren  bewaffnete  Boxer  in  den  Ruinen  der  niederge- 
brannten Häuser  fest,  indem  sie  aus  dem  leichtbeweglichen  Material 
Barricaden  aufwarfen;  gut  gedeckt  begannen  sie  nun  auf  etwa 
oO  Meter  Entfernung  einen  wahren  Hagel  von  Geschossen  gegen 
die  Dächer  des  Ministerhauses  und  gegen  die  Krete  der  aus  Back- 
stein erbauten,  an  ihrem  oberen  Ende  ungefähr  60  Centimeter 
dicken  Umfassungsmauer  zu  schleudern.  Von  unserer  Barricade 
aus  vermochte  man  ihnen  nicht  beizukommen  und  so  musste  man 
sich  entschliessen,  trotz  der  eminenten  Gefahr,  Schützen  auf  die 
Dächer  und  an  die  Mauer  zu  placiren,  denen  es  nach  einiger  Zeit 
gelang,  die  neuen  Belästiger  mit  bedeutendem  Verlust  zurückzu- 
treiben. Darcy  selbst  mit  seinem  ältesten  Unterofficier  Le  Gloanec 
und  Gi(^ter  befanden  sich  unter  den  glücklichen  Schützen,  die 
schliesslich  aber  entdeckt  wurden  ;  Le  Gloanec's  Mütze  wurde  durch- 
löchert, als  er  dem  Befehl  seines  Officiers  sich  zurückzuziehen 
zögernd  folgte. 

Eine  Pause  trat  nach  Mittag  ein,  während  der  wir  unsere  zwei 
Todten,  Dettan  von  der  »Zenta«  und  Corselin  vom  «d'Entrecasteaux« 
gemeinsam  zur  letzten  Ruhe  betteten. 

Wieder  versuchten  die  Chinesen  sich  in  dem  Winkel  zwischen 
italienischer  Gesandtschaft  und  Customsstrasse  festzusetzen,  aber 
durch  die  frühere  Erfahrung  gewitzigt,  suchten  sie  nach  Verstecken 
und  feuerten  einstweilen  noch  nicht.  An  den  Barricaden  war's 
ziemlich  ruhig,  die  Gelegenheit  daher  günstig  und  so  unternahmen 
wir,  Franzosen,  die  Zentagruppe  und  der  hiezu  eingeladene  Graf 
Soden  mit  zehn  seiner  Leute  von  der  Legationsstrasse  aus  einen 
Vorstoss  in  die  Ruinen  der  italienischen  Gesandtschaft  und  ihre 
Umgebung.  Es  gelang  uns,  die  Gegner  zu  überraschen,  eben  als 
sie  unsere  Barricaden  zu  beschiessen  begannen,  20  bis  30  von  ihnfw* 
fielen,  der  Rest  entfloh;  unsererseits  wurde  nur  ein  Deutsc 


249 

linken  Auge  und  ich  durch  einen  Splitter  ins  rechte  Auge  leicht 
verwundet  —  wir  beide  haben  damit  einen  billigen  Tribut  erlegt ! 
Sicherheitshalber  steckten  wir  noch  zwei  Häuser  zwischen  der 
italienischen  Gesandtschaft  und  der  Customsstrasse,  in  deren  Dach- 
räumen wir  einige  verspätete  Chinesen  vermutheten,  in  Brand,  wo- 
durch wir  auch  mehr  Schussfreiheit  nach  dieser  Seite  gewannen. 
Der  einzige  materielle  Verlust  war  das  Bajonnett  des  Steuergasten 
Baj^ljan,  das  ihm  ein  Chinese  vom  Gewehrlauf  riss,  als  der  Unterofficier 
sich  bei  einem  Fenstergitter  vorbeugte ;  die  Freude  des  Bezopften 
dauerte  aber  nicht  eine  Secunde,  denn  eine  Kugel  machte  ihr  ein 
Ende  und  BaSljan  holte  sich  in  einer  der  nächsten  Nächte  die  Waffe 
sammt  dem  daran  befindlichen  Porteep^e  zurück. 

Wir  waren  kaum  von  der  Expedition  zurückgekehrt,  die  in 
dem  Gewinkel,  wo  man  sich  gegenseitig  kaum  unterstützen  konnte, 
leicht  böse  Folgen  hätte  haben  können,  als  auch  schon  wieder  ein 
Auftrag  vom  Vertheidigungs-Comite  vorlag,  ständig  20  Mann  ins 
Fu  zu  legen;  nun  war  dieses  augenblicklich  aber  gar  nicht  ange- 
griffen und  daher  redigirte  Darcy  ein  verständlich  mit  Thomann 
und  Rosthorn  eine  ablehnende  Antwort,  in  der  er  auf  die  Wichtig- 
keit der  französischen  Legation  als  Schlüsselpunkt  der  ganzen 
Stellung,  die  Verzettelung  ihrer  Besatzung  durch  Wachen  an  und 
auf  der  Stadtmauer  und  endlich  darauf  hinwies,  dass  letztere  überhaupt 
numerisch  gar  nicht  so  stark  als  jene  anderer  Punkte  sei. 

Inzwischen  harrte  unserer  eine  neue  Ueberraschung :  ein 
athemloser  Bote  überbringt  die  Nachricht,  dass  die  Chinesen 
auf  kaiserlichen  Befehl  das  Feuer  auf  die  Fremden  eingestellt 
hätten !  Kaum  glaublich,  dennoch  hat  es  damit  seine  Richtigkeit  — 
Gewehre  und  Geschütze  schweigen. 

Auf  der  Nordbrücke  war  ein  grosses  Placat  aufgestellt  und 
von  der  englischen  Gesandtschaft  aus  mit  Fernrohren  abgelesen 
worden :  «Auf  kaiserlichen  Befehl  ist  das  Feuer  gegen  die  Fremden 
einzustellen,  die  Truppen  sollen  letztere  beschützen,  ein  Brief  an  die 
^linister  folgt«  —  die  sofort  entstandene  Legende  fügte  hinzu,  dass 
Boxer  und  Tung-Fuhsiang-Soldaten  als  Feinde  zu  behandeln  seien. 

Was  hatte  dies  Alles  zu  bedeuten?  Sollte  am  Ende  wirklich 
•^chon  ein  Entsatz  vor  den  Thoren  sein  und  dessen  Erscheinen  in 
^en  chinesischen  Machthabern  Reue  über  ihren  Aberwitz  hervor- 
grerufen  haben  ?  —  Der  Brief  war  zwar  noch  nicht  übergeben,  aber 
^ver  mochte  noch  daran  zweifeln,  dass  sein. Inhalt  nur  ein  Einlenken 
^n    vernünftigere  Bahnen  sein  würde! 

Schon  befasste  man  sich  mit  Gedanken  über  die  nun  zweifel- 
los bevorstehenden  Verhandlungen,  in  die  man  wohl  erst  eintreten 


250 

würde,  nachdem  die  Chinesen  eine  Präliminarsühne  durch  Aus- 
lieferung der  Rädelsführer,  des  Prinzen  Tuan  in  erster  Linie,  ge- 
leistet haben  würden. 

Man  wartete  und  wartete,  von  der  Mauer  herab  wurde  der 
Anmarsch  grösserer  chinesischer  Truppenmengen  aus  Südost  und 
Südwest  berichtet,  die  aber  nach  einigen  auf  sie  abgegebenen 
Schüssen  ohne  Erwiderung  Halt  machten;  auch  das  erschien  als 
ein  gutes  Zeichen. 

Am  östlichen  Ende  der  Legationsstrasse  sah  man  eine  grosse 
Menge  Tung-Fuhsiang-Leute  mit  schweren  Bündeln  nach  Norden 
abziehen,  über  die  Nordbrücke  passirten  unbehelligt  zwei  Mandarine 
mit  Truppen  —  aber  von  dem  versprochenen  Brief  keine  Spur. 

Es  wurde  Abend  und  damit  wieder  Zeit,  an  die  Verstärkung 
unserer  Befestigungen  zu  denken;  die  Chinesen  Hessen  uns  auch 
Ruhe  dazu  und  der  Brand  der  zwei  Häuser,  den  wir  diesmal  selbst 
gelegt  hatten,  spendete  uns  Licht  genug  an  den  beiden  Barricaden. 
Erst  um  Mitternacht  und  um  1  Uhr  unterbrachen  einige  Gewehr- 
salven die  Stille;  auf  dem  Ostflügel  trat  bald  wieder  Ruhe  ein,*) 
die  auch  den  ganzen  Vormittag  des  26.  Juni  anhielt.  Morgens  be- 
gaben sich  von  Rosthorn  und  Kollaf  mit  einer  Patrouille  unserer 
Leute  in  die  Customsstrasse,  fanden  sie  verlassen  und  gingen 
bis  in  unsere  Gesandtschaft,  von  der  sie  allerdings  nur  mehr  die 
rauchgeschwärzten  Mauern  vorfanden ;  im  Norden  wurden  chinesi- 
sche Soldaten  gesehen,  verhielten  sich  aber  ruhig.  Ebenso  verödet 
und  still  sah  es  in  den  Ruinen  beiderseits  der  Customsstrasse  aus, 
als  wir  sie  nachmittags  durchstreiften.  Aber  welche  Verwüstung! 
Viele  Leichen  gefallener  Soldaten,  Boxer  und  sonstiger  Chinesen 
lagen  da  in  unserer  nächsten  Nähe,  manche  schon  von  Hunden 
benagt  und  unter  der  heissen  Sonne  bereits  in  Fäulniss ;  trotz  diesem 
wahrlich  nicht  appetitreizenden  Anblick  Hessen  sich  unsere  Leute 
doch  nicht  die  Gelegenheit  entgehen,  ein  paar  Hühner  zu  fangen, 
die  ins  Hospital  geschickt  wurden.  Wieder  fand  eine  Beerdigung 
bei  uns  statt ;  der  zwei  Tage  vorher  im  Fu  verwundete  französische 
Matrose  Quemeneur  war  in  der  Nacht  gestorben  und  wurde  neben 
seinen  vorausgegangenen  Kameraden  im  Garten  begraben. 

Keine  Spur  von  dem  angekündigten  Briefe  an  die  Minister, 
dafür   auch    keinerlei  Anzeichen  vom   erhofften  Herannahen   eines 

*)  Sir  Claude  berichtet  für  diese  Nacht,  dass  ein  ungemein  heftiges  Feuer  bis 
^»egen  Tagesanbruch  auf  die  Westgruppe  abgegeben  wurde  und  er  von  Darcy  Verstär- 
kungen verlangt  habe,  die  aber  wegen  des  heissen  Engagements  nicht  gegeben  werden 
konnten.  Hier  liegt  ein  offenbarer  Irrthum  vor;  eine  solche  Requisition  kam  in  dieser 
Nacht  ebensowenig  in  die  französische  Gesandtschaft,  als  diese  heftig  angegrifien 


Entsatzes.  Frau  von  Rosthorn  übersiedelte  in  die  französische  Ge- 
sandtschaft. Gepäck  beschwerte  sie  allerding:s  nicht. 

Nach  3  Uhr  beg-ann  wieder  das  Feuer  an  der  Westseite, 
wo  die  Chinesen  im  Laufe  der  Nacht  in  der  Leg-ationsstrasse  auf 
kurze  Distanz  von  der  amerikanisch-russischen  Barricade  eine  neue 
erbaut  hatten. 

Später  zogen  eine  Menge  Truppen  vom  Hatamen -Boulevard 
gegen  Süden  herab;  anfänglich  Hess  man  sie,  noch  immer  in  Er- 
wartung der  versprochenen  Nachricht,  ungehindert  passiren,  als 
sie  sich  aber  in  dem  Viertel  südlich  der  Legation sstrasse  zwischen 
Hatamen  und  unserer  Linie,  ihre  Banner  aufsteckend,  festsetzten, 
kamen  wir  doch  zur  Ueberzeugung,  dass  der  ganze  Truc  mit  dem 
Placat  nur  ein  Mittel  gewesen  sei.  um  ungestört  Truppenverschie- 
bungen vornehmen  zu  können,  und  schössen  auf  sie. 

Sie  zögerten  nun  auch  nicht  länger,  sondern  antworteten 
sogleich  mit  einem  lebhaften  Feuer,  in  das  nun  von  beiden  Thoren 
her  auch  Geschütze  einfielen  —  der  Kampf  war  im  schönsten  Gang, 
wie  24  Stunden  vorher.  Vom  Hatamen  her  summten  Vollkugeln 
aus  den  plumpen  alten  chinesischen  Geschützen,  vom  Tschien-men 
moderne  Granaten  und  von  drei  Seiten  p6ffen  Gewehrprojectile  in 
allen  Tonarten  um  und  zwischen  uns  durch,  Gitter  fiel  von  einer 
solchen  verirrten  Kugel  in  der  Schulter  verwundet. 

Auf  der  Mauer  ging's  ebenso  lebhaft  her;  Captain  Myers,  der 
nun  mit  Bravour  schon  48  Stunden  auf  seinem  gefährlichen  Posten 
ausgehalten,  war  endlich  übermüdet  und  so  übernahm  ich  es  auf 
Ersuchen  Sir  Claude'a,  ihn  fiir  einige  Stunden  in  der  Nacht  ab- 
zulösen. 

Die  Chinesen  schienen  diesmal  in  der  Dunkelheit  einzubringen, 
was  sie  in  den  Tagesstunden  versäumt  hatten,  und  feuerten  nach 
Sonnenuntergang  wie  wahnsinnig  von  allen  Seiten.  Der  Weg  zur 
amerikanischen  Gesandtschaft  über  die  Legation  sstrasse  und  mittlere 
Brücke  wurde  continuirlich  mit  Geschossen  überschüttet,  so  dass 
mich  die  Posten  auf  der  Westseite  nicht  weiter  lassen  wollten;  in 
der  amerikanischen  Gesandtschaft  angelangt,  musste  ich  einige 
Minuten  warten,  um  auf  die  Mauer  zu  kommen.  Von  der  Rück- 
seite zur  Rampe  war  ein  vertiefter  Weg  ausgehoben  und  Im 
Westen  mit  Erdsäcken  gedeckt  worden;  er  war  noch  nicht  voll- 
endet und  die  Chinesen  suchten  das  mit  einem  unausgesetzten 
Feuer  zu  verhindern.  Die  Arbeitspartie  sollte  eben  abgelöst  werden 
Und  so  musste  ich  warten;  auch  die  Aufstiegsrampe  stand  unter 
dem  Feuer,  erst  in  halber  Höhe  war  man  gedeckt.  Die  Barricade 
oben  hatte  im  Laufe   des  Tages  grosse  Fortschritte   gemacht   und 


252 

widerstand  nunmehr  den  unablässig  darauf  schlagenden  Geschossen 
vortrefflich,  auch  bestand  schon  eine  Rückendeckung  gegen  die 
Langschüsse  vom  Hatamen.  Myers  machte  mich  mit  der  Umgebung 
bekannt :  vor  der  Barricade  —  also  nach  Westen  zu  —  erweiterte 
sich  die  Mauer  zu  einer  breiten  Bastion,  deren  gegenüberliegende 
etwa  50  Meter  entfernte  Grenze  sich  in  den  Händen  der  Chinesen 
befand ;  dort  hatten  sie  ebenfalls  eine  mächtige  Barricade  erbaut, 
hinter  der  sich  in  einigem  Abstände  das  mächtige  Wachhaus  des 
Tschien-men  erhob.  Auf  der  Bastion  wucherte,  wie  überall  auf  der 
Mauer,  domiges  Gestrüpp  und  dieses  begünstigte  ein  Heran- 
schleichen Einzelner  ungemein.  Man  musste  also  sehr  auf  der  Hut 
gegen  eine  derartige  Eventualität  sein.  14  Amerikaner,  5  Russen 
und  ebensoviele  Engländer  bildeten  die  Wache  auf  unserer  Seite, 
verstärkt  durch  das  amerikanische  Maschinengewehr.  Um  mit 
Munition  zu  sparen,  hatte  Myers  Befehl  gegeben,  erst  zu  feuern, 
wenn  die  Chinesen  vorrücken  sollten.  Soweit  seine  Uebergabe; 
Mr.  Cheshire  befand  sich  mit  einem  Chinesen  ebenfalls  auf  der 
Mauer,  in  Erwartung  der  Rückkehr  eines  der  manchen  mit  Nach- 
richten nach  Tientsin  ausgesendeten  chinesischen  Boten.  Aber  auch 
in  dieser  Nacht  blieb  die  Leine,  an  der  der  Bote  oder  seine  Brief- 
schaften den  Weg  zu  uns  nehmen  sollten,  unberührt  und  wurde 
vor  Tagesgrauen  wieder  aufgeholt.  Das  Gewehrfeuer  dauerte  die 
ganze  Nacht,  ab  und  zu  mischte  sich  auch  der  Einpfünder  des 
Tschien-men  darein;  am  stärksten  wurde  es  in  der  Zeit  von  1  bis 
3  Uhr.  Zu  dieser  Stunde  versuchten  die  Chinesen  wieder  auf  allen 
Punkten  ihr  Glück.  Myers  verbrachte  die  Nacht  oben,  den  wenigen 
Schlaf  noch  manchmal  unterbrechend.  Am  lästigsten  fiel  der  ent- 
setzliche Geruch  chinesischer  Leichen,  die  von  den  Kämpfen  am 
24.  herstammend,  nun  schon  60  Stunden  dort  lagen.  Die  ostTvärts 
liegenden  hatte  man  ohneweiters  über  die  Mauer  in  die  Chinesen- 
stadt geworfen,  aber  zu  jenen  vor  der  Barricade  zu  gelangen,  war 
unter  dem  Feuer  unmöglich.  Die  amerikanische  Barricade  war 
zwar  nicht  sehr  glücklich  angelegt,  weil  sie,  auf  der  schmalen  Stelle 
der  Mauer  erbaut,  von  den  Chinesen,  welche  die  ganze  Breite  der 
vorspringenden  Bastion  ausnützten,  überflügelt  werden  konnte, 
doch  hatte  man  am  24.  abends  froh  sein  müssen,  überhaupt  einen 
festen  Punkt  gewonnen  zu  haben. 

Myers,  in  dem  ich  einen  alten  Bekannten  von  Hongkong  her 
gefunden,  tauschte  mit  mir  seine  Ansichten :   »wir  gehörten  alle  in 
die  englische  (xesandtschaft,  dort  könne  man  vsich  kräftig  wehren« 
—  aber  meinen  Einwand  Hess  er  doch  gelten,   dass  uns  dort 
Menge  der  Chinesen  über  den  Kopf  wachsen  müsste.     S' 


die  Nacht  unter  fortwährendem  Geknatter  und  Klatschen  auf- 
schlagender Geschosse,  wir  feuerten  keinen  Schuss  ab  —  einmal 
war's  mir.  als  ob  ich  in  dem  Gestrüpp  eine  Beweg^ung  sähe,  aber 
das  erwies  sich  als  Täuschung.  Bei  Tagesanbruch  schien  sich  der 
Furor  der  Chinesen  etwas  besänftigt  zu  haben  und  sogleich  wurde 
weitergebaut,  Mr.  Squiers*)  schickte  einen  frischen  Gang  Kulis 
mit  Werkzeugen  und  ein  tüchtiges  Frühstück  für  die  Amerikaner 
herauf.  Gegen  B  Uhr,  als  es  ganz  ruhig  geworden,  trat  ich  den 
Rückweg  in  die  französische  Legation  an,  wo  mich  keine  erfreu- 
lichen Neuigkeiten  erwarteten. 

Einer  unserer  besten  Leute,  der  allezeit  muntere  und  kampf- 
lustige Badurina-PeriC,  war  auf  der  Stadtmauer  durch  einen  Kopf- 
schuss  getödtet  worden  und  Seecadet  Mayer  hatte  die  Leiche  nur 
unter  grossen  Fährlichkeiten  herabbringen  können;  dies  die  Ein- 
leitung der  Nacht,  in  der  die  Strassenbarricaden  und  die  Gesandt- 
schaft selbst  conlinuirlich  aus  nächster  Nähe  und  äusserst  heftig 
beschossen  wurden.  Wieder  war,  und  diesmal  um  1(J  Uhr,  gerade 
als  das  Feuer  am  ärgsten,  eine  Verstärkung  von  5  Mann  für  die 
englische  Gesandtschaft  verlangt  worden,  die  aber  nicht  beigestellt 
werden  konnte. 

Die  Ruhe  in  den  Morgenstunden  dauerte  nicht  lange;  schon 
um  9  Uhr  drangen  die  Chinesen  an  der  Ostseite  der  französischen 
Legation  wieder  entschieden  vor.  Während  die  beiden  Strassen- 
barricaden nicht  nur  von  vorne,  sondern  nunmehr  auch  schon  von 
der  Seite  her  heftig  beschossen  wurden,  wiederholte  sich  dn^ 
schon  am  25.  Juni  beobachtete  Manöver  unserer  Gegner,  indem 
sie,  durch  stehengebliebene  Mauern  gedeckt,  neue  Barricaden  in 
den  Ruinen  und  diesmal  sogar  eine  an  der  Nordostecke  der  Ge- 
sandtschaft quer  über  die  Customsstrasse  aufwarfen.  Vergebens, 
dass  der  eine  oder  der  andere  weggeschossen  wurde,  Thüren, 
Tische,  Balken  erschienen  aus  sicherem  Hinterhalte  vorgeschoben 
und  dann  flogen  Ziegel  und  Erde  so  lange  nach,  bis  auf  wenige 
Meter  von  unserer  Mauer  eine  Deckung  fertig  war.  Die  Arbeit 
konnte  kaum  gestört  werden,  denn  von  weiter  rückwärts  beschossen 
die  Chinesen  unaufhörlich  die  Dächer  und  Mauern,  so  dass  unsere 
dort  postirten  Schützen  sich  kaum  mehr  decken  konnten.  Einmal 
mit  ihren  Barricaden  fertig,  gaben  unsere  Feinde  aus  der  nächsten 
Linie  ein  maschinell  massiges  Gewehrfeuer  gegen  die  Umfassungs- 
mauer ab,  offenbar  in  der  Absicht,  sie  langsam  zu  zerstören;  was 

*)  Die  t(*chtE  und  wiikücli  ausierordcnllich  thitige  Hand  Sir  Claadc's  während 
der  gaaiea  BeUgcning,  war  es  ihm  eio  Leichtci,  lui  die  Weilbairicade  sxaf  dci  Mauer 
AHM  ea  erhallen,  wn-.  une   versagt  blieb. 


254 

sie  hiebei  an  Munition  verbrauchten,  ist  schwer  zu  schätzen,  muss 
aber  enorm  gewesen  sein. 

Die  Besatzungen  unserer  eigenen  Barricaden  waren  verstärkt 
worden  und  hatten  die  undankbare  Aufgabe,  hinter  stündlich  mehr 
und  mehr  zerschossenen  Deckungen  auszuharren  —  zum  Schusse 
kamen  die  Leute  wenig,  denn  nur  selten  wurde  der  Kopf,  die 
Schulter  oder  der  Arm  eines  Chinesen  sichtbar;  dazu  fegten  vom 
Westen  her  wieder  die  Amerikanern  und  Russen  vermeinten  Lang- 
schüsse die  ganze  Legationsstrasse  ab.  Sehr  hitzig  ging's  auch  im 
Block  südöstlich  von  uns  zu,  wo  wieder  ein  Brand  wüthete  und 
Labrousse  so  hart  bedrängt  wurde,  dass  er  zeitweise  die  kleine 
Barricade  am  Fusse  der  Mauer  räumen  musste.  Auf  letzterer  hatten 
die  Chinesen  in  der  Nacht  etwa  200  Meter  westlich  vom  Hatamen 
eine  Angriffsbarricade  errichtet  und  beschossen  von  dort  die 
unserige ;  um  10  Uhr  vormittags  glaubten  sie,  wahrscheinlich  durch 
die  sparsame  Feuerabgabe  unsererseits  irregeführt,  den  Moment 
zum  Vorgehen  gekommen.  Damals  stand  gerade  die  österreichisch- 
ungarische  Wache  unter  Quartiermeister  Carl  Raschka  im  Dienste; 
froh,  die  Kerle  endlich  frei  zu  Schuss  zu  bekommen,  liess  dieser 
kaltblütige  Unterofficier  sie  auf  circa  300  Schritt  herankommen 
und  erst  dann  Salvenfeuer  abgeben,  vor  dem  die  einige  Hundert 
zählenden  Zopfträger  mit  Zurücklassung  vieler  Todter  eilends  Kehrt 
machten. 

Zugleich  mit  der  Beschiessung  von  Ost  und  Südost  suchten 
die  Chinesen  uns  durch  Anlegen  von  Feuer  in  den  noch  immer  nicht 
ganz  verzehrten  Häusern  nördlich  der  Gesandtschaft  auszuräuchern; 
nicht  genug  daran,  gingen  zur  selben  Zeit  die  Häuser  gegenüber 
dem  Hauptthor  plötzlich  in  Flammen  auf. 

Zu  Mittag  wurde  das  Feuer  etwas  schwächer,  hörte  aber 
speciell  gegen  die  Ostmauer  nicht  auf;  Le  Gloanec,  der  älteste 
Unterofficier  der  Franzosen,  der  wieder  das  Dach  erstiegen,  fiel 
durch  einen  Kopfschuss  —  gleich  darauf  erhielt  sein  Nachfolger 
eine  Kugel  in  die  Hüfte. 

Kurz  nach  1  Uhr  nahmen  die  Chinesen  das  Feuer  wieder 
mit  erneuerter  Heftigkeit  auf,  und  während  wir  von  Nord,  Ost 
und  Südost  her  Gewehrfeuer  bekamen,  vom  Tschien-men  aus  Ge- 
schütz mit  Shrapnels  beworfen  wurden  und  es  an  drei  Stellen 
in  unserer  nächsten  Nähe  brannte,  forderte  der  englische  Minister, 
wieder  ahnungslos,  wie  es  bei  uns  stand,  20  Mann  Verstärkung! 
Die  Antwort  konnte  wohl  nicht  anders  als  ablehnend  lauten. 

Nach  2  Uhr  wurde  es  etwas  stiller,  die  Hitze  musste  auch 
den  Chinesen  zu  arg  geworden  sein. 


•  9     St^birBiUnd. 


256 

Gerade  Zeit  genug,  um  Le  Gloanec,  der  uns  schon  seit  den 
Nächten  an  der  Barricade  vor  der  österreichisch-ungarischen  Le- 
gation als  ein  Muster  von  Pflichtgefühl  und  Ruhe  bekannt  und 
lieb  war,  zusammen  mit  dem  jungen  Badurina  ins  Grab  zu  legen. 
Während  noch  P^re  d'Addosio  sein  Gebet  sprach,  fing  das  Ge- 
knatter um  3Vs  Uhr  von  Neuem  an,  die  Chinesen  waren  an  der 
Nordostecke  schon  dicht  unter  der  Mauer,  die,  von  oben  continuir- 
lich  beschossen  und  von  unten  mit  Brechwerkzeugen  bearbeitet, 
vielleicht  nicht  mehr  lange  halten  mochte.  Von  unserer  Barricade 
war  ihnen  nicht  mehr  beizukommen,  ihre  eigene  deckte  sie  zu  gut 
und  für  den  Versuch,  die  gegnerische  Deckung  mit  Gewehrsalven 
zu  zerstören,  reichte  unsere  Munition  nicht  aus;  immerhin  ver- 
wehrten aber  die  acht  Mann  von  der  «Zenta«  hinter  der  Barricade 
einstweilen  noch  unseren  Gegnern  die  Customsstrasse  zu  über- 
schreiten. Während  uns  an  der  Ostmauer  also  nur  mehr  die  Gassen- 
breite, ja  an  der  Nordostecke  nur  mehr  die  Dicke  der  Mauer  von 
den  Chinesen  trennte,  rückten  diese  in  der  Legationsstrasse  zu 
beiden  Seiten  immer  dichter  an  die  dortige,  von  Franzosen  besetzte 
Barricade  heran.  Das  Feuer  währte  bis  6  Uhr  und  schon  oft  hatten 
wir  geglaubt,  wenn  drüben  besonders  laut  »Scha-Scha!«  geschrieen 
wurde  und  die  Trompeten  ertönten,  dass  nun  endlich  doch  der 
Anlauf  erfolgen  müsse  —  dann  wären  die  Barricaden  wohl  im  Nu 
verloren  gewesen. 

Das  trat  nun  zwar  nicht  ein,  aber  wieder  kam  eine  An- 
forderung um  Verstärkung  für  das  Fu;  diesmal  erschien  jedoch 
M.  Pichon  selbst  in  seiner  Gesandtschaft,  und  als  er  die  Lage  mit 
eigenen  Augen  sah,  erkannte  er,  dass  viel  eher  wir  Veranlassung 
hätten,  eine  Verstärkung  anzusprechen. 

Unter  Ausdrücken  des  Dankes  für  die  bisherige  zähe  Ver- 
theidigung  und  mit  den  besten  Wünschen  für  unser  ferneres  Be- 
stehen eilte  er  in  die  englische  Legation  zurück,  um  Sir  Claude 
und  das  übrige  Comite  eines  Besseren  zu  belehren. 

Im  Fu  hatten  die  Chinesen  zwar  vormittags  eine  Mauer  durch- 
brochen und  waren  in  einen  der  äusseren  Höfe  eingedrungen,  doch, 
von  den  Japanern  heiss  empfangen,  alsbald  zurückgewichen;  das 
von  ihnen  gelegte  Feuer  äscherte  zwar  einen  kleinen  Tempel  ein, 
doch  war  damit  kein  allzu  grosser  Schade  entstanden  —  die  stehen- 
gebliebene restliche  Mauer  wurde  mit  Schiesslöchern  versehen, 
aus  denen  man  den  Ausblick  auf  ein  nunmehr  viel  freieres  Feld 
hatte.  Nachmittags  unternahmen  auf  Vorschlag  des  italienischen 
SchifiFs-Lieutenants  Paolini  Italiener  und  Japaner  mit  Unterstützung 
aus   der   englischen   Gesandtschaft    einen   Ausfall  an   der  ^ 


257 

und  vertrieben  ihre  Angreifer  auf  einige  Zeit  wenigstens  aus  ihrer 
unmittelbaren  Nähe.  Die  amerikanische  Gesandtschaft  war  vor- 
mittags ziemlich  energisch  angegriffen  worden,  nach  Angabe  Sir 
Claude's  waren  sogar  200  Boxer,  vom  Militär  aufgestachelt  und 
gedrängt,  offen  gegen  die  Barricade  vorgegangen  —  aber  nur  so 
lange,  bis  das  Fallen  einiger  von  ihnen  in  den  übrigen  Zweifel  an 
ihrer  Unverwundbarkeit  hervorgerufen.  Der  Tag  hatte  wieder 
Opfer  genug  gekostet,  aber  noch  besassen  wir  wenigstens  die 
Strassenbarricaden  und  das  Stück  Stadtmauer;  von  Sonnenunter- 
gang an  wurde  auch  wieder  der  Posten  am  Fusse  der  Mauer  be- 
setzt und  sein  Blockhaus  verstärkt. 

Noch  während  der  Dämmerung  versuchten  die  Chinesen 
wieder  einen  Vorstoss  vom  Hatamen;  diesmal  war  die  Reihe  an 
BaSljan,  der  dieselbe  Taktik  wie  sein  Kamerad  am  Vormittag  be- 
folgte und  die  Angreifer  zurückwarf,  bevor  er  die  Wache  an  die 
Deutschen  übergab. 

Der  Ostbarricade  auf  der  Stadtmauer  haftete,  abgesehen 
davon,  dass  sie  mangels  Arbeitskräften  nicht  so  solide  ausgebaut 
werden  konnte  wie  die  amerikanisch-russische,  noch  ein  anderer, 
schwerwiegender  Nachtheil  an.  Während  die  zur  letzteren  führende 
Aufstiegsrampe  unmittelbar  hinter  der  amerikanischen  Gesandt- 
schaft, respective  den  mit  diesen  verbundenen  und  leicht  besetzt 
zu  haltenden  Chinesenhäusern  lag,  so  dass  nur  ein  kurzer,  etwa 
15  Schritt  langer  gedeckter  Weg  herzustellen  war,  um  ungefährdet 
die  Rampe  zu  erreichen,  konnte  man  zur  Ostbarricade  entweder 
nur  durch  das  schmale,  die  Verlängerung  der  Customsstrasse 
bildende  Gässchen  oder  die  deutsche  Gesandtschaft  beim  Hinter- 
thor verlassend,  über  eine  etwa  100 — 150  Schritt  lange,  dem  Feuer 
von  zwei  Seiten  ausgesetzte  Strecke  gelangen,  deren  Sicherung 
durch  Schutzwehren  schon  wegen  ihrer  relativ  grossen  Ausdehnung 
mit  den  verfügbaren  Kräften  nicht  durchführbar  war;  hiezu  kam 
ferner,  dass  es  sehr  fraglich  war,  wie  lange  das  erwähnte  Gässchen 
noch  gehalten  werden  könnte. 

In  der  Nacht  Hess  von  Thomann,  da  man  sich  schon  darauf 
gefasst  machen  musste,  auch  die  Häuser  gegenüber  der  französi- 
schen Gesandtschaft  in  der  Legationsstrasse  in  die  Hände  der  Chinesen 
fallen  zu  sehen,  vor  dem  Hauptportal  ein  Blockhaus  aus  Ziegeln 
erbauen,  von  dem  aus  man  gegen  Osten  und  Süden  bis  Südwest 
Feuer  abzugeben  vermochte.  Frau  von  Rosthorn  half  unermüdlich 
und  frohester  Laune  bis  spät  nach  Mitternacht  beim  Baue  mit  — 
ein  so  anfeuerndes  Beispiel,  dass  sogar  die  wenigen  vor  Anstren- 
gung und  Angst  schon  ganz  stumpfen  Kulis  noch  ein  Letztes  auf- 

latlHÜder:   Kämpfe  in  China.  17 


258 

boten,    um    die    Ziegel    rascher    von    Chamot's    Neubau    herbeizu- 
schleppen. 

BaSljan  hatte  sich,  als  es  ruhig  geworden,  freiwillig  erbeten, 
eine  Recognoscirung  auszuführen,  wie  weit  oder  nahe  die  nächsten 
•chinesischen  Posten  ständen;  lautlos  wegschleichend  blieb  er  un- 
gefähr eine  halbe  Stunde  aus,  meldete  aber  dann,  dass  die  Chinesen 
sich  hinter  die  italienische  Gesandtschaft  zurückgezogen,  in  den 
herwärts  liegenden  Häuserruinen  jedoch  zahlreiche  Barricaden  mit 
der  Front  nach  Westen  errichtet  hätten. 

Solche  nächtliche  Schleichgänge  führte  der  brave  Unter- 
officier  mit  grosser  Geschicklichkeit  in  der  Folge  noch  mehrere 
aus,  wobei  er  sich  schliesslich  nicht  mehr  enthalten  konnte,  auf 
dem  Rückwege  den  einen  oder  den  anderen  Chinesen  zur  Strafe 
für  seine  Unachtsamkeit  » mitzunehmen  a,  d.  h.  niederzuschiessen; 
wie  werthvoll  seine  Nachrichten  für  uns  waren,  geht  wohl  schon 
daraus  hervor,  dass  unsere  Gegner  bald  nur  mehr  wenige  Schritte 
von  uns  standen  und  von  ihnen  herüberdringende  Geräusche  oft 
genug  falsche  Alarme  bei  uns  verursacht  hätten,  wären  eben  nicht 
BaSljan's  aufklärende  Meldungen  vorgelegen. 

Am  28.  Juni  wiederholten  sich  die  Angriffe  von  allen  Seiten; 
das  Fu  wurde  im  Nordosten  mit  Geschützen  bombardirt,  in  unserer 
Nähe,  d.  i.  im  Häuserblock  südöstlich  von  uns  bezogen  chinesische 
Truppen  stabile  Lager.  Die  aufgesteckten  Banner  zeigten,  dass 
wir  dort  Truppen  der  Generale  Ma  und  Lih,  Unterführer  Tung- 
Fuhsiang's,  vor  uns  hatten  !  Fünf  Franzosen  und  fünf  Oesterreicher- 
Ungarn  wurden  zur  Verstärkung  des  italienischen  Postens  im  Fu 
ständig  dahin  entsendet,  da  die  Italiener  bereits  durch  schwere 
Verluste  geschwächt  waren ;  hingegen  versprach  »das  Centralcomit^ 
der  internationalen  Vertheidigung«,  wie  es  sich  zur  Abwechslung 
an  jenem  Tage  nannte,  keine  weiteren  fallweisen  Anforderungen 
an  die  Garnison  der  französischen  Legation  zu  stellen.  Ein  Versuch, 
die  Chinesen  aus  den  östlich  von  uns  gelegenen  Häuserresten  zu 
vertreiben,  musste  aufgegeben  werden,  da  sie  bereits  vermocht  hatten, 
sich  dort  sehr  stark  zu  verschanzen;  so  konnten  wir  also  die  langsam 
fortschreitende  Zerstörung  der  Ostmauer,  auf  welche  unsere  Gegner 
seit  dem  frühen  Morgen  wieder  unermüdlich  ihr  Gewehrfeuer  ab- 
gaben, nicht  aufhalten. 

Gegen  1  Uhr  nachmittags  trat  eine  kleine  Pause  ein,  die 
benützt  wurde,  um  nochmals  gegen  die  italienische  Gesandtschaft 
vorzudringen  und  bei  dieser  Gelegenheit  eine  Kiste  mit  Munition, 
die  man  am  Morgen  in  einem  Hofe  gesehen  hatte,  wegzunehmen: 
die  Chinesen    waren   jedoch   auf  der   Hut   und    die  kleine 


259 

musste  sich  mit  einem  tödtlich  Verwundeten,  dem  französischen  Ma- 
trosen CoUas,  zurückziehen.  Letzterer  erlag  binnen  wenigen  Stunden. 
Bald    darauf  wurde   das  Feuer  wieder  ungemein  heftig;   trotzdem 
die  Deutschen   am  Vormittag   in    dem    südostlichen   Häuserviertel 
vorgegangen   waren   und   dem  Posten  am  Fusse  der  Mauer  etwas 
Luft    gemacht    hatten,    rückten    nachmittags    die  Chinesen    wieder 
gegen   diesen   und  die  Flanke   der  französischen  Barricade  in  der 
Legationsstrasse   vor,   so   dass  letztere  nun  von  drei  Seiten  Feuer 
erhielt  und  ihre  Besatzung  binnen  Kurzem  fünf  Verwundete  hatte. 
Die  Barricadenwache    und    der  Posten    am  Ausgange  des  kleinen 
Gässchens   wurden  daher  temporär  zurückgezogen  und  das  Feuer 
in    der  Legationsstrasse   nur   mehr   von  den  Oesterreicher-Ungarn 
aus  dem  Blockhause  vor  dem  Portale  unterhalten.  Beim  Rückzuge 
wurde  Labrousse  von  einer  matten  Kugel  am  Bein  getroffen,  erlitt 
jedoch  erfreulicherweise  nur  eine  Contusion,  die  ihn  für  den  Abend 
und    die    Nacht   zur    Unthätigkeit   zwang.     In    der   Customsstrasse 
wurde    die    von    unseren   Leuten    noch    besetzte   Barricade    durch 
Franzosen  verstärkt,    doch  war  es  unmöglich,    die  Chinesen  daran 
zu  verhindern,  dass  sie  eine  neue  Deckung  in  der  schon  geschilderten 
Manier  aus  Holz  quer  über    die  Gasse    bis    an    die  Ostmauer  auf- 
warfen, offenbar  um  in  letztere  eine  Bresche  zu  legen.    Rosthorn 
hatte    zuerst    die    glückliche  Idee,    die  Holzbarricade  durch  Feuer 
zu  zerstören;  Petroleum  war  noch  vorhanden  und  so  improvisirten 
er   und    seine    Frau    aus    mit  Stroh    umwickelten    und    mit    dieser 
gefährlichen    Flüssigkeit    gefüllten    Flaschen    Brander.      Rosthorn 
selbst  stand  auf  einer  Leiter,  übernahm  die  Flaschen,  zündete  das 
Stroh    an    und    schleuderte  sie,   rasch  einige  Sprossen  erkletternd, 
über  die  Mauer.  Der  Erfolg  war  ein  durchschlagender   und  in  das 
Wuthgeheul    der  Chinesen    mischte    sich    das  lustige  Prasseln  des 
dürren  Holzes;  Steine  und  ähnliche  Wurfgeschosse  flogen  herüber 
—    mit    den    unentwegt    gegen    Dächer    und    Mauern    sausenden 
Gewehrprojectilen   zusammen    eine  artige  Sammlung  antidiluviani- 
scher  und  moderner  Kampfmittel.  Plötzlich  fingen  aber  die  Kleider 
von   Frau   von   Rosthorn    Feuer    und    nur    der    Geistesgegenwart 
BaSljan's,  der,  alle  Rücksicht  bei  Seite  setzend,  die  Dame  zu  Boden 
warf   und    die  Flammen    mit   seinen  Füssen    erstickte,    war   es   zu 
danken,    dass   sie   nicht   ihrer  Bravour    zum  Opfer    fiel  —  Gesicht 
und    fast    die  ganze  linke  Seite  waren  arg  verbrannt,  glücklicher- 
weise die  Augen  jedoch  unverletzt  geblieben.  Frau  von  Rosthorn, 
die  bisher  so  viel  für  die  in  der  französischen  Legation  verbliebenen 
leichter  Verwundeten  gethan,  musste  nun,  so  ungern  ihre  jetzt  erst 
recht   angereizte  Thatenlust  dies  vertrug,  Dr.  Matignon's  Hilfe  in 

17* 


260 

Anspruch  nehmen.  Fast  unmittelbar  nach  diesem  Intermezzo  griffen 
die  Chinesen  um  6  V4  Uhr  abends  auf  allen  Seiten  mit  grosser  Heftigkeit 
und  einem  nach  ihrer  Ansicht  jedenfalls  unwiderstehlichen  Getose 
an;  im  Westen  und  beim  Fu  fielen  in  rascher  Aufeinanderfolge 
Kanonenschüsse  und  das  Gewehrfeuer  ging  in  ein  unerhört  schnelles 
Tempo  über.  Nun  wurde  auch  die  Barricade  in  der  Customs- 
strasse  in  ihrer  rechten  Flanke  von  oben  herab  beschossen  und 
Seecadet  Boyneburg  fiel  dort,  von  einem  tiefen  Streifschuss  in  die 
Stirne  getroffen,  schwer  verwundet  in  Kollaf  Arme. 

Thomann  Hess  die  unhaltbar  gewordene  Barricade  räumen. 
Wenn  die  Chinesen  etwas  Herz  im  Leibe  hatten,  konnten  sie  nun 
ungehindert  die  Ostmauer  einschlagen  oder  mit  Leitern  ersteigen; 
wir  standen  hinter  letzterer  zum  Empfange  bereit.  Doch  nichts 
von  alledem  —  nach  etwa  '/*  Stunden  rasenden  Schiessens,  Schreiens 
und  Trompetenlärmes  war  diese  »Böe«  vorübergezogen;  noch  eine 
weitere  halbe  Stunde  und  bei  einbrechender  Dunkelheit  wurde  es 
wieder  möglich,  die  beiden  Strassenbarricaden  und  den  Posten  am 
Fusse  der  Mauer  zu  beziehen.  In  der  englischen  Gesandtschaft 
war  durch  das  Feuer  zweier  in  einem  Hause  auf  dem  Mongolen- 
markte aufgefahrener  Geschütze  zwar  der  obere  Theil  eines  Hauses 
stark  hergenommen,  im  Uebrigen  jedoch  kein  fühlbarer  Schaden 
angerichtet  worden. 

Dr.  Velde  sandte  über  das  Befinden  unseres  ins  allgemeine 
Hospital  geschafften  Boyneburg  noch  im  Laufe  des  Abends  beruhi- 
gende Nachricht;  er  war  überzeugt,  dass  die  Wunde,  wiewohl  die 
Hirnhaut  bloss  lag,  nicht  tödtlich  sei.  Kine  Erleichterung  für  alle, 
die  den  schneidigen,  so  temperamentvollen  jungen  Mann  schon  um 
seiner  stets  heiteren  Laune  und  Unermüdlichkeit  willen  lieb- 
gewonnen hatten. 

Die  Zahl  der  Kampffähigen  in  der  französischen  Legation  war 
durch  diesen  Tag  wieder  stark  reducirt  worden  und  umso  freudiger 
begrüvsste  man  daher  das  Einrücken  neuer  Freiwilliger,  der  Herren 
Bouillard,  Vicomte  de  Chollet,  Gruintgens,  Wagner,  Duvieusard  — 
die  Herren  Bartholin  und  Merghelinck  waren  schon  zwei  Tage 
früher  zu  uns  gekommen,  Picard-Destelan  folgte  den  Genannten  am 
29.  früh.  Abends  schlugen  unsere  Leute  auf  der  Stadtmauer  wieder 
in  grösserer  Zahl  vorrückende  Chinesen  zurück. 

Die  durch  die  heftige  Beschiessung  ziemlich  arg  mitgenommenen 
Strassenbarricaden  und  das  Blockhaus  wurden  nachtsüber  mit 
Erdsäcken  verstärkt;  letzteres  erfreute  sich  bereits  des  Vorzuges, 
von  den  Chinesen  im  Südosten  als  Ziel  erwählt  zu  werden,  waff 
bis  zum  nächsten  Morgen  auch  mehreremale  wiederholtep 


261 

die  Ostmauer  verstummte  das  Feuer  auch  in  der  Nacht  nicht  völlig. 
Der  schmale  Hof  war  bereits  mit  Trümmern  von  Ziegeln  übersäet 
und  Zahlenkundige  berechneten,  dass  dieser  Erfolg  unseren  Geg- 
nern schon  über  1000  Dollars  Munition  gekostet  haben  musste. 

Um  2Vi  Uhr  morgens  unternahmen  Russen,  Engländer  und 
eine  vom  Militär- Attache  Lieutenant  von  Lösch  geführte  Abtheilung 
Deutscher  einen  Ausfall  gegen  den  Mongolenmarkt,  um  sich  der 
dort  aufgestellten,  durch  ein  Thor  verdeckten  zwei  chinesischen 
Geschütze  zu  bemächtigen.  Der  Versuch  misslang  jedoch,  weil  die 
Orientirung  in  der  Dunkelheit  mangelte,  und  kostete  neuerdings 
einige  Verwundete ;  nur  mehrere  Häuser,  die  den  Ausschuss  behin- 
derten, wurden  angesteckt. 

Der  Ausfall  bildete,  wie  vorauszusehen,  die  Veranlassung  zu 
einer  Fusillade  auf  allen  Punkten,  die  man  aber  schweigend 
ignorirte. 

Um  6  Uhr  morgens  des  29.  Juni  setzten  die  Chinesen  ihre 
nun  schon  fünf  Tage  währenden  Bemühungen,  sich  einen  Eingang 
in  die  französische  Gesandtschaft  zu  erzwingen,  fort;  durch  die 
üblen  Erfahrungen  mit  brennbarem  Material  gewitzigt,  warfen  sie 
diesmal  an  der  Nordostecke  eine  Barricade  aus  Steinen  auf,  die 
trotz  aller  Anstrengungen  von  unserer  Seite,  ihr  Zustandekommen 
zu  verhindern,  doch  binnen  anderthalb  Stunden  fertig  war.  Daneben 
ging  die  Beschiessung  der  Mauer  wieder  rüstig  weiter,  allerdings 
von  jedem  Einzelnen  auf  eigene  Faust,  die  Erhöhung  der  Wirkung 
durch  regelrecht  vertheilte  und  abgegebene  Salven  stand  an- 
scheinend noch  nicht  im  militärischen  Katechismus  unserer  Gegner. 

Immerhin  war  man  genöthigt,  sich  auf  das  baldige  Entstehen 
von  Breschen  gefasst  zu  machen,  und  deshalb  wurden  die  Vor- 
bereitungen beschleunigt,  um  solche  von  der  Ostfront,  d.  h.  den 
Häusern  Saussine,  Morisse,  dem  blauen  Salon  und  den  Dependancen 
des  Ministerhauses  aus  wirksam  unter  Feuer  zu  nehmen.  Das  be- 
deutete vermehrte  Arbeit  und  Posten;  die  Wache  am  Fusse  der 
Mauer  musste  daher  eingezogen  und  den  Deutschen  allein  über- 
lassen, der  Zugang  zur  Aufstiegsrampe  fortan  durch  die  deutsche 
Gesandtschaft  genommen  werden.  Um  den  Weg  zu  unseren  eigenen 
Barricaden  abzukürzen  und  dadurch  die  Ablösung  der  Posten 
Weniger  gefahrlich  zu  machen,  wurde  nahe  dem  Flaggenmast  eine 
in  die  Legationsstrasse  mündende  Bresche  geschlagen  und  durch 
vorgelegte  Erdsäcke  maskirt,  aber  auch  dann  blieb  dieser  Augen- 
blick noch  immer  kritisch. 

Für  unsere  Mitrailleuse  gab  es  wegen  der  Beschränktheit  des 
Ausschusses  in  den  zur  französischen  Legation  gehörigen  Stellungen 


262 

keine  Verwendung  mehr;  der  Transport  des  sehr  gebrechlichen 
Wagens  auf  die  Stadtmauer  war  entschieden  nicht  räthlich,  und 
da  die  Deutschen  ebenfalls  keinen  Gebrauch  von  ihr  machen 
konnten,  wurde  diese  Waffe  einstweilen  in  der  englischen  Gesandt- 
schaft deponirt. 

Um  11  Uhr  vormittags  nahm  das  Feuer  der  Chinesen  wieder 
an  Heftigkeit  zu  und  richtete  sich  besonders  gegen  die  Ostfront; 
nach  1  Uhr  fiel  Herber,  der  versucht  hatte,  vom  Dache  aus  die 
gegen  die  Umfassungsmauer  Schiessenden  unter  Feuer  zu  bekommen, 
genau  an  derselben  Stelle  wie  tagsvorher  Le  Gloanec  und  ebenfalls 
durch  einen  Kopfschuss! 

Das  Unglück  verfolgte  unsere  tapferen  französischen  Kame- 
raden mit  grausamer  Consequenz !  Herber's  Tod  war  ein  schwerer 
Schlag  für  uns  Alle,  nicht  allein  für  Darcy  und  seine  taglich 
schwindende  Schaar.  Ungewöhnlich  kaltblütig  und  ausdauernd,  von 
raschem  Entschluss  in  entscheidenden  Augenblicken  und  stets  voraus 
bedenkend,  was  er  für  die  Vertheidigung  und  namentlich  zum  Besten 
seiner  Leute  thun  könnte,  hatte  er  nicht  nur  das  allgemeine  volle 
Vertrauen  und  eine  rührende  Anhänglichkeit  seitens  seiner  Unter- 
gebenen genossen,  sondern  war  uns  mit  seiner  stillen  Art  stets  als 
die  Verkörperung  der  freudigen  Pflichterfüllung  und  der  Zuversicht 
erschienen  —  der  Typus  seiner  thätigen,  liebenswürdigen  Lands- 
leute, die  Frankreichs  innere  unversiegbare  Kraft  bedeuten !  Unsere 
Feinde  gönnten  uns  nicht  die  Zeit,  dem  tapferen  Kämpfer  ein  so 
würdiges  Grabgeleite  zu  geben,  wie  wir  es  gerne  gewünscht 
hätten;  von  zwei  Seiten  rückten  sie  mit  grossem  Aufgebot  an 
Getöse  näher  und  näher. 

Zuerst  drangen  sie  im  südöstlichen  Häuserblock  längs  der 
Stadtmauer  bis  auf  die  Höhe  des  Gässchens  und  in  letzteres  selbst 
vor,  woran  sie  die  Wache  auf  der  Stadtmauer,  durch  das  Feuer 
vom  Hatamen  gebunden,  auch  nicht  zu  verhindern  im  Stande  war; 
da  auf  diese  Weise  die  Besatzung  der  Barricade  in  der  Legations- 
strasse  in  Flanke  und  Rücken  bedroht  wurde,  ja  deren  Rückzug 
auf  das  Blockhaus  vor  dem  Thore  jeden  Augenblick  abgeschnitten 
werden  konnte,  wurde  diese  und  infolgedessen  auch  die  Mannschaft 
der  österreichisch-ungarischen  Barricade  einberufen.  Hiedurch  über- 
liess  man  nothgedrungen  die  Customsstrasse  ganz  den  Chinesen, 
w^elche  nun  von  Norden  und  Osten  in  grossen  Schaaren  an  unsere 
Umfangsmauer  herankamen  und  alle  Anstalten  trafen,  sie  in  Bresche 
zu  legen ;  auf  der  Südostseite  wagten  es  unsere  Angreifer  aus 
Furcht  vor  dem  Feuer  aus  dem  Reduit  vor  dem  Portale  nichts  die 
breite  Legationsstrasse  zu  überschreiten,   so  dass  die  norn 


263 

Setzung  dieses  Punktes  ausreichte,  gegen  welchen  die  Chinesen 
allerdings  ein  ebenso  verschwenderisches  als  erfolgloses  Feuer 
unterhielten. 

Die  Ostfront  und  die  Ställe  wurden  mit  allen  verfügbaren 
Leuten  besetzt,  um  den  Versuch  einzudringen  gleich  abweisen  zu 
können.  Nach  dem  betäubenden  Geschrei  und  Trompetenlärm,  sowie 
nach  der  Anzahl  der  Banner  zu  schliessen,  die  draussen  an  die 
Mauer  angelehnt  sein  mussten,  weil  sie  schon  über  deren  Krete 
hereinnickten,  attaquirten  uns  drei  Bataillone;  die  Mauer  begann, 
von  aussen  mit  Stangen  bearbeitet,  an  zwei  Stellen  bedenklich  zu 
wanken  und  abzubröckeln,  das  Feuer  gegen  die  Dächer  hörte 
keinen  Augenblick  auf,  gleichzeitig  wurden  wir  mit  Steinen,  bren- 
nenden Holzstücken  u.  s.  w.  beworfen.  Endlich  gaben  die  Dächer 
des  Nordstalles  nach,  ein  Stück  Mauer,  beiläufig  in  der  Mitte  des 
Hofes,  stürzte  unter  dem  Triumphgeschrei  der  Chinesen  ein,  aber 
schon  fielen  einige  von  ihnen  durch  die  Schüsse  der  an  der  Mauer 
postirten   Unsrigen. 

Gleich  darauf  wurden  einige  mit  brennendem  Werg  umwickelte 
Stangen  von  draussen  in  das  Gebälk  des  Nordstalles  geschoben, 
die  man  mit  Allem,  was  bei  der  Hand  war,  w^egzudrücken  versuchte, 
aber  die  zündende  Masse  fiel  herab  und  bald  brannte  es  dort 
lichterloh;  gleichzeitig  entstand  eine  zweite  Bresche,  die  halbe 
Sattelkammer  des  Südstalles  einnehmend;  auch  dort  bezahlten 
einige  beherzte  Chinesen  ihre  Kühnheit,  hereinschlüpfen  zu  wollen, 
mit  dem  Leben. 

Inzwischen  waren  —  ob  auf  Darcy's  Initiative  oder  auf  Chamot's 
Veranlassung,  darüber  gehen  die  Meinungen  auseinander  — 
fünf  Deutsche,  drei  Japaner  und  fünf  Engländer  als  Verstärkung 
herbeigekommen  und  unter  dem  Hagel  von  Wurfgeschossen  primi- 
tivster Art  und  hoch  über  unsere  Köpfe  wegpfeifender  Gewehr- 
projectile  erwarteten  wir  von  Minute  zu  Minute,  dass  sich  ein 
Strom  von  Stürmenden  durch  die  sich  stets  erweiternden  Breschen 
gegen  uns  entfesseln  würde.  Dicht  an  die  Mauer  gedrückt  hielt 
ein  Theil  der  Vertheidiger  seine  Gewehre  an  die  Breschen  ab 
und  zu  wurde  von  ihnen  ein  glücklicher  Schuss  abgegeben,  die 
Mehrzahl  musste  aber  aufgeboten  werden,  um  den  Brand  zu  dämpfen. 
Letzteres  war  keine  leichte  Aufgabe ;  statt  einer  Spritze  gab\s  nur 
wenige,  meist  durchlöcherte  Eimer,  ein  Glück,  dass  der  Stall  so 
nieder,  dass  man  das  Dachwerk  noch  mit  Stangen  einstossen  und 
niederreissen  konnte,  ein  noch  grösseres,  dass  leichter  südwestlicher 
Wind  die  Flammen  und  Funken  von  den  Hauptgebäuden  wegtrieb. 
Durch  den  theilweisen  Erfolg  ermuthigt,  warfen  die  Chinesen  jetzt 


264 

auch  Brandraketen,  eiserne,  mit  Brandsatz  und  angezündeten  Stup- 
pinen  g-efüUte  Röhren  herein,  die  nach  Art  der  bekannten  Schwärmer 
einige  Zeit  umhersprangen,  bis  sie  ein  Wasserguss  unschädlich 
machte. 

Man  gewöhnte  sich  allmählich  an  den  Höllenlärm  und  er- 
kannte schliesslich,  dass  diese  uniformirten  Pöbelmassen  ihre  Wuth 
hauptsächlich  durch  Zerstörung  des  Materials  kühlen  wollten  —  ja. 
um  den  Eindruck  von  einer  wüsten  Strassenscene  zu  vervollstän- 
digen, erhob  sich  zwischen  unseren  wenigen  Kulis  und  ihren  ausser- 
halb der  Mauer  tobenden  Landsleuten  ein  Duett  der  unfläthigsten 
Schimpfworte!  Dazu  unterschied  man  ab  und  zu  die  befehlende 
Stimme  eines  chinesischen  Officiers,  der,  selbst  in  den  hintersten 
Reihen  stehend,  seine  Leute  aneiferte,  doch  einzudringen  und  uns 
den  Garaus  zu  machen  —  aber  auch  manche  Antwort,  wie:  »Es 
geht  nicht,  die  weissen  Teufel  schiessen  ja«  —  und  Aehnliches. 

Einmal  wurde  aber  doch  eine  Leiter  über  der  Mauer  sicht- 
bar, einige  Schüsse  in  ihre  Holme  genügten  aber,  um  sie  ver- 
schwinden zu  machen,  und  als  wir  mit  einem  Haken  ein  Banner 
hereinreissen  wollten,  brachten  die  Tapferen  dieses  und  die  übrigen 
ausser  Reichweite. 

Inzwischen  hatte  auch  ein  Theil  des  Südstalles  P^uer  gefangen, 
das  aber  mit  Erde  und  Steinen  noch  rechtzeitig  gedämpft  wurde  — 
den  Nordstall  Hess  man  vorderhand,  so  lange  uns  der  Wind  günstig, 
weiterbrennen. 

Matrose  Tavagna,  der  bei  der  Südbresche  stand  und  schon 
einige  gute  Treffer  erzielt  hatte,  fiel  in  dem  Augenblicke,  wo  er 
sich,  unvorsichtig  geworden,  etwas  vorbeugte,  durch  einen  Schuss, 
der  seinen  Kopf  ganz  zerriss. 

Der  ganze  Angriff  dauerte  von  2'*/4  Uhr  nachmittags  bis 
Sonnenuntergang  —  also  nahezu  fünf  Stunden,  wahrlich  Zeit  genug 
für  unsere  Widersacher,  um  der  Vertheidiger  Herr  zu  werden, 
aber  zu   einem   herzhaften  Anlauf  reichte   alle   ihre  Raserei  nicht. 

Bei  Einbruch  der  Dunkelheit  verstummte  allgemach  der  Lärm 
und  die  Assistenzen  wurden  dankend  zurückgeschickt  —  es  war 
das  erste  und  letztemal,  dass  solche  in  der  französischen  Legation 
erschienen. 

Als  die  Chinesen  sich  zurückgezogen  hatten,  schlug  plötzlich 
der  Wind  um  und  gefährdete  so  die  kostbare  Ostfront;  mit  vieler 
Mühe  gelang  es  schliesslich,  den  Brand  im  Nordstall  zu  dämpfen, 
hingegen  entschlossen  wir  uns,  den  Südstall  selbst  in  Rauch  auf- 
gehen zu  lassen,  denn  seine  Mauern  verdeckten  die  eine  Bresche 
zur  Hälfte  und  hinderten  nur  den  Ausschuss. 


265 

Auf  der  einen  Seite  löschend,  auf  der  anderen  Seite  schürend, 
wurden  wir  nach  9  Uhr  von  einem  heftigen  Gewitter  überrascht; 
gleichzeitig  begann  wieder  aus  den  benachbarten  niedergebrannten 
Häusern  ein  äusserst  lebhaftes  Feuer  gegen  uns,  dessen  Intensität 
mit  jener  von  Donner,  Blitz  und  Regen  in  einem  unverkennbaren 
Zusammenhang  stand. 

Die  Schliessung  der  Breschen  konnte  schon  wegen  ihrer 
Grösse  nicht  vorgenommen  werden,  hingegen  einigten  sich  von 
Thomann  und  Darcy  dahin,  südlich  von  der  ausgedehntesten  eine 
Barricade  quer  über  den  schmalen  Hof  zu  ziehen,  welche  es  er- 
möglichte, den  grössten  Theil  des  letzteren  unter  Kreuzfeuer  zu 
nehmen ;  der  Bau  wurde  noch  in  der  Nacht  so  weit  gefördert,  dass 
bei  Tagesanbruch  eine  genügende  Deckung  vorhanden  war.  Die 
Vertheidigungsinstandsetzung  der  Ostfront  des  ganzen  Gebäude- 
complexes  erforderte  noch  mehrere  wichtige  Ergänzungen,  haupt- 
sächlich die  Demolirung  der  ihr  zugekehrten  Wände  der  an  die 
Umfassungsmauern  gebauten  Ställe  und  Dienerw^ohnungen.  Von 
dieser  Nacht  an  übernahmen  die  Oesterreicher- Ungarn  das  Thor- 
gebäude, die  vor  demselben  erbaute,  reduitartige  Barricade  und 
die  Hälfte  des  Hauses  Morisse,  die  Franzosen  die  ganze  übrige 
Ostfront  zur  Vertheidigung. 

Auch  die  übrigen  Stellungen  der  Fremden  wurden  gleich- 
zeitig wie  die  französische  Gesandtschaft  beschossen,  doch  hatten  die 
(Chinesen  gegen  keine  derselben  eine  ähnliche  Heftigkeit  und 
Ausdauer  wie  gegen  letztere  entwickelt;  M.  Pichon,  der  noch  in 
den  Vormittagsstunden  bei  uns  gewesen  und  auf  Grund  der  ersten 
zu  ihm  gelangenden  Informationen  schon  den  Verlust  seiner  Legation 
befürchten  musste,  beglückwünschte  noch  in  der  Nacht  die  Be- 
satzung zu  ihrem  Erfolge. 

Tavagna's  bis  zur  Unkenntlichkeit  entstellte  Leiche  wurde 
während  des  Gewitters  bestattet. 

Nach  Abschlag  der  dauernd  ins  Fu  detachirten  betrug  die 
Zahl  der  Vertheidiger  der  französischen  Gesandtschaft  nur  mehr 
33  französische,  20  österreichisch-ungarische  Matrosen  und  —  das 
Ehepaar  Rosthorn  inbegriffen  —  14  Freiwillige;  die  Strassenbarri- 
caden  waren  endgiltig  verloren,  aber  dieser  Umstand  erschwerte 
die  Aufgabe,  den  so  wichtigen  Punkt  zu  halten,  nur  noch  mehr, 
denn  die  Bewachung  der  Breschen  und  der  Ostmauer  überhaupt, 
an  welcher  die  Chinesen  jetzt  ungehindert  ihr  Zerstörungswerk 
fortsetzen  konnten,  endlich  die  unmittelbare  Nähe  des  Feindes  — 
acht,  stellenweise  sogar  nur  sieben  Meter  —  absorbirte  eine 
grössere    Anzahl    Wachen    und    stellte    an    ihre    Aufmerksamkeit 


266 

höhere  Anforderungen,  als  zur  glücklicheren  Zeit  des  Besitzes  der 
Barricaden  nöthig  gewesen. 

Infolgedessen  musste  die  Betheiligung  an  der  Besetzung  der 
östlichen  Barricade  auf  der  Stadtmauer  sistirt  werden,  umsomehr 
als  die  Japaner  am  30.  Juni  morgens  eine  bisher  von  ihnen  ge- 
haltene an  der  Nordseite  der  französischen  Gesandtschaft  gelegene 
Strassenbarricade  wegen  ihrer  bisherigen  Verluste  an  uns  über- 
gaben; letztere  wurde  von  drei  französischen,  zwei  österreichisch- 
ungarischen  Matrosen  und  zwei  Freiwilligen  besetzt  und  bildete, 
weil  dort'  ein  steter  Contact  mit  in  die  Nähe  geflüchteten  chine- 
sischen Christen  bestand,  ein  Feld,  wo  die  sprachkundigen  Herren 
Picard-Destelan,  Veroudart  und  Feit  ausserordentlich  Wichtiges 
leisteten. 

Fast  die  ganze  Nacht  vom  29.  auf  den  30.  Juni  dauerte  das 
Gewehrfeuer  gegen  unsere  Stellung  an  und  ging  erst  am  Morgen 
in  ein  »sniping«  über,  mit  welchem,  dem  englischen  Soldatenjargon 
entlehnten,  sehr  treffenden  Ausdruck  die  Bemühungen  wohlver- 
borgener chinesischer  Schützen  bezeichnet  wurden,  einzelne  Schüsse 
anzubringen.  So  schlecht  die  grosse  Masse  der  Soldaten  die  Gewehre 
zu  benützen  verstand,  so  gut  und  sicher  schössen  einige  der  »snipers« 
die  es  gleichzeitig  sehr  geschickt  anstellten,  sich  unseren  suchenden 
Blicken  zu  entziehen.*) 

Wir  hatten  Gelegenheit,  unsere  Befestigungen  auszubauen,  was 
allerdings  die  ganze  Besatzung  vollauf  beschäftigte,  und  wurden 
erst  nachmittags  durch  eine  erneuerte  heftige  Beschiessung  der 
Ostmauer  und  einen  Brand  in  den  Trümmern  des  Nordstalles  ge- 
stört, den  unsere  Gönner  jenseits  der  Mauer  mit  den  schon  be- 
kannten Mitteln  verursacht  hatten;    diesmal  brannte  er  völlig  aus. 

Hingegen  kostete  der  Tag  den  Deutschen  und  Japanern 
schwere  Opfer;  erstere  verloren  auf  der  Stadtmauer  und  in  den 
Häusern  östlich  ihrer  Gesandtschaft  nicht  weniger  als  drei  Todte, 
drei  Schwer-  und  zwei  Leichtverwundete,  so  dass  sie  um  Ver- 
stärkung durch  die  Engländer  ansuchen  mussten.  Von  den  auf  die 
Mauer  entsendeten  zehn  englischen  Seesoldaten  wurden  zwei  ver- 
wundet ;  abends  gingen  vier  bisher  in  der  britischen  Gesandtschaft 
thätige  Freiwillige,  darunter  auch  unser  Landsmann  Herr  Wihlfahrt 

*)  Einen  dieser  »snipers«,  die  natürlich  alle  mit  rauchlosem  Pulver  schössen,  konnten 
wir,  wiewohl  er  durch  volle  zwölf  Tage  sein  Unwesen  gegen  die  Thorbarricade  trieb,  trotz 
aufmerksamster  Beobachtung  mit  dem  Glase  und  der  Nähe  seines  Versteckes  —  im 
Hause  gegenüber  auf  der  Südseite  der  Legationsstrasse  —  absolut  nicht  entdecken;  der 
alte  Fuchs  ging  auch  nicht  in  die  zu  Lederstrumpf's  Zeiten  übliche  und  in  PeWa^ 
einigemale  mit  Erfolg  angewendete  Falle  mit  der  absichtlich  gezeigten  up^ 
lassenen  Kopfbedeckung. 


267 

als  Assistenz  zu  den  deutschen  Posten.  Die  Japaner  mussten,  durch 
Brände  gezwungen,  einen  Hof  räumen. 

Die  Geschütze  auf  dem  Tschien-men  waren  besonders  gegen 
die  deutsche  Legation  und  die  Ostbarricade  auf  der  Mauer  thätig; 
gegenüber  der  russisch-amerikanischen  hatten  die  Chinesen  im 
Laufe  der  letzten  Nächte  weitere  Angriffsbarricaden  vorgeschoben, 
auch  schon  den  westlichen  Aufgang  der  Rampe  auf  mehr  als  halbe 
Hohe  in  ihren  Besitz  gebracht  und  waren  derart,  durch  Deckungen 
geschützt,  den  Amerikanern  immer  näher  gekommen. 

Wieder  stand  ein  ganz  uncontrolirbares  Gerücht  vom  Herannahen 
eines  Entsatzes  —  diesmal  wurde  von  2000  Japanern  gesprochen  — 
im  Umlauf,  ja  Einzelne  gingen  so  weit,  sich  auf  einen  angeblichen 
Ausspruch  des  Oberstlieutenants  Shiba,  der  hieran  gewiss  aber  keinen 
Antheil  hatte,  zu  berufen  und  die  bereits  erfolgte  Ankunft  dieser 
Truppen  in  Tungtschau  zu  colportiren ;  spät  am  Abend  sollte  auch 
noch  ein  Lichtschimmer  am  südöstlichen  Horizont  beobachtet 
worden  sein,  der  als  Signal  der  herannahenden  Colonne  gedeutet 
wurde.  Thatsächlich  ersuchte  Sir  Claude,  die  farbigen  Signalpatronen, 
welche  das  Detachement  »Zenta«  mitgebracht  hatte,  von  der  Mauer 
aus  abfeuern  zu  lassen,  was  auch  um  10  Uhr  geschah  —  aber  es 
kam  nichts,  das  als  Erwiderung  hätte  angesehen  werden  können. 

Nachtsüber  wurde  am  Fusse  der  Stadtmauer  stärkeres  Schiessen 
hörbar,  dreimal  eröffneten  die  Chinesen  auch  gegen  uns  ein  jedes- 
mal nur  kurz  andauerndes  Feuer.  Dies  hatte  jedoch  eine  besondere 
Bewandtniss.  Mit  dem  Ziegelbau  unserer  Barricaden  innerhalb  der 
Legation  fertig,  wollten  wir  sie,  um  die  Splitterwirkung  zu  ver- 
meiden, mit  Erdsäcken  krönen  und  brauchten  dazu  die  der  nun 
verlassenen  Strassenbarricaden ;  wir  hatten  alle  Säcke  aus  der 
Customsstrasse  und  einen  Theil  auch  schon  von  der  Ostbarricade 
glücklich  hereingebracht,  als  die  Chinesen  aufmerksam  wurden  und 
von  beiden  Seiten  aus  nächster  Nähe  auf  unsere  von  Thomann 
und  Rosthorn  geführte,  aus  einigen  Europäern  und  etwa  einem 
halben  Dutzend  Kulis  bestehende  Partie  schössen,  was  sich  auch 
bei  zwei  neuerlichen  Versuchen  wiederholte. 

In  der  zweiten  Hälfte  der  Nacht  fiel  starker  Gewitterregen, 
jeder  dichtere  Schauer  auch  von  einem  heftigeren  Gewehrfeuer 
der  Chinesen  begleitet;  für  unsere  Arbeiten  kam  das  himmlische 
Nass  recht  ungelegen,  denn  die  durchtränkten  Erdsäcke  fingen 
durch  das  vermehrte  Gewicht  an  zu  reissen,  was  uns  zwang,  einst- 
weilen jede  Arbeit  damit  einzustellen. 

Am  folgenden  Tag,  dem  1.  Juli  verlustreichen  Angedenkens, 
erofl^eten  die  Chinesen  das  Feuer  zuerst  gegen  die  von  Deutschen 


268 

und  Engländern  besetzte  Ostbarricade  auf  der  Stadtmauer  und 
überraschten,  die  Mauer  ersteigend,  die  Wache,  welche  sich  nun 
in  einem  heftigen  Kreuzfeuer  befand  und  gegen  8V4  Uhr  zu- 
rückzog. Soden  rückte  zwar  allsogleich  mit  einer  Verstärkung  an, 
erkannte  es  aber  als  ein  Ding  der  Unmöglichkeit,  die  Barricade 
zurückzuerobern.  Die  Amerikaner  verliessen  daraufhin,  im  Rücken 
bedroht,  ebenfalls  ihren  Posten.  Die  Nachricht  von  diesem  die 
ganze  Stadtmauer  unseren  Gegnern  überantwortenden  Ereigniss 
kam  uns  durch  die  Deutschen  zu,  so  dass  von  Thomann  sich  zu 
ihnen  begab,  um  darüber  Näheres  zu  erfahren. 

Während  seiner  Abwesenheit  begannen  ein  oder  zwei  chine- 
sische, auf  kurze  Entfernung  im  Nordosten  von  uns  aufgestellte 
Geschütze  ein  Granatfeuer  gegen  das  Ministerhaus  und  die  unter 
dem  Namen  »Bienensalon«  bekannte  grosse  Halle;  gleichzeitig 
rückten  die  Angriffstruppen  wieder  unter  heftigem  Gewehrfeuer  und 
mit  betäubendem  Getöse  von  Norden  und  Osten  her  gegen  die 
breschirte  Mauer  vor.  Der  vierte  Schuss  aus  den  Geschützen  riss 
dem  französischen  Freiwilligen  Wagner,  der  eben  mit  einer  Meldung 
zu  Darcy  gelaufen  kam,  die  Hälfte  des  Kopfes  weg,  Granate  um 
Granate  traf  die  Gebäude.  Darcy  glaubte  endlich  nicht  mehr  halten 
zu  können  und  Hess  zum  Rückzug  blasen,  um  die  letzte  Vertheidigungs- 
linie,  die  Ostseite  des  Hotels  zu  besetzen.  Durch  die  durchwachte 
Nacht  und  heftige  Schmerzen  in  meinem  verwundeten  Auge  über- 
müdet, hatte  ich  mich  kurz  vor  8  Uhr  in  das  finstere  Hinterzimmer 
des  Fremdenpavillons  zurückgezogen,  um  vielleicht  doch  etwas 
Erholung  zu  finden,  als  einer  unserer  Leute  hereinstürzte,  um  mich 
vom  Rückzug  zu  verständigen,  dem  ich  mich  nur  mehr  als  einer 
der  Letzten  ausschliessen  konnte. 

Im  Hotel  wurden  sogleich  die  von  seinem  Besitzer  herge- 
richteten Stände  bezogen ;  kurz  darauf  eilte  von  Thomann  herbei 
und  veranlasste  die  Wiederbesetzung  der  französischen  Gesandt- 
schaft, in  die  auch  diesmal  die  Chinesen  nicht  nur  nicht  einge- 
drungen waren,  sondern  von  der  sie  sich  beim  Klang  des  Signal- 
hornes eiligst  wieder  zurückgezogen  hatten,  von  Thomann  hat 
durch  sein  Eingreifen  bei  dieser  Gelegenheit  der  Vertheidigiing 
einen  Dienst  von  grosser  Tragweite  geleistet,  denn  trotz  aller 
Defensivbauten  Chamot's  hätte  das  Hotel  doch  nicht  halb  so  lange 
Stand  halten  können  als  die  bereits  arg  beschädigte  Gesandtschaft. 
Darcy  gesteht  in  seiner  jede  Beschönigung  verachtenden  gross- 
herzigen Weise  offen  zu,  dass  er,  durch  die  schlimmen  Nachrichten 
über  die  Lage  auf  der  Mauer  irregeführt  und  durch  den  Effect 
des  Geschützfeuers    beeinflusst,    das  zum    erstenmale    aus    soldu^ 


1    Nähe  gegen  uns  zur  Anwendunj;;-  kam,  tjinen  Augenblick  die  Sicher-                  1 
P     heit  der  Beurtheilung  verlor.                                                                                               M 
Seine   eigenen  Worte,   welche    seinen    vornehmen   Charakter               H 
gewiss  mehr  als  irgend  etwas  Anderes  hervortreten  lassen,  sind  aber               H 
in  einem  wesentlichen  Punkte  lückenhaft    und  zur  besseren  Beur-               1 
thetlung,  wie  er  überhaupt  einen  Moment  sich  selbst  untreu  werden 
konnte,  muss  ich  anführen,  dass  er  an  dem  Tage  physisch  schwer 
litt;  Fieber  und  ein  Dysenterie- An  fall  hatten  seine  durch  continuir- 
liehe    moralische    Anspannung    und   Strapazen    übermässig    bean- 
spruchten Kräfte  in  einem  Masse  erschöpft,    dass  manch  Anderer 
überhaupt  seine  Pflicht  an  einen  Stellvertreter  übertragen  hätte. 

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Kaum  wieder  in  unseren  Mauern,  erlebten  wir  dasselbe,  was               H 

■     uns  schon  am  22.  Juni  aufgefallen  war,    ein  erneuertes,    durch  die               1 

1    Erkenntniss  der  Grundlosigkeit  ihrer  .\ngst  verschärftes  Vorgehen                1 

W     der  Chinesen  ;  von  10'/»  Uhr  bis  Mittag  tobten  sie  wieder  an  unseren                 1 

r     Mauern  und  beschossen  uns  zum  er.stenmale  aus  den  Häusern  gegen-                   ^ 

Über  dem  Portal,  in  denen  sie  nun  dauernd  festen  Fuss  fassten  und                  1 

sich  dementsprechend  einrichteten.  Dadurch  waren  wir  nun  an  zwei                  1 

Seiten  eng  umklammert,  in  der  Customsstrasse  nur  durch  die  Um-                  1 

(assungsmauer,  in  der  schon  eine  dritte  Bresche  entstanden  war,  und                  1 

den  ganz  schmalen  Hof,  im  Süden  nur  durch  die  Breite  der  Legations-                 J 

Strasse,  also  etwa   16  Schritt  von  unseren  Widersachern  getrennt.                | 

Drei  weitere,  gegen  die  deutsche  Gesandtschaft  zu  gelegene                ■ 

Hüuser  gingen    noch  am  Vormittag   in  Rauch   und  Flammen   auf.      ^^^H 

270 

das    gewöhnliche    Vorspiel,    ohne    welches   sich    die    chinesischen 
Krieger  nun  einmal  nicht  behaglich  machen  konnten. 

Inzwischen  hatten  die  Amerikaner  und  Russen,  späterhin 
noch  durch  zehn  Engländer  unterstützt,  die  Westbarricade  auf  der 
Stadtmauer  um  10  Uhr  vormittags  wieder  besetzt  und  den  Bau 
einer  etwas  östlich  des  Canaldurchlasses  gelegenen  begonnen,  wo- 
bei Captain  Wray  leicht  verwundet  wurde;  auch  auf  der  Stadt- 
mauer war  den  Chinesen  somit  ihr  g^össter  Vortheil  glücklicher- 
weise entgangen. 

Nachmittags  hatten  wir  einen  dreistündigen  AngriflF  von  einer 
noch  grösseren  Intensität  als  am  29.  Juni  zu  bestehen.  Diesmal 
wurden  die  Häuser  Morisse  und  Saussine  vom  Geschützfeuer 
besonders  stark  hergenommen,  ihre  Dächer  und  die  oberen 
Theile  der  Mauern  zerfielen,  aber  durch  die  Erfahrungen  jenes 
Tages  über  den  Werth  solcher  Spectakel-Anstürme  orientirt,  liess 
man  die  Leute  soweit  als  möglich  vor  den  Granaten  in  Deckung 
und  begnügte  sich,  die  Breschen  zu  überwachen. 

Durch  den  auch  bei  dieser  Gelegenheit  nicht  fehlenden  Stein- 
hagel wurde  von  Thomann  am  Hinterhaupt,  ein  Franzose  an  der 
Schulter  verwundet. 

In  der  Legationsstrasse  setzten  sich  die  Chinesen,  von  denen 
einige  beim  Ueberschreiten  des  freien  Stückes  Strasse  fielen,  in  der 
von  uns  verlassenen  Barricade  fest  und  gaben,  unsere  einstige 
Rückendeckung  ausnützend,  ein  im  Ganzen  wieder  harmloses, 
maschinenmässig  unterhaltenes  Feuer  gegen  das  Hauptthor  und 
das  Blockhaus  ab,  welch  letzteres  sich  vorzüglich  bewährte. 
Um  5  Uhr  hörte  das  Gewehrfeuer  auf  und  verschwanden  die 
Chinesen  aus  der  Strassenbarricade :  vom  Reduit  aus  beobachteten 
wir.  wie  an  Stelle  der  alten  italienischen  Barricade  aus  Balken 
und  Steinen  ein  massiver  Verhau  entstand,  doch  vermochten  wir 
nur  selten  einen  der  dort  Beschäftigten  zu  Schuss  zu  bekommen. 
Eine  Viertelstunde  nach  dem  Einstellen  des  allgemeinen  Feuers 
warf  ein  etwa  auf  4CM)  Meter  im  Südosten  postirtes  Geschütz  sieben 
Granaten  in  das  Dach  des  Thorgebäudes,  welches  zwar  durch- 
schlagt^n  wurde,  dank  seiner  starken  Construction  aber  im  Ganzen 
noch  hielt.  Die  uns  unsichtbar  bleibenden  chinesischen  Artilleristen 
zielten  ganz  anerkennenswerth  gut.  die  Treffer  lagen  dicht  um  ein 
und  denselben  Punkt,  was  andererseits  sehr  zu  unserem  Vortheile  ge- 
r^richte.  denn  nach  dem  ersten  Schusse  wusste  man,  wohin  die  Leute 
in  lM"zkunir  brinvren.  und  so  sahen  wir  vom  Blockhaus,  also  auf  fünf 
bi>  sechs  Meter  dem  Einschlagen  der  Granaten  zu,  ohne  dass  ein 
Mann  verwundet  worden  wäre. 


271 

Da  das  Bombardement  der  Hauptgebäude  schon  geraume  Zeit 
früher  geschwiegen,  bevor  das  Thorgebäude  an  die  Reihe  kam,  als 
Ziel  zu  dienen,  und  dieses  zudem  aus  einer  ganz  anderen  Richtung 
beschossen  wurde,  lag  der  Schluss  nahe,  dass  in  beiden  Fällen  das 
oder  dieselben  Geschütze  in  Action  gebracht  wurden;  ähnliche 
Beobachtungen  sind  auch  fernerhin  unÄ  an  verschiedenen  Punkten 
angestellt  worden  und  lassen  die  Annahme  gerechtfertigt  erscheinen, 
dass  gegen  das  Legationsviertel  überhaupt  nur  fünf  bis  sechs 
moderne  Geschütze,  75  und  57  Millimeter  verwendet  wurden. 

Schon  vormittags  hatten  die  Chinesen  dgiS  Fu  vom  Norden  her 
auf  kurze  Distanz  mit  Granaten  beschossen,  endlich  eine  Bresche  in 
die  äussere  Mauer  gelegt  und  setzten  dann  das  Feuer  gegen  die 
Gebäude,  in  und  hinter  denen  die  christlichen  Chinesenflüchtlinge 
untergebracht  waren,  fort ;  Schiffs-Lieutenant  Paolini,  ausser  Stande, 
die  Bedienungsmannschaft  des  Geschützes  durch  seine  Leute  unter 
Feuer  nehmen  zu  lassen,  entschloss  sich  gegen  SV*  Uhr  nachmittags 
in  Gemeinschaft  mit  den  Japanern  und  durch  einige  Engländer, 
Freiwillige  und  Seesoldaten  unterstützt,  zu  einem  Ausfall,  um  die 
Kanone  w^omöglich  sammt  Munition  wegzunehmen.  Er  selbst  führte 
seine  Leute,  dann  zwei  Oesterreicher-Ungarn  und  drei  Franzosen 
von  der  Fu-Besatzung,  sowie  die  Engländer  von  der  Westseite  aus 
entlang  der  Nordmauer,die  Japaner  unter  Hauptmann  Ando  nahmen 
ihren  Weg  an  der  Ostseite,  um  so  den  Chinesen  in  die  Flanke  zu  fallen. 

Der  italienische  Officier  war  mit  seiner  Schaar  in  raschem 
Anlauf  schon  bis  auf  ungefähr  10  Schritt  von  einer  Barricade  an- 
gelangt, hinter  welcher  er  das  Geschütz  vermuthete,  als  die  Chinesen 
ein  mörderisches  Feuer  eröffneten ;  Paolini  fiel  durch  einen  Schuss 
in  den  linken  Oberarm  schwer  verwundet,  ein  italienischer  Matrose 
tödtlich  getroffen,  ein  französischer  Unterofficier  erhielt  einen 
Schuss  durch  den  Arm.  In  der  engen  Sackgasse  konnten  die  Nach- 
folgenden nicht  so  rasch  vor  und  so  musste  der  Führer  das  Zeichen 
zum  Rückzug  geben,  während  dessen  noch  ein  zweiter  Italiener 
fiel  und  ein  weiterer  verwundet  wurde.  Mit  Mühe  und  Noth  konnten 
Paolini  und  der  zuerst  getödtete  Italiener  durch  ein  glücklicher- 
weise während  des  Rückzuges  entdecktes  Loch  in  der  Nordmauer 
geborgen  werden  und  der  Rest  sich  ausser  Feuerbereich  zurück- 
ziehen ;  die  beiden  Oesterreicher  und  zwei  Franzosen  setzten  un- 
beirrt durch  den  ihnen  nachgesendeten  Kugelregen  ihren  Weg  bis 
über  die  Nordwestecke  des  Fu  fort  und  überstiegen  erst  dort  beim 
franzosischen  Posten  die  Mauer.*) 

*)  Gerichtlich  erhobener  Thatbestand,  der  die  unqualiticirbare  Bemerkung  Dr. 
Morrisons,    Italicner    und    Oesterreicher    hätten     wie   die    wilden   Thiere   um    das 


272 

Einer  der  englischen  Freiwilligen  wurde  noch  im  letzten 
Augenblicke  verwundet,  hatte  aber  noch  die  Energie,  das  Gewehr 
eines  der  gefallenen  Italiener  zu  bergen.  Auch  die  Japaner  mussten 
vor  einem  übermächtigen  Feuer  umkehren  und  verloren  je  einen 
Todten  und  Verwundeten;  bei  diesen  für  die  Besatzung  des  Fu 
so  schwerwiegenden  Verlusten  war  noch  der  Umstand  besonders 
beklagenswerth,  dass  die  Leiche  des  italienischen  Matrosen  Bosca- 
rini  den  schänderischen  Händen  der  Chinesen  nothgedrungen  über- 
lassen werden  musste. 

An  Stelle  des  sfhwerverwundeten  Schiffs  -  Lieutenants  über- 
nahm Herr  Caetani,  Secretär  der  italienischen  Gesandtschaft,  den 
Dienst  im  Nordwesttheile  des  Fu. 

Das  Schlussergebniss  des  Tages  war  traurig  genug:  fast  die 
ganze  Stadtmauer  den  Chinesen  preisgegeben,  die  Gebäude  der 
französischen  Gesandtschaft  durch  Geschützfeuer  schwer  beschädigt, 
die  Chinesen  in  der  Legationsstrasse  in  einer  Position  festgesetzt, 
von  wo  sie  die  deutsche  und  französische  Legation  jeden  Augen- 
blick scharf  angreifen  konnten,  und  die  Vertheidiger  wieder  um 
fünf  Todte   und  mehr   als  ein   halbes  Dutzend  Verwundete  ärmer. 

Wagner's  Schicksal,  der  noch  in  der  Nacht  so  unermüdlich  mit- 
gebaut hatte,  ging  uns  besonders  zu  Herzen.  Kurz  vor  Sonnen- 
untergang kamen  wir  endlich  zur  Ruhe,  auch  die  Chinesen  zogen 
ihre  au  der  Ostmauer  und  jenseits  der  Legationsstrasse  aufge- 
stellten Banner  ein;  endlich  fiel  Regen  und  die  Nacht  verlief  auf 
dem  Ostflügel  ruhig  bis  auf  kurze  Fusilladen  um  10  Uhr,  Mitter- 
nacht und  3  Uhr.  Solche  nächtliche  Störungen,  die  man  aber  bald 
nicht  mehr  ernst  nahm,  erfolgten  von  nun  an  mit  einer  gewissen 
Regelmässigkeit;  wenn  der  Spuk  gar  zu  arg  wurde,  gab  dann  die 
Wache  des  gerade  beschossenen  Punktes  zwei,  drei  Salven  ab  — 
man  bedenke,  wie  formidabel :  fünf  Gewehre  höchstens  —  und 
wenn  nur  das  Commando  recht  laut  und  scharf  ertönte  und  die 
Schüsse  hübsch  zusammenklappten,  was  unsere  deutschen  Kame- 
raden »flutschen«  nannten,  so  gaben  unsere  offenbar  nie  über  con- 
tractliche  Verpflichtungen  hinausgehenden  Widersacher  die  weitere 
Thätigkeit  auf. 

x\m  2.  Juli  morgens  sandte  M.  Pichon  briefliche  Nachricht, 
dass  Sir  Claude  am  Vorabend  in  südöstlicher  Richtung  elektrische 
Signale  gesehen  habe ;  nach  ihrer  Art  und  der  Entfernung  könnten 


rettende  Loch  in  der  Mauer  gekämpft  und  so  die  Engländer  aufgehalten,  wohl 
{gründlich  widerlegt.  Die  Engländer  fanden  übrigens  eine  Deckung  an  einem  Häuschen 
gegenüber  dem  Mauerloche  und  hatten  somit  genügend  Zeit,  zu  zwei  und  zwei  hinüber- 
zulaufen,  was  als  eine  That  von  besonderer  Geistesgegenwart  geschildert  wird. 


273 

sie  nur  vom  Apparat  des  »Terrible«  herrühren,  welcher  schon  vor 
Ladysmith  so  Erspriessliches  geleistet  habe.  Sir  Claude  sei  seiner 
Sache  ganz  sicher  und  schliesse  aus  der  ganzen  Erscheinung,  dass 
ein  starkes  Entsatz-Corps  in  unserer  Nähe  und  längstens  in  zwei 
Tagen  vor  den  Thoren  sein  müsse. 

Die  Botschaft  hörten  wir  wohl,  doch  uns  fehlte  der  Glaube  — 
die  Wenigen  ausgenommen,  denen  Geschriebenes  von  vornherein 
als  unumstössliche  Wahrheit  vorkam!*) 

Diesen  Tag  über  erfreuten  wir  unvS  der  Ruhe  und  benützten 
sie  zum  Ausbau  unserer  Befestigungen;  vom  Thorgebäude  aus 
Hess  von  Thomann  eine  neue  Barricade  zu  der  grossen  Empfangs- 
halle hinüber  errichten,  um  die  neu  entstandene  Bresche  in  der 
Ostmauer  bestreichen  zu  können,  und  an  der  Westseite  des  Minister- 
hauses wurde  auf  Darcy's  Veranlassung  eine  weitere  aufgeführt, 
die  den  eventuellen  Rückzug  decken  sollte. 

Nachmittags  beschossen  die  Chinesen  von  Norden  her  den 
oberen  Theil  des  Hotels;  von  Rosthorn,  Kollaf  und  ich  ermittelten 
vom  Dach  des  Glashauses  aus  den  Aufstellungspunkt  des  Ge- 
schützes im  Nordosten  des  Fu.  Wieder  sah  man  nur  Feuerstrahl 
und  Rauch,  und  da  wir  nahe  an  dieser  Stelle  einen  japanischen 
Posten  wussten,  wurde  die  Absicht,  die  chinesischen  Artilleristen 
mit  Gewehrfeuer  zu  vertreiben,  wegen  zu  grosser  Gefahr  für 
unsere  Waifengefahrten  aufgegeben. 

Neun  Schüsse  trafen  das  Hotel,  verwüsteten  die  Zimmer  des 
zweiten  Stockwerkes  und  nach  dem  21.  Schusse  wurde  das  Feuer 
wieder  gegen  das  Fu  gerichtet;  der  Schaden  an  den  Mauern  des 
Hotels  war  kein  allzu  grosser.  Dafür  verband  Chamot  an  diesem 
Tage  sein  Haus  mit  der  deutschen  GevSand tschaft  durch  eine  starke 
Ziegelbar ricade  mit  Rückendeckung,  die,  später  immer  mehr  ver- 
vollkommnet, für  die  Vertheidigung  ausserordentlichen  Nutzen 
brachte;  von  ihr  aus  beherrschte  man  die  Legationsstrasse  bis 
zum  Verhau  der  Chinesen  bei  der  ehemaligen  italienischen  Barricade. 

Oberstlieutenant  Shiba  zeigte  an,  dass  er  durch  das  heftige 
Bombardement  vor-  und  nachmittags  gezwungen  worden  sei,  sich 
etwas  weiter,  auf  das  im  Fu  befindliche  Theatergebäude  zurück- 
zuziehen, und  kündigte  an,  dass  er  voraussichtlich  w^ieder  in  die 
Lage  kommen  werde,  fallweise  AssivStenz  anzusprechen ;  dies  wurde 
ein-  für  allemal  bereitwilligst  zugesagt,  freilich  mit  dem  nur  ganz 


*)  In  seinem  officiellen  Bericht  gesteht  Sir  Claude  selbst  nachträglich  zu,  dass 
er  die  VeröflFcntlichung  seiner  Beobachtungen  hauptsächlich  zur  Ermuthigung  der 
»Garnison«  bewirkt  habe ;  letzteres  war  aber  ebenso  wenig  nöthig,  als  der  Glaube  an  die 
M.  IHchon  mitgetheilten  Folgerungen  fest. 

Wiaterhalder:  Kämpfe  in  China.  18 


natürlichen  Vorbehalte,  dass  die  l.age  bei  uns  überhaupt  die  Ab* 
Sendung  von  Verstärkungen  zulasse.  Shiba's  Persönlichkeit  war  ja 
allein  schon  eine  genügende  Garantie,  dass  er  ein  solches  Verlangen  ; 
nur  in  Fällen  zwingender  Noth  stellen  werde;  im  Uebrigen  wurde 
er  ersucht,  sich  vorkommenden  falls,  um  Zeit  ku  gewinnen,  ohne 
den  Umweg  über  Sir  Claude  directe  an  die  Besatzung  der  fran- 
zösischen Legation  zu  wenden. 

Die  deutsche  Gesandtschaft  erhielt  einige  Granaten,  die  dem   , 
Hotel  vermeint    gewesen,    und  von    der  Stadtmauer    aus    einzelne 
Schüsse,    von   denen   einer   den    Posten    auf  dem   Dachboden  des 
Secretärshauses  tÖdtlich  traf. 

Die  Chinesen  waren  an  diesem  regnerischen  2.  Juli,  von  den 


bereits  aufgezählten  Beschiessungen  abgesehen,  hauptsächlich  mita 
Arbeiten  auf  der  Stadtmauer  thätig;  im  Osten  und  im  Westen  I 
schoben  sie  neue  AngrifFsbarricaden  vor,  an  crsterer  Stelle  bisl 
etwa  50  Schritt  westlich  der  in  ihre  Hände  gefallenen  Barricadc,  1 
im  Westen  rückten  sie  den  Amerikanern  und  Russen  langsam  bisJ 
auf  etwa  zwanzig  Meter  näher  und  errichteten  eine  Art  Thurm,  1 
von  wo  aus  sie  die  amerikanisch-russische  Besatzung  eiiischossen 
und  —  mit  Steinen  bewarfen. 

Auf  der  Aufstiegarampe  standen  sich  Amerikaner  und  Tung;- 
1-uhsiang- Soldaten  noch  viel  naher  gegenüber,  so  dass  dieSitua-J 
tion  dort  äusserst  kritisch  wurde;  Myers  entschloss  sich  daherJ 
während  der  Nacht   die  nächstgelegenen  gegnerischen  Barrici 


275 

durch  einen  Handstreich  zu  nehmen  und  derart  die  breite  Bastion 
in  Besitz  zu  bekommen. 

Die  Nacht  war  sehr  dunkel  und  regnerisch,  somit  äusserst 
günstig;  einigemale  entwickelte  sich  wieder  lebhaftes  Feuer.  Um 
2  Uhr  morgens  vertrieb  die  Besatzung  der  amerikanisch-russischen 
Stellung,  verstärkt  durch  25  Engländer,  worunter  der  Freiwillige 
Mr.  Nigel  Oliphant,  nach  kurzer,  aber  heftiger  Gegenwehr  in  einem 
Anlaufe  die  Chinesen  aus  ihren  Barricaden  und  Zelten  und  be- 
setzte die  Bastion. 

Dieser  für  die  Zukunft  ausserordentlich  wichtige  Erfolg  wurde 
allerdings  mit  genug  schweren  Opfern  erkauft:  zwei  Amerikaner, 
ein  Russe  todt,  Myers  durch  einen  Lanzenstich,  drei  Engländer 
und  zwei  Russen  meist  schwer  verwundet;  von  den  Chinesen 
blieben  25  auf  dem  Platze. 

Die  genommenen  Barricaden  und  damit  auch  die  Westseite 
der  Rampe  wurden  ohne  Zeitverlust  unter  heftigem  Feuer  sogleich 
verstärkt  und  mit  den  bisherigen  durch  einen  vertieften  Weg  ver- 
bunden; von  nun  an  war  diese  Stellung  auf  der  Mauer  eine  der 
besten  und  konnten  unter  dem  Schutze  der  zwei  westlicher  ge- 
legenen Barricaden  auch  successive  Schutzbauten  weiter  gegen 
Osten  errichtet  werden,  die  späterhin  mit  einer  östlich  vom  Canal- 
gitter  aufgeführten  Brustwehr  abgeschlossen  wurden  und  zusammen 
den  Namen  »Fort  Myers«  erhielten. 

Den  ganzen  Morgen  und  Vormittag  des  3.  Juli  über  dauerte 
ein  schwerer  Regen,  der  den  Canal  mit  einer  schmutzigen  Flut 
erfüllte  und  unpassirbar  machte.  Von  der  Stadtmauer  her  beschossen 
zwei  Geschütze  dieSecretärshäuser  der  deutschen  Gesandtschaft,  sonst 
wurden  bis  Mittag  nur  das  Fu  und  die  amerikanische  Gesandtschaft 
langsam  bombardirt;  nachmittags  fielen,  anscheinend  aus  den  erst- 
genannten Geschützen,  fünf  Granatschüsse  in  das  Dach  des  Thor- 
gebäudes, die  aber  relativ  wenig  Schaden  anrichteten.  Das  »Sniper«- 
Feuer  hielt  den  ganzen  Tag  an  und  wurde  gegen  uns  hauptsäch- 
lich aus  den  gegenüberliegenden  Häuserruinen  in  der  Legations- 
strasse  und  aus  einem  Seitengässchen  der  Customsstrasse  abgegeben, 
in  letzterem  warfen  die  Chinesen  Barricaden  auf,  die  der  Haupt- 
bresche in  unserer  Ostmauer  gerade  gegenüber  standen. 

Ueber  den  Verlust  ihrer  Barricaden  auf  der  Westseite  der 
Stadtmauer  ergrimmt,  überschütteten  die  das  Tschien-men  besetzt 
haltenden  Soldaten  die  amerikanisch-russische  Stellung  mit  Gewehr- 
feuer, das  letzterer  jedoch  nichts  mehr  anhaben  konnte. 

Nach  einer  auf  Veranlassung  Sir  Claude's  verfassten  Zusammen- 
stellung betrugen  an  diesem  Tage,  dem  vierzehnten  seit  Eröffnung 

18* 


276 

der  Feindseligkeiten,  die  Gesammtverluste  bereits  38  Todte  und 
55  Verwundete,  wobei  unter  letzteren  die  leichteren,  ausserhalb  des 
Hospitales  behandelten  Fälle  gar  nicht  mitgerechnet  wurden. 

Der  Regen  bot  wenig  Erfrischung,  im  Gegentheil  entwickelte 
sich  bald  eine  feuchte,  erschlaffende  Hitze,  welche  die  Unannehm- 
lichkeiten, bis  über  die  Knöchel  in  den  Pfützen  waten  zu  müssen, 
nicht  verringerte;  die  ersten  Dysenteriefalle  traten,  glücklicherweise 
in  sehr  milder  Form,  auf. 

Mit  der  Verpflegung  sah  es  seit  beiläufig  einer  Woche  schon 
matt  aus ;  die  wenigen  Hammel  und  Hühner  wurden  natürlich  für 
das  Hospital,  für  Frauen  und  Kinder  aufbew^ahrt,  sonst  gab's  nur 
mehr  Fleisch  von  der  im  Fu  zusammengetriebenen,  ursprünglich 
etwa  100  Stück  zählenden  Heerde  Maulthiere  und  Ponies.  Der 
Reis  begann  sehr  spärlich  zu  werden,  Gemüse  fehlten  natürlich 
schon  seit  den  ersten  Tagen  der  Belagerung,  und  was  an  conser- 
virten  vorhanden,  blieb  ebenfalls  für  Verwundete,  Kranke  und 
Kinder  aufgespart. 

M.  Pichon  kam,  wie  fast  jeden  Tag,  mit  den  Herren  Berteaux, 
Saussine  und  Philippini,  die  scherzweise  auf  den  Namen  seiner 
Leibgarde  getauft  wurden,  in  seine  Legation  herüber;  an  diesem 
Tage  war  es  ziemlich  still  und  daher  mehr  Zeit,  sich  mit  der  immer 
wieder  auftauchenden  Frage  des  Entsatzes  zu  befassen  —  die  vier- 
zehn Tage  gingen  ihrem  Ende  zu  und  nach  den  mehrmaligen  Ent- 
täuschungen verhielt  sich  jetzt  Alles  mehr  oder  weniger  skeptisch. 

Unsere  Nachbarn  aus  Deutschland  —  statt  der  langen  Be- 
zeichnung der  betreffenden  Gesandtschaft,  sprach  man  gewohnheits- 
gemäss  immer  nur  von  dem  betrefl"enden  Lande  —  Herr  von  Below, 
der  seit  der  Ermordung  Baron  Ketteler's  als  Geschäftsträger  fun- 
girte,  Herr  von  Bergen,  Lieutenant  von  Lösch  und  der  Dolmetsch 
Dr.  Merklinghaus  theilten  ebenso  wie  Soden  in  der  kameradschaft- 
lichsten Weise  alle  Leiden  und  Freuden  dieses  merkwürdigen 
Lagerlebens  mit  uns;  die  Regel  war  aber,  dass  ein  solcher  in 
Erwartung  einer  ruhigen  Viertelstunde  unternommener  Besuch  durch 
Lärm  von  Schüssen  ein  jähes  Ende  nahm  und  Alles  wieder  auf 
seine  Posten  eilte. 

So  auch  diesmal  —  Soden  hatte  uns  bei  Sonnenuntergang 
eben  wieder  mit  seinem  trotz  allen  Ernstes  der  Zeiten  fröhlichen 
»Wie  schaut's?«  begrüsst  und  seine  Beobachtungen  über  das  Vor- 
dringen der  vermaledeiten  Zöpfe  auf  der  Stadtmauer  mitgetheilt, 
das  er  durch  seine  besten  Schützen  nicht  hindern  konnte,  als  das 
Gekrache  am  Fusse  der  Mauer  wieder  anhub ;  flugs  war  er  wieder 
drüben. 


277 

Nach  Einbruch  der  Dunkelheit  beobachteten  wir  von  dem 
schon  einem  Sieb  gleichenden  Dache  des  Thorgebäudes,  dass  die 
Häuser  uns  gegenüber  leer  standen ;  das  schien  doch  sonderbar,  um- 
somehr,  als  ja  kurz  vorher  gerade  hinter  ihnen  der  Spectakel  wieder 
begonnen  hatte.  Ba§ljan  schlich  hinüber  und  recognoscirte  durch 
die  Schiesslöcher  der  Vormauer;  die  Chinesen  hatten  durchaus  nicht 
die  Häuser  geräumt,  sondern  sich  nur  hinter  die  Ecke  zurückge- 
zogen, wo  sie  zur  grösseren  Sicherheit  natürlich  noch  eine  Deckung 
aufgeworfen  hatten. 

Nach  10  Uhr  wurde  es  vom  Hatamen  her,  dann  am  Fusse 
der  Mauer,  endlich  auf  allen  Linien  wieder  bedeutend  lebhafter, 
das  Feuer  der  Feldschlangen  und  Schützen  galt  jedoch  hauptsäch- 
lich den  Deutschen,  während  wir  weniger  beschossen  wurden; 
endlich  nahm  es  auf  der  ersteren  Seite  derart  zu,  dass  Soden 
einen  regelrechten  Angriff  voraussetzen  musste  und  auf  sein  Er- 
suchen unsere  letzte  Reserve,  drei  Franzosen  und  zwei  Oester- 
reicher-Ungarn,  nachtsüber  als  Verstärkung  hinübergeschickt  wurde. 
Labrousse  constatirte  vom  Dache  eines  der  deutschen  Häuser  aus 
im  Osten  und  Westen  Lichtblitze,  die  nur  von  elektrischen  Schein- 
werfern herrühren  konnten ;  ihre  Entfernung  vermochte  er  aber 
nicht  zu  schätzen  —  wer  sie  abgab  und  zu  welchem  Zw^ecke, 
hauptsächlich  aber  wo  die  Apparate  dafür  herkamen,  ist  bis  heute 
noch  nicht  aufgeklärt  und  ward  es  auch  schwerlich  je  werden. 

Aus  der  an  sich  ganz  zweifellos  richtigen  Beobachtung 
Folgerungen  zu  ziehen,  überliessen  wir  den  vielen  Unbeschäftigten 
in  »England«,  die  sich  damit  die  Zeit  vertreiben  und  ihre  Stimmung 
aufheitern  mochten. 

Der  nächstfolgende  Tag,  der  4.  Juli,  brachte  wieder  ein  län- 
geres Bombardement  des  Fu,  gegen  das  die  Chinesen  scheinbar 
schon  deswegen  mit  besonderer  Verbissenheit  vorgingen,  weil  sie 
dort  ihre  christlichen,  also  abtrünnigen  Landsleute  wussten ;  ausser- 
dem w^urden  wieder  das  Hotel  und  die  russisch  -  amerikanische 
Barricade  mit  Granaten  bedacht  —  im  Ganzen  zählte  man  212  Schuss. 
Sonst  beschränkten  sich  die  Chinesen  darauf,  ihre  durch  den  Regen 
des  Vortages  in  Mitleidenschaft  gezogenen  Barricaden  in  Stand  zu 
setzen ;  in  der  französischen  Gesandtschaft  war  grosses  Reine- 
machen, nach  all  dem  Vorangegangenen  ein  dringendes  Bedürfniss. 

An  diesem  Tage  wurde,  wie  wir  später  erfuhren,  ein  etwa 
löjähriger  nichtchristlicher  Chinese,  gebürtig  aus  der  Provinz  Shan- 
tung,  mit  einer  Depesche  Sir  Claude's  an  den  Consul  in  Tientsin 
abgesendet;  vorweg  bemerkt,  war  er  der  erste  Bote,  der,  als 
Bettler  verkleidet,  sein  Ziel  erreichte.  Den  in  ein  kleines  Stück  Oeltuch 


278 

gewickelten  Brief,  dessen  Auffindung  seitens  der  Soldaten  oder 
Boxer  ihm  sicherlich  das  Leben  gekostet  hätte,  verbarg  er  un- 
auffällig in  der  halb  mit  Reis  gefüllten  Schale,  wie  sie  die  von 
der  allgemeinen  Mildthätigkeit  Lebenden  stets  bei  sich  führen; 
seinen  Weg  aus  dem  belagerten  Rayon  nahm  er  nach  Einbruch 
der  Nacht  durch  das  Canalgitter  —  seine  bewegten  Schicksale 
werden  wir  noch  später  kennen  lernen. 

Der  ganze  Tag  und  die  Nacht  zum  5.  Juli  verliefen  auf  unserer 
Stellun'g  ruhig,  dafür  wurden  die  Hauptgebäude  der  französischen 
Legation  am  folgenden  Vor-  und  Nachmittage  von  IOV4  bis  SV«  Uhr 
continuirlich  aus  einem  ostnordöstlich  auf  ca.  150  Meter  aufge- 
stellten Geschütz  bombardirt ;  letzteres  selbst  blieb  die  ganze  Zeit 
hindurch  für  uns  unsichtbar,  seine  sehr  gut  gezielten  Granaten  zer- 
störten die  Dächer,  den  blauen  Salon  und  den  grossen  Speisesaal 
des  Ministerhauses  fast  vollständig,  erreichten  aber,  weil  die  Chinesen 
sich  offenbar  fürchteten,  die  Kanone  zu  exponiren,  die  tiefer  ge- 
legenen Stellungen  unserer  Posten  nicht.  Einige  uns  zugedachte, 
jedoch  zu  hoch  abgegebene  Schüsse  schlugen  in  der  deutschen 
Legation  ein.  In  der  Ostmauer  entstand  eine  weitere  Bresche,  aber 
noch  immer  wagten  unsere  Gegner  keinen  Sturm!  Das  Gewehr- 
feuer wurde  tagsüber  ziemlich  indifferent  unterhalten,  aber  es  ge- 
lang wenigstens,  einige  nicht  genügend  verborgene  Chinesen  un- 
schädlich zu  machen. 

In  einer  kurzen  Pause  der  Kanonade  kamen  die  Herren  aus 
der  deutschen  Gesandtschaft  herüber,  um  sich  die  Verwüstung 
anzusehen ;  Herr  von  Below  setzte  sich  auf  allgemeines  Verlangen 
an  das  in  einer  Ecke  stehende,  noch  intact  gebliebene  Ciavier  und 
gab  mit  geübter  Hand  zur  Belustigung  der  Besatzung  einige  Weisen 
zum  Besten,  deren  Klang  aber  bald  wieder  durch  das  weniger 
melodiöse  Krachen  crepirender  Geschosse  verdrängt  wurde.  Eine 
Stunde  später  platzten  wieder  zwei  57  Millimeter  Granaten  in  dem 
kleinen  Stall  östlich  der  Thorhalle,  glücklicherweise  ohne  Jemandem 
Schaden  zu  thun,  aber  das  Dach  stürzte  zur  Hälfte  ein. 

Nachmittags  brachten  die  Chinesen  auf  der  Mauer  der  Kaiser- 
stadt nordnordöstlich  der  englischen  Legation  einige  glatte  Vorder- 
lader und  ein  Kruppgeschütz  in  Stellung  und  gaben  gegen  diese 
einige  Schüsse  ab,  die  wohl  in  die  Wohnhäuser  einschlugen,  jedoch 
erfreulicherweise  deren  Insassen  nicht  verwundeten. 

Durch  die  italienische  Schnellfeuerkanone  und  Gewehrfeuer 
beschossen,  zogen  die  chinesischen  Geschützbemannungen  es  jedoch 
bald  vor,  ihre  Thätigkeit  einzustellen  und  die  Scharten  zu  mas- 
kiren. 


279 

Sir  Claude  organisirte  für  die  Barricade  auf  der  Stadtmauer 
einen  eigenen  Dienst  sich  freiwillig  meldender  Officiere ;  von  der 
Garnison  der  französischen  Legation  nahmen  daran  Labrousse  und 
ich  theil. 

Gegen  3  Uhr  morgens  des  6.  Juli  wurde  auf  der  Stadtmauer 
Geschrei  und  Trompetenlärm  hörbar,  der  von  Osten  nach  Westen 
zu  fortschritt;  eine  Anfrage  in  »Deutschland«  gab  uns  zwar  die 
Beruhigung,  dass  unsere  Nachbarn  nicht  angegriffen  wurden,  auch 
bei  der  Mauerbarricade  nichts  Ungewöhnliches  vorgegangen  sei,  aber 
keine  stichhältige  Erklärung. 

Am  Vormittag  bombardirten  die  Chinesen  wieder  die  Nord- 
seite des  Fu  äusserst  heftig;  ein  Ausfall  der  Japaner  unter  Haupt- 
mann Ando  missglückte  im  letzten  Augenblicke,  obwohl  sie  das 
Geschütz  fast  schon  erreicht  hatten,  weil  die  der  Truppe  folgenden 
christlichen  Chinesen,  die  das  Geschütz  mit  seiner  Holzbettung 
hätten  wegschleppen  sollen,  der  Muth  verliess.  Ando  fiel  gleich 
anfangs  durch  einen  Schuss  in  die  Kehle,  drei  japanische  Matrosen 
wurden  verwundet. 

Bei  uns  herrschte  bis  auf  das  nie  aussetzende  Schützenfeuer 
Ruhe,  ja  zu  Mittag  eine  solche  schläfrige  Stille,  dass  Darcy  gegen 
Vi  1  Uhr  nachmittags,  trotz  meiner  Warnung,  mit  sechs  seiner  Leute 
die  chinesischen  Barricaden  in  unserer  nächsten  Nähe  recognos- 
cirte,  um  sich  womöglich  w^ieder  einer  zu  bemächtigen.  Wohl  ge- 
lang es  ihnen,  mit  einigen  flinken,  lautlosen  Sätzen  bis  dicht 
an  die  Barricaden  heranzukommen,  doch  geschah,  was  ich  voraus- 
gesehen: die  kleine  Partie  wurde  von  drei  Seiten  mit  heftigem 
Feuer  empfangen  und  musste  sich,  ihrerseits  nur  wenige  Schüsse 
abgebend,  eilends  zurückziehen.  Nach  einigen  für  uns  im  Block- 
hause befindliche  Augenzeugen  recht  langen  Minuten  waren  sie 
Alle  wieder  heil  zurück. 

Während  ich  noch  mit  Darcy  den  Vorfall  besprach  und  er  zugab, 
die  Wachsamkeit  unserer  Gegner  doch  sehr  unterschätzt  zu  haben, 
lief  ein  uns  unbekannter  Europäer  —  ein  russischer  Student,  wie 
sich  später  herausstellte  —  von  Westen  kommend  am  Reduit  vor- 
bei direct  auf  unsere  verlassene  Barricade  zu.  An  seinen  schwan- 
kenden Zickzackbewegungen  erkannten  wir,  dass  der  Mann  nicht 
zurechnungsfähig  sei ;  ohne  unsere  lauten  Zurufe  zu  beachten,  war 
er  schon  zwischen  die  beiden  Wände  der  Barricade  gerathen  und 
versuchte  seine  Jagdflinte  zu  laden.  War  dies  bisher  viel  zu  schnell 
vor  sich  gegangen,  als  dass  man  hätte  hinausspringen  und  ihn 
noch  rechtzeitig  zurückhalten  können,  so  dauerte  es  jetzt  anscheinend 
unendlich  lange,  bis  einer  der  ungezählten  Schüsse,  die  die  Chinesen 


280 

auf  ihn  abgaben,  traf;  aber  noch  einmal  raffte  er  sich  auf  und 
feuerte  einen  Lauf  in  die  Luft  ab,  gleich  darauf  machte  ihm  eine 
Kugel  in  die  Brust  ein  Ende.  Um  eines  Betrunkenen  willen,  der 
jedenfalls  einem  Rettungsversuch  noch  Widerstand  geleistet  hätte, 
konnte  und  durfte  ich  wohl  nicht  das  Leben  einiger  meiner  Leute 
aufs  Spiel  setzen.  Einige  bald  erschienene  Freunde  des  Todten 
erklärten  seinen  Zustand:  sie  waren  in  den.  unglückseligerweise 
noch  nicht  völlig  geräumten  Keller  des  alten  Clubs  gedrungen, 
um  daraus  Getränke  zu  holen,  und  ihr  Genosse  hatte  bei  der  Ge- 
legenheit zu  viel  des  Guten  gethan ;  in  seiner  Berauschung  wollte 
der  Bedauernswerthe  nach  dem  ehedem  von  ihm  bewohnten  Hause 
am  Ostende  der  Legationsstrasse. 

Nun  lag  die  Leiche,  unseren  Blicken  entzogen,  auf  vielleicht 
20  Meter  von  uns;  selbstverständlich  unternahmen  die  Chinesen 
alles  Mögliche,  um  ihrer  habhaft  zu  werden  —  nachdem  einige 
Unvorsichtige  aber  von  unserer  Wache  im  Blockhause  niederge- 
schossen worden  waren,  versuchten  es  die  anderen  von  beiden 
Seiten  der  Strasse  aus  mit  Haken  und  langen  Stangen,  aber  um- 
sonst. Erfolglos  blieb  es  jedoch  auch,  als  Chamot  nach  Einbruch 
der  Nacht  einen  seiner  besten  Boys  aussendete,  der  geschickt  wie 
eine  Katze  und  durch  den  vom  russischen  Minister  in  Aussicht 
gestellten  hohen  Lohn  noch  verwegener  gemacht,  wirklich  mit 
einer  Leine  bis  an  die  Barricade  schlich  —  die  Chinesen  bewachten 
ihre  Beute  auch  bei  Nacht  zu  scharf  und  schössen  zu  heftig,  er 
musste  umkehren.  Noch  zwei  Tage  dauerte  der  Streit  um  die 
Leiche,  der  den  Chinesen  im  Ganzen  neun  Todte  kostete.  Die  letzten 
zwei  hatten  es  gar  zu  läppisch  angestellt  —  ihre  riesigen  Strohhüte 
vorhaltend,  waren  sie  hinter  der  Ecke  hervorgekommen  und  na- 
türlich gleich  gefallen. 

Bald  nach  dem  geschilderten  aufregenden  Vorfalle  schlugen 
wieder  einige  Granatschüsse  gegen  das  Thorgebäude,  von  denen 
die  beiden  ersten  das  schwere  Gitter  des  einen  Fensters  total  zer- 
störten ;  auch  die  folgenden  vier  Schüsse  nahmen  denselben  Weg 
und  stifteten  durch  die  Explosion  der  Granaten  im  Innern  des  Ge- 
bäudes ziemlich  viel  Schaden.  Die  Leute  wurden  nach  dem  ersten 
Treffer  zurückgezogen  und  sahen  sich  vom  Blockhaus*)  die  Spreng- 
wirkung an.  Das  Geschütz  musste,  nach  Einfallswinkel  und  Richtung 
der  Geschosse  zu  urtheilen,  auf  der  Stadtmauer  postirt  sein ;  bevor 
wir  jedoch  noch  seine  Aufstellung  ermittelt  hatten,  schwieg  es  und 

*)  Um  Missverständnissen  vorzubeugen,  sei  bemerkt,  dass  der  Ausdruck  Block- 
haus nicht  im  strengsten  Sinne  zu  nehmen  ist,  weil  der  Bau  kein  Dach  trug;  «nr  Her* 
Stellung  einer  schussichercn  Eindeckung  fehlten  uns  die  nothwendigen  Balken. 


281 

überliess  den  Gewehren  im  Osten  und  Süden  von  uns  das  Wort, 
die  es  bis  kurz  vor  Sonnenuntergang  behielten. 

In  der  folgenden  Nacht,  kurz  nach  12  Uhr,  wurde  in  der 
Richtung  Süd  zu  West  entferntes  Kanonenfeuer  hörbar,  auch 
waren  dort  wieder  Lichtblitze  zu  sehen;  da  sich  gleichzeitig  in 
der  Chinesenstadt  Lärm  erhoben  und  beim  Tschien-men  ziemlich 
lebhaftes  Feuer  entwickelt  hatte,  w^urden  wir  erst  spät  auf  den 
ersterwähnten  Umstand  aufmerksam. 

Durch  mancherlei  Erfahrungen  über  die  merkwürdige  Akustik 
innerhalb  der  Baulichkeiten  der  französischen  Legation  vorsichtig 
geworden,  dachten  wir  anfanglich,  das  Opfer  einer  Sinnestäuschung 
zu  sein  —  war  es  ja  doch  schon  vorgekommen,  dass  man,  durch 
Echo  genarrt,  die  Chinesen  bereits  im  Park  schreien  zu  hören  ver- 
meinte, während  sie  in  Wirklichkeit  drüben  in  den  Häusern  der 
Legationsstrasse  ihr  »Scha-scha!«  brüllten;  endlich  erübrigte  jedoch 
kein  Zweifel  mehr,  von  den  verschiedensten  Punkten  aus  machte 
man  ganz  übereinstimmende  Beobachtungen.  Das  dumpfe  Rollen 
der  nach  unserer  Schätzung  vielleicht  10  Kilometer  entfernten 
Geschütze  Hess  sich  nicht  verkennen  und  blieb  bis  in  den  Vor- 
mittag hinein  deutlich  vernehmbar;  zu  sehen  war  bei  Tage  von 
der  Stadtmauer  aus  gar  nichts.  Was  sollte  dies  bedeuten?  Spielte 
sich  draussen  zwischen  einem  Entsatz  -  Corps  und  chinesischen 
Truppen  eine  entscheidende  Schlacht  ab?  —  Dann  hätte  ersteres 
entlang  der  Bahn  heraufgekommen  sein  müssen ;  gegen  diese  An- 
nahme sprachen  aber  die  Transportschwierigkeiten  auf  der  Route, 
denn  die  gewöhnliche  Strasse  lag  auf  der  entgegengesetzten  Seite. 
Sollte  chinesische  Artillerie  eine  Schiessübung  abhalten?  Das  wäre 
doch  ebenso  leicht  in  der  Stadt  selbst  mit  Benützung  des  Legations- 
viertels als  Ziel  möglich  und  auf  diese  Weise  das  Pulver  auch  viel 
nützlicher  verwendet  gewesen.  Was  also  sonst?  — Heute  sind  wir 
der  Lösung  dieses  Räthsels  ebensowenig  näher  gerückt  wie  damals 
und  schliesslich  scheint  die  Hypothese  nicht  allzu  gewagt,  dass 
<iie  Chinesen  vielleicht  draussen  untereinander  einen  Strauss  aus- 
jgefochten  haben. 

Sehr  lange  Zeit  zur  Ueberlegung  hatten  wir  aber  am  7.  Juli 
nicht;  unsere  Gegner  nahmen  das  Bombardement  des  Minister- 
liauses  und  seiner  Annexe,  der  Ostmauer,  des  Thorgebäudes  und 
des  angrenzenden  Hotels  gegen  9Vi  Uhr  wieder  mit  grösserem  Eifer 
auf.  Von  Nordosten  her  und  von  der  Stadtmauer  dröhnte  bald 
Schuss  auf  Schuss ;  neuerdings  fiel  uns  auf,  dass  die  Geschütze  je- 
Aveils  nach  wenigen  Schüssen  ihren  Aufstellungsort  wechselten  und 
nie  sichtbar  wurden. 


282 

Diese  stete  Angst  vor  Ausfällen  unsererseits  hatte  noch  ein 
Gutes  für  die  Vertheidiger,  denn  auf  diese  Art  gaben  die  Chinesen 
gewöhnlich  im  Augenblick,  wo  eine  umfangreichere  und  gründ- 
lichere Wirkung  an  dem  betreffenden  Objecte  zu  erwarten  gewesen 
wäre,  ihre  besten  Chancen  auf  und  nahmen  einen  anderen  Ziel- 
punkt vor. 

Nach  11  Uhr  schwieg  das  Feuer  einige  Zeit.  Gegen  Mittag 
drangen  drei  Tung-Fuhsiang-Soldaten  und  ein  Boxer  bei  der  Nord- 
bresche ein  und  warfen  Feuer  in  die  Küche  des  Ministerhauses; 
von  Rosthorn,  Pelliot  und  der  nächste  französische  Posten  schössen 
zwar  die  Eindringlinge  nieder,  doch  brannte  der  kleine  Annexbau 
gänzlich  aus. 

Gleichzeitig  erfolgte  ein  heftiger  Angriff  auf  der  ganzen  Ost- 
und  Südfront  der  Legation,  durch  Kanonenfeuer  aus  beiden  Rich- 
tungen unterstützt ;  Matrose  Badic  wurde  durch  Sprengstücke  der 
ersten  hinter  ihm  crepirenden  Granate  schwer  im  Rücken  verwun- 
det, von  Rosthorn  erhielt  einen  Steinsplitter  ins  linke  Auge,  vier 
französische  Matrosen  w^urden  leichter  verwundet.  Neuerdings  ent- 
stand eine  Bresche,  durch  welche  die  Chinesen  mit  Hilfe  langer 
Stangen  Feuer  an  das  Haus  Saussine  legten;  der  Brand  konnte 
noch  im  Keime  erstickt  werden.  Unsere  Angreifer  waren  schon 
etwas  kühner  geworden  und  zeigten  sich  offener  an  den  Breschen, 
w^as  uns  wenigstens  die  Genugthuung  verschaffte,  einige  von  ihnen 
abzuschiessen ;  gegen  das  Thorgebäude  und  das  Ziegelreduit  wurde 
das  Gewehrfeuer  äusserst  heftig,  die  Granaten  kamen  schon  nie- 
driger geflogen,  kaum  mehr  einen  Meter  über  unsere  Köpfe  hin- 
w^eg  und  demolirten  die  Stirnmauer  des  kleinen  Stalles  noch  weiter. 
An  der  Südseite  gewannen  die  Chinesen  noch  mehr  Terrain  und 
standen  nun  schon,  ein  weiteres  Haus  niederbrennend,  im  Club- 
gässchen. 

Auch  im  Norden  der  Legation,  nächst  der  kleinen  Barricade 
äscherten  sie  ein  paar  Häuser  ein;  den  Giebel  der  Capelle  durch- 
schlug eine  Granate  und  explodirte,  knapp  an  dem  den  Altar 
krönenden  Muttergottesbild  passirend,  im  Innern.  Bisher  war  das 
Thor  im  Capellentract  unverrammelt  geblieben,  um  es  zu  einem 
eventuellen  Ausfall  benützen  zu  können ;  nun  aber,  wo  die  Chinesen 
schon  gegenüber  davon  angelangt  waren,  konnte  damit  nicht  länger 
gezögert  werden,  es  schussicher  zu  verlegen. 

Der  Hauptangriff  dauerte  diesmal  nicht  lange  und  war  gegen 
1  Uhr  nachmittags  abgeschlagen,  die  Beschiessung  der  Ost-  und 
Südfront  aus  Gewehren  währte  jedoch  fast  unausgesetzt  bis  gegen 
Sonnenuntergang;   nachmittags  wurden  zwei  Brandraketen   in  <      l 


283 

Hof  geschossen,  die  jedoch  durch  ihre  wunderlichen  Sprünge  und 
das  an  wild  gewordene  Katzen  gemahnende  Gepfauche  des  Brand- 
satzes viel  mehr  Heiterkeit  als  Besorgniss  erregten.  In  freiliegen- 
dem Holzwerk  hätten  sie  allerdings  bedenklicher  werden  können. 

Auch  im  Fu  war  wieder  heftig  gekämpft  und  am  Ausgang 
der  »dusty  lane«  eine  neue  Geschützstellung  gegen  die  englische 
Gesandtschaft  errichtet,  von  den  Chinesen  aber,  nachdem  die 
italienische  Kanone  einige  Schüsse  darauf  abgegeben  hatte,  bald 
wieder  geräumt  worden.  Unsere  deutschen  Nachbarn  hatten  im 
Laufe  des  Tages  wiederholt  im  Osten  von  ihnen  vordringende 
Chinesenbanden  zurückzuwerfen;  ihre  wichtigste  Vertheidigungs- 
stellung  gegen  Osten  bildeten  nun  der  massive,  bis  zur  Dachgleiche 
vorgeschrittene  Bau  des  neuen  Pekinger  Clubs  und  gegen  die 
Legationsstrasse  zu  anschliessend  zwei  Barricaden. 

Behutsam  auf  der  Stadtmauer  vorbauend,  hatten  die  Chinesen 
ihr  Geschütz  schon  wieder  weiter  nach  Westen  gebracht,  so  dass 
von  allen  Gebäuden  der  deutschen  Legation  eigentlich  nur  mehr 
das  Ministerhaus  vor  dessen  Feuer  geschützt  blieb. 

Abends  traf  mich  mit  Herrn  von  Strauch  zusammen  die  Wache 
auf  der  Stadtmauer ;  der  Aufgang  war  durch  im  Zickzack  gestellte 
Schutzwehren  nunmehr  ganz  gedeckt  und  auch  oben  befand  man 
sich  dank  der  stetig  fortschreitenden  Verstärkung  der  Barricaden 
in  grösserer  Sicherheit  als  irgendwo  in  der  von  allen  Seiten  ein- 
geschossenen französischen  Legation.  Allerdings  gab's  noch  schwache 
Stellen ;  eben  wurde  auch  an  der  Vertiefung  des  Weges  zwischen 
der  allerersten,  dermalen  von  Amerikanern  besetzten  Barricade 
und  der  weiter  westlich  gelegenen  gearbeitet,  welche  die  Russen 
und  Engländer  hielten. 

Nach  so  vielen  Tagen  x\ufenthalt  innerhalb  der  französischen 
Legation  und  des  Reduits,  wo  man  durch  den  Mangel  an  Ausblick 
und  die  stete  Musterung  der  zerschossenen  Mauern  sich  gedrückt 
und  beengt  fühlte,  war  die  Abwechslung  eine  grosse  Erleichterung; 
von  der  Stadtmauer  übersah  man  den  grössten  Theil  der  Stadt, 
das  freie  Gelände  gegen  Süden  und  bis  an  die  Berge  im  Nord- 
westen. Trotz  der  Ungewissheit,  ob  und  wann  man  jemals  wieder 
dazukommen  würde,  über  die  schützenden  Mauern  hinauszugehen, 
empfand  man  doch  dort  oben,  wie  sich  mit  dem  freien  Blick  wieder 
das  Herz  erweiterte,  wie  sich  unter  dem  rein  physischen  Einflüsse 
der  unbeschränkten  Aussicht  auch  das  Vertrauen  in  die  Zukunft 
kräftigte.  Aus  der  Chinesenstadt  zu  unseren  Füssen  schimmerte 
manches  Licht  zu  uns  herauf,  von  dort  her  verriethen  Ausrufe  der 
Verkäufer,  dass  das  gewöhnliche  Leben  nicht  ganz  aufgehört  habe. 


284 

Unsere  Gegner  auf  dem  Tschien-men  sorgten  zwar  dafür,  uns 
vor  allzu  träumerischen  Gedanken  zu  bewahren,  indem  sie  in  lang- 
samem Tempo,  aber  unausgesetzt  herüberschossen,  und  auch  aus  der 
Richtung  vom  Hatamen  her  pfiffen  so  viele  Geschosse  herüber, 
dass  man  die  gebotene  Achtsamkeit  nicht  verlor ;  im  Ganzen  fehlte 
es  jedoch  hier  an  der  intensiven  Spannung  wie  auf  dem  heissen 
Posten  unten.  Die  Arbeit  des  Wegausgrabens  machte  unter  der 
Leitung  eines  russischen  Missionspriesters  gute  Fortschritte,  ebenso 
auch  die  Verstärkung  der  Rückendeckung  der  vordersten  Barricade; 
dreimal  in  der  Nacht  wurde  das  Feuer  auf  kurze  Zeit  allgemein 
und  lebhaft,  am  meisten  auf  dem  Ostflügel  gegen  »Deutschland«  und 
»Frankreich« ;  vom  kaiserlichen  Wagenpark  aus  flogen  Brandraketen 
gegen  die  englische  Gesandtschaft. 

Am  Morgen  standen  uns  sieben  chinesische  Banner  gegenüber; 
jetzt  erst  bei  vollem  Tageslicht  waren  die  Einzelnheiten  der 
Sicherungsbautenausnehmbar:  Auf  circa  50  Meter  hatten  die  Chinesen 
starke  Steindeckungen,  wieder  mit  einem  erhöhten  Mittelbau  auf- 
geführt. Seitdem  aber  die  breite  Bastion  in  die  Hände  der  Fremden 
gefallen,  bedeutete  dies  nicht  allzu  Schlimmes:  bauten  sie  drüben 
in  die  Höhe,  so  grub  man  sich  hüben  einfach  tiefer  ein  und  da 
war  der  Vortheil  auf  unserer  Seite. 

Scheinbar  hatten  sich  die  Chinesen  mit  diesem  Stand  der 
Dinge  auf  der  Westseite  der  Mauer  auch  abgefunden,  denn  sie 
unterliessen  hier  bei  Tageslicht  jede  lebhaftere  AngriflFsthätigkeit; 
im  Osten  drangen  sie  aber  in  ihrer  bekannten  vorsichtigen  Weise 
immer  weiter  gegen  die  deutsche  Legation  vor  und  beschossen 
sie  ziemlich  lebhaft.  Von  der  amerikanischen  Barricade  aus  ver- 
suchten wir,  anscheinend  mit  einigem  Erfolg,  sie  daran  zu  hindern; 
unter  den  amerikanischen  Soldaten,  von  denen  die  meisten  eben 
die  Feldzüge  auf  Cuba  und  den  Philippinen  mitgemacht  hatten, 
befanden  sich  einige  hervorragende  Schützen,  die  sich  natürlich 
diese  gute  Gelegenheit  nicht  entgehen  Hessen.  Einmal  auf  Wache 
oder  im  Feuer  waren  diese  Leute  überhaupt  unübertrefflich;  ver- 
lässlich, kaltblütig  trotz  ihrer  lauten  Art,  sich  über  Unangenehmes 
in  einer  sehr  kräftigen  Sprache  zu  äussern,  und  dazu  ausser- 
ordentlich geschickt  in  den  vielerlei  Griffen  des  kriegerischen 
Handwerkes,  repräsentirten  sie  den  Typus  vom  und  für  den  Krieg 
lebender  Soldaten. 

Unten  im  Legationsviertel  begannen  um  9  Uhr  vormittags  die 
Feindseligkeiten  wieder  in  verstärktem  Masse;  das  Fu  und  die 
französische  Gesandtschaft  hatten  heftige,  durch  Geschützfeuer  ver» 
schärfte   Angriffe    zu    bestehen,    die    bis    gegen  Mittag    daue^ 


285 

Kurz  nach  Mittag  erhielt  ich  die  tieftraurige  Nachricht,  dass 
Fregatten  -  Capitän  von  Thomann  anderthalb  Stunden  vorher 
gefallen! 

Da  bei  der  sichtlichen  Passivität  der  Chinesen  auf  der  Stadt- 
mauer ein  Officier  für  diesen  Posten  vollauf  genügte,  eilte  ich,  Sir 
Claude  schriftlich  davon  benachrichtigend,  in  die  französische  Ge- 
sandtschaft. 

Es  herrschte  gerade  tiefe  Ruhe ;  heiterer  Friede  lag  auch 
auf  den  Zügen  meines  verehrten  Commandanten,  der  in  treuer 
Pflichterfüllung  wenigstens  den  schönsten,  leichtesten  Tod  gestorben 
war.  KoUaf,  Darcy  und  Labrousse,  durch  das  Ende  Thomann's 
schwer  ergriffen,  machten  mich  mit  den  Einzelnheiten  des  Ge- 
schehenen vertraut. 

Der  Angriff  hatte  schon  einige  Zeit  gedauert,  als  plötzlich 
aus  dem  Seitengässchen  östlich  der  grossen  Bresche  ein  chinesisches 
Geschütz  auf  höchstens  60  Meter  Entfernung  sein  Feuer  eröffnete; 
der  Aufenthalt  in  den  Gebäuden  der  Ostfront,  die  von  zwei  Seiten 
bombardirt  und  ausserdem  mit  einem  Hagel  von  kleinen  Projectilen 
überschüttet  wurden,  gestaltete  sich  von  Minute  zu  Minute  ge- 
fährlicher und  die  Besatzung  konnte  kaum  mehr  halbwegs  ge- 
sicherte Unterstände  finden,  um  wenigstens  die  Breschen  unter 
Feuer  zu  halten.  Zwei  Franzosen  auf  Posten  gegenüber  der  Bresche 
waren  bereits  verwundet  und  Darcy  wollte  seine  Leute  von  dort 
einziehen  und  den  gefahrlichen  Punkt  von  der  Seite  her  bewachen 
lassen,  von  Thomann,  wie  immer  dort,  wo  es  am  heissesten  herging, 
begab  sich  mit  Darcy,  Kollaf  und  Labrousse,  der  vom  linken 
Flügel  eben  mit  der  Nachricht  vom  Eindringen  der  Chinesen  in 
den  Keller  des  Ministers  herbeikam,  in  den  Gang  zwischen  den 
Häusern  Saussine  und  Morisse,  von  wo  man  die  Mündung  des 
Geschützes  hinter  Barricaden  hervorragen  sah,  um  zu  beurtheilen, 
was  sich  noch  unternehmen  lasse  —  ob  vielleicht  ein  Ausfall 
möglich  wäre.  Kaum  dass  die  vier  Officiere  in  den  Raum  zwischen 
den  beiden  genannten  Häusern  getreten  waren,  sauste  wieder 
eine  Granate  herüber  und  crepirte,  die  kleine  vorstehende  Mauer 
streifend;  von  zwei  grossen  Sprengstücken  ins  Herz  und  in  den 
rechten  Arm  getroffen,  sank  von  Thomann  mit  einem  gedämpften 
Ausruf  —  wie  der  Ueberraschung  —  in  die  Arme  der  Umstehenden 
und  war  nicht  mehr. 

Der  Angriff  endete  wie  so  viele  frühere,  die  Besatzung  hielt 
ihn  unter  Trümmern  erfolgreich  aus.  Die  Beerdigung  war  für  3  Uhr 
nachmittags  angesetzt  worden,  aber  ich  glaubte,  sie  wegen  der 
Anzeichen    einer  baldigen  Erneuerung    des  Feuers    beschleunigen 


28G 

zu  sollen ;  so  trugen  wir  unseren  allseits  geliebten  Commandanten 
schon  um  2  Uhr  zu  Grabe.  Herr  und  Frau  von  Rosthorn,  Alles 
von  der  Besatzung  der  Legation,  was  nicht  auf  Wache  stand,  die 
Herren  von  der  deutschen  Gesandtschaft,  eine  Deputation  vom 
Detachement  letzterer,  Herr  und  Frau  Chamot  folgten  unter  Vor- 
antritt des  greisen  Pfere  d'Addosio  der  Bahre,  welche  unsere 
deutschen  Kameraden  mit  einem  Kranz  aus  den  letzten  Blumen 
ihres  Gartens  schmückten.  M.  Pichon  und  M.  de  Joostens  kamen, 
weil  ich  keine  Zeit  mehr  gehabt  hatte,  sie  von  der  Verlegung  der 
Beisetzung  verständigen  zu  lassen,  zu  spät,  aber  der  Ausdruck,  den 
diese  beiden  Herren  für  ihr  Beileid  fanden,  war  eine  uns  Allen 
unvergessliche  Ehrung  des  Dahingeschiedenen.  Der  englische  Ge- 
sandte Hess  mir  durch  den  ersten  Secretär,  Mr.  Dering,  ein  Con- 
dolenzschreiben  zustellen. 

Von  dem  frischen  Grabe  weg  wanderten  unsere  Gedanken 
zu  den  Lieben  des  Gefallenen  in  die  Heimat  mit  dem  Wunsche, 
dass  es  doch  vielleicht  einem  von  uns  beschieden  sein  möge,  ihnen 
berichten  zu  können,  wie  viele  aufrichtige  Theilnahme  ihr  und 
unser  Verlust  erweckt  hatte,  wie  manche  Thräne  da  zerdrückt 
wurde  von  in  Kampf  und  Noth  hart  gewordenen  Männern  —  wohl 
die  sprechendste,  höchste  Ehrung  für  den  tapferen  Führer  und  den 
edlen  Menschen! 

Der  Schlachtentod  hatte  den  Besten  aus  unserer  Mitte  ge- 
holt und  damit  schien  seine  Gier  nach  uns  gesättigt;  von  den  in 
Peking  eingeschlossenen  Angehörigen  der  »Zenta«  fiel  keiner  mehr 
durch  Feindeshand. 

Als  ältester  Officier  hatte  nunmehr  ich  das  Commando  über 
die  kleine  Schaar  unter  der  roth-weiss-rothen  Flagge  zu  übernehmen 
und  Arbeit  lag  genug  zur  Hand. 

Meine  durch  die  um  VU  Uhr  gefallenen  Kanonenschüsse  ver- 
ursachte Annahme,  dass  der  Strauss  nachmittags  erneuert  entbrennen 
werde,  traf  nicht  zu,  vom  »sniping«  abgesehen,  Hessen  uns  die 
Chinesen  Ruhe,  an  die  Ausbesserung  und  Umänderung  unserer 
anscheinend  so  ärmlichen  und  doch  so  kostbaren  Befestigungen  zu 
gehen.  Die  neu  entstandenen  Breschen  waren  so  gelegen  und  die 
alten  so  gross  geworden,  dass  die  Barricade  zwischen  dem  Mittel- 
stall und  dem  Haus  Saussine  fortan  eher  einen  Nachtheil  als  einen 
Nutzen  gewährte;  schon  in  der  Nacht  hatte  von  Thomann  sie  ab- 
tragen lassen  wollen,  damit  auch  begonnen,  die  Kulis  waren  je- 
doch, nachdem  einer  gefallen  und  ein  zweiter  schwer  verwundet 
worden,  entlaufen  und  seit  dem  Vormittag  konnte  sich  NiemaniL 
mehr  ungestraft  in  die  Nähe  wagen. 


287 

Nach  Rücksprache  mit  Darcy  Hess  ich  also  die  Mauer  zwischen 
Thorgebäude  und  dem  angebauten  Stall  durchschlagen  und  in 
letzterem  vier  Schützenstände  einrichten,  zwei  um  den  schmalen 
Hof  gegen  Norden  der  ganzen  Länge  nach,  die  übrigen  um  die 
Bresche  zunächst  dem  Flaggenmast  zu  bestreichen ;  die  zwei  öster- 
reichisch-ungarischen Posten  des  schon  ganz  in  Trümmern  liegen- 
den Hauses  Morisse  wurden  in  die  neue  Stellung  verlegt.  Bei  der 
Arbeit  griff  sogleich  einer  der  drei  neu  hinzugekommenen  Frei- 
willigen, der  Italiener  Herr  Benvenuti,  wacker  zu,  vor  Sonnenunter- 
gang war  sie  beendet;  das  bisher  intact  gebliebene  westliche  Fenster 
des  Thorgebäudes  musste  mit  Ziegeln  verrammelt  werden,  denn 
von  dort  fielen  seit  Kurzem  die  meisten  Gewehrschüsse  herein,  das 
andere  Hess  sich  nur  theilweise  verlegen,  weil  die  hinderlichen, 
ganz  verbogenen  Trümmer  des  Eisengitters  ohne  Gefahr  für  die 
Mauer  nicht  mehr  entfernt  werden  konnten  —  Sägen,  um  so  dicke 
Barren  zu  schneiden,  gab's  wohl  im  ganzen  Legationsviertel  nicht. 
So  mancher  Erdsack  musste  verbaut  werden,  um  die  Barricaden  zu 
flicken,  und  schliesslich  eröffneten  wir  an  der  Nordmauer  noch  einen 
gedeckten  Zugang  zur  ausserhalb  gelegenen  Barricade. 

Den  Nachmittag  über  bedachten  die  Chinesen  wieder  vor- 
zugsweise die  deutsche  und  die  russisch  -  amerikanische  Stellung 
im  Westen  der  Legationsstrasse,  endlich  auch  wieder  die  englische 
Gesandtschaft  vom  Westen  und  Nordwesten  her  mit  Feuer,  gegen 
letzteren  Punkt  Hessen  sie  auch  eine  Schnellfeuerkanone  leichten 
Calibers  spielen. 

Das  Fu  hatte  in  der  zweiten  Hälfte  des  Tages  vergleichs- 
weise Ruhe;  der  vormittägige  Angriff  war  gleichzeitig  mit  dem 
auf  Frankreich  gerichteten  unternommen,  jedoch  zurückgeschlagen 
worden.  Unter  der  Noth  der  eigenen  Lage  hatte  eine  von  Shiba 
verlangte  Verstärkung  leider  nicht  beigestellt  werden  können, 
doch  schlug  die  Fu-Besatzung  und  zwölf  Engländer  noch  vor  dem 
Eintreffen  einer  russischen  Assistenz  den  Angriff  ab.  Zu  späterer 
Stunde  gelang  es  aber  den  Chinesen  doch,  das  von  den  Japanern  so 
zäh  vertheidigte  Theatergebäude  in  Brand  zu  stecken,  wodurch  diese 
sich  weiter  westlich  an  den  Fuss  eines  Hügels  zurückziehen  mussten. 

An  diesem  Tage  erlebte  man  die  ersten  Proben  der  so  be- 
rühmt gewordenen  »Internationale«,  auch  »Empress-Do wager*  oder 
»Betsy«  genannt,  eines  alten,  in  einem  chinesischen  Eisentrödler- 
laden ausgegrabenen  Feuerrohres  zweifelhaften  Ursprunges,  das 
-Amerikaner  und  Engländer  nothdürftig  in  Stand  gesetzt,  auf 
Iteserverädern  der  italienischen  Kanone  montirt  hatten  und  wo- 
x-aus  die  vorhandene  russische  7  an  Munition  geschossen  wurde. 


Vielzähüg  wie  die  Völker,  die  zu  dieser  mit  grossen  Hoff- 
nungen begrüssten  Errungenschaft  beigetragen,  waren  auch  die 
Launen  des  Schreckensinstrumentes;  wohin  die  Geschosse  flogen, 
liess  sich  nie  vorhersagen,  aber  dann  und  wann  schmetterte  doch 
ein  Geschoss  —  meist  mit  der  Bodenkanle  voraus  —  in  oder  über 
eine  chinesische  Barricade  und  der  formidable  Krach  allein  that 
schon  einige  Wirkung  auf  das  bezopfte  Pack  —  am  sichersten  war 
es  freilich,  alte  Xägel  und  ähnliches  Kleinzeug  zu  laden;  auf  dit- 
gegebenen  kurzen  Entfernungen  entsprach  der  ungeheuere  Streu- 
kegel ganz  gut.  Angesichts  der  Schwierigkeiten,  welche  der  Trans- 
port und  die  Aufstellung  jedesmal  bereiteten,  blieb  die  Verwendung 
des  vielnamigen  .Stückes  immerhin  beschränkt. 

Dtp  Munition    der    italienischen  .Schnellfeuerkanone    war    am 


I 


Ausgehen;  auch  dafür  sollte  Rath  geschaffen  werden.  Aus  dem  I 
Zinn  aller  auftreibbaren,  entbehrlichen  Geräthe  wurden  Geschoss«  1 
gegossen,  die  leeren  Hülsen  erhielten  eine  Ladung  aus  altem 
Sprengpulver  und  an  Stelle  von  Percussionskapseln  setzte  der 
amerikanische  Büchsenmacher  einfach  Revolverpatronen  ein.  Die  _ 
Vorsicht  gebot  freilich,  mit  einem  Probaschuss  zu  warten,  bis  die  i 
letzte  Original-Granate  verschossen  sein  würde,  denn  das  weichel 
Geschossmaterial  konnte  nur  zu.  leicht  die  Züge  verlegen,  und  1 
thatsächlich  sind  nur  vier  solcher  improvisiner  Patronen  verbraucbt  I 
worden,*)  deren  Projectile  keinen  besonderen   Effect  erzielten. 

In  d«r  Xacht  wurde  im  Nordwesten  lebhaftes  Geschützfeuer.  1 
wahrscheinlich  eine  Beschiessung  des  Peitang.    gehört;    ein  neuer! 

*)  Üi).  Juli,  Beriditc  LlnicuicUlfs-Llcuieiiiini  Pooliiil"  qdiI  Sir  Oaud*  Macdonold'*.  1 


Versuch,  die  zum  Abbruch  bestimmte  Ilarricade  im  Hofe  abzu- 
tragen, scheiterte  an  der  Wachsamkeit  der  Chinesen,  die  hiebei 
wieder  einen  unserer  Kulis  erschossen. 

Da  der  Morgen  des  9.  Juli  ganz  ruhig  anbrach,  beHuchteti 
Darcy  und  ich  das  Fu,  um  uns  ein  Bild  von  der  dortigen  Lage 
zu  machen  und  mit  Shiba  über  verschiedene  Punkte  Rücksprache 
zu  nehmen.  Letzterer  fasste  die  Zerstörung  des  noch  rauchenden 
Theaters  durchaus  nicht  düster  auf,  da  hiedurch  wieder  ein  grösseres 
freies  Schussfeld  entstanden  sei;  hingegen  verfehlte  er  nicht,  uns 
seine  Gedanken  über  die  Möglichkeit  ferneren  Aushaltens  mitzu- 
theilen.  Von  25  Matrosen  und  19  Freiwilligen  konnten  nur  mehr 
13,  beziehungsweise  14  Dienst  thun,  mehrere  Leichtverwundete 
inbegriffen;  mit  diesen  erklärte  Shiba  noch  eine  Woche  aushalten 
zu  können ! 

Eine  Aushilfe  hatte  zwar  der  thätige  und  mit  dem  chinesischen 
Volkscharakter  genau  vertraute  Führer  der  Japaner  durch  die 
Organisirung  und  theilweise  Bewaffnung  christlicher  Chinesen  mit 
Gewehren  gefunden,  aber  die  Zahl  letzterer  blieb  naturgemäss 
eine  geringe,  musste  doch  das  Gros  für  die  schweren  Erdarbeiten 
reservirt  bleiben. 

Um  seine  Ansicht  befragt,  wann  überhaupt  ein  von  Japan 
entsendetes  Entsatz  ■  Corps  vor  Peking  erwartet  werden  könnte, 
rechnete  er  uns  vor,  daas  eine  am  20.  Juni  mobilisirte  Truppen- 
Division  nicht  vor  dem  7.  oder  ».  Juli  von  Tientsin  aufbrechen 
könnte  —  auf  bedeutenden  Widerstand  auf  dem  Wege  von  dort 
zu  uns  sei  kaum  zu  rechnen,  daher  hiefur  nicht  mehr  als  8  Tage 
anzusetzen.  Natürlich  wussle  auch  er  nichts  über  die  Entschlüsse 
seiner  Regierung,  denn  das  Datum  der  Mobilisirung  hing  ja  doch 
davon  ab.  wann  man  in  Tokio  die  Ermordung  .Sugiyaraa's  erfahren 
hatte  und  ob  Japan  letztere  als  genügenden  Grund  zur  Kriegs- 
erklärung erachtet  habe. 

Immerhin  hoffte -Shiba  jedoch  binnen  einer  Woche  auf  Entsatz 
und  bis  dahin  unter  allen  Verhältnissen  aushalten  zu  können. 

Mit  diesen  auf  rationellen  Suppositionen  aufgebauten  Be- 
rechnungen fasste  man  sich  weiter  in  Geduld  und  Zuversicht, 
über  den  wichtigsten  Factor,  die  Zustände  in  Tientsin,  konnten  wir 
uns  freilich  kein  Bild  machen,  aber  es  schien  doch  unmöglich,  dass 
dort  nicht  schon  längst  Vorbereitungen,  uns  Hilfe  zu  bringen,  ge- 
troffen würden. 

Auf  französischen  Boden  zurückgekehrt,  fanden  wir  eine 
Ueberraschung ;  der  Besatzung  der  Nordbarricade  war  es  mit 
Milfc  einiger  christlicher  tlüchtlinge  gelungen,  drei  Chinesen  ein- 

WlBMiluld'-t;  K^impfa  in  Chin4 .  111 


zubringen,    die  in    den    angrenzenden    Häuschen    geplündert    u 
dann  Brand  gelegt  hatten,  einige  andere  ihrer  Helfershelfer  vai 
gleich    niedergeschossen   worden.     Veroudart    verhörte    sie,  i 
war   nichts   aus   ihnen  herauszubringen,    als  das  Gentändnisa,   i 
sie    von    den    Boxern    und    Soldaten,    unter    denen    wir  seit  rwi 
Tagen   auch  solche  Yunglu's  erkannt  hatten,  vorgeschickt  worda 
waren,  um  zu  spioniren  und  eine  Feuersbrunst  zu  stiften,  wo; 
sie  nach  Herzenslust  plündern   durften:   ihre  Haltung  war  trotz! 
und   verschlossen,   kein   Einreden   half   und    so   wurden   sie   als   ! 
flagranti   ertappte  und  geständige  Räuber  und  Brandleger 
halb  der  Legation  fusilirt,*)  Dass  Boxer  und  Militär  solches  Gesindi 

vorschoben. 
nur,  dass  es  mit  ihrei 
Muthe  nicht  gerad 
glänzend  bestellt  wai 
UmIU'/.Uhrvoi 
mittags  begann  wi( 
der  ein  Geschütz  vo 
Osten  her  auf  ■ 
150  Meter  Entfern un 
die  ohnedies  scho 
arg  mitgenammnni 
grosse  Halle  und  di 
rückwärtigen  Gebäi 
de  zu  bombardireji 
kurz  darauf  fiel  eä 
j;\vf>ites,   weiter  süd 

Lrl,,.-.   i.:.ns    BirrjUK'-l-i«    Ur All. U. -,;,--  Ücfa      Und     ttOCh     nibOl 

postirtcs  ein.  welche) 
sich  die  Trümmer  des  Hauses  Morisse  zum  Ziel  ausersehen  hatief 
von  Südosten  her  rückten  zwei  Banner  Soldaten  vor  und  gabeil 
ein  heftiges  Gewehrfeuer  ab.  Endlich  schien  es  doch  zu  einem 
Sturm  zu  kommen,  aber  trotz  des  Angriffsgeheuls  wagten  nch 
nur  ein  paar  besonders  beherzte  Chinesen  —  mit  vorgehalienfiO 
Matratzen!  ^  in  die  Bresche,  die  natürlich  sammt  ihren  Schilden 
allsogleich  fielen.  Meine  Leute  hatten  bei  dem  Anblick  ein  laute« 
Gelächter  erhoben,  trotz  Geschosshagel  und  Granaten  war  die  Seen* 
doch  zu  komisch  gewesen !  Gleich  darauf  flogen  wieder  zwei  Brai*^ 

•)  Die  in  einigen  Danlellaogen  enthaltene  Angabe,  da»  ntan  »I«  ««oA'*' 
habr.  ht  unticbli;;:  die  für  eine  rasche  Exccnlion  nolhwendigni  RtroNeip««™'"' 
konolen  wir  ealheltren  und  <let  bei  unseren  Kalis  erwulilcn  MonlJuM  duifle  t**^ 
e  ticIcgeDlieil  gegebi^n  weiden,  den  Urlheib-^piuch  lon  Euiopi 


291 

raketen  herein  und  schwärmten  zwischen  den  rauchgeschwärzten 
Mauern  herum,  bis  sie  erloschen ;  im  Nordstall  nisteten  sich  einige 
Chinesen  ein,  endlich  gelang  es  aber,  zwei  von  ihnen  kalt  zu  machen, 
worauf  der  Rest  entwich. 

Nach  einer  Stunde  schienen  unsere  Gegner  befriedigt  und 
zogen  sich  langsam  zurück;  nur  an  der  Nordostecke  wurden  die 
französischen  Posten  weiter  beschossen  und  einzelne  Grüsse  aus 
den  Geschützen  fanden  noch  bis  2%  Uhr  nachmittags  ihren  Weg 
zu  uns. 

Matrose  Tamburus  wurde  im  Reduit  durch  ein  Sprengstück 
leicht  verwundet,  der  französische  Fourier  Loh^zic  erlitt  ebenfalls 
durch  ein  solches  eine  Contusion  an  der  Brust. 

Die  Zahl  der  Breschen  in  der  Ostmauer  war  schon  auf  sechs 
angewachsen. 

Das  Loch  im  Capellengiebel  und  die  vielen  ebenfalls  von 
Granaten  herrührenden  OeflFnungen  im  Dache  des  blauen  Salons 
ermöglichten  uns  einen  Einblick  in  die  Lager  jenseits  der  beiden 
Strassen ;  von  dort  aus  konnte  man  ziemlich  sicher  beurtheilen,  ob 
ein  Angriff  bevorstehe  oder  nicht,  und  um  die  Chinesen  nicht  auf 
diese  werthvoUen  Punkte  aufmerksam  zu  machen,  wurde  das 
Schiessen  von  diesen  Auslugposten  verboten,  so  schwer  auch  die 
Versuchung  zu  überw^inden  war,  ein  paar  Kerle  niederzubrennen, 
während  sie  ihren  Thee  schlürften  oder  ihre  Zöpfe  strählten. 

Nachmittag  hatten  die  zwei  Leute  der  >Zenta«  an  der  Nord- 
barricade  wieder  Jagdglück,  zwei  Schüsse  brachten  ihnen  drei  Opfer, 
deren  Gewehre  und  Munition  an  die  Freiwilligen  im  Fu  vertheilt 
wurden.  Die  Amerikaner  trugen  mir  die  »Internationale«  an,  doch 
dankte  ich,  weil  vorläufig  nirgends  eine  geeignete  Aufstellung 
dafür  zu  finden  war. 

Da  die  Chinesen  von  der  Kaisermauer  aus  den  Canal  und 
namentlich  die  Aus-  und  Eingänge  vom  Fu  und  der  englischen 
Gesandtschaft  unter  Feuer  hielten,  wurde  an  diesem  Tage  ein  neuer 
gedeckter  Weg  und  eine  stärkere  Barricade  in  der  Canalsohle  zu 
bauen  begonnen;  zu  diesem  Zwecke  grub  man  unter  der  Mauer 
auf  jeder  Seite  des  Canals  einen  tiefen  Laufgraben  aus.  Die  ausser- 
ordentlich drückende  Hitze  schien  die  Unternehmungslust  unserer 
Gegner  gelähmt  zu  haben,  der  Nachmittag  gehörte  nur  ihren 
Scharfschützen. 

Gegen  Abend  verbreitete  sich  ein  Gerücht,  die  Chinesenstadt 
sei  von  Truppen  verlassen  und  das  Volk  erzähle  sich,  80.000  Fremde 
seien  im  Anzug;  einige  japanische  Matrosen  eilten  schon  auf  die 
Stadtmauer,    um    ihre    ankommenden    Landsleute     zu    begrüssen, 

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292 


kehrten  jedoch   enttäuscht   zurück.     Wie   das  Gerede   en 

■     \  entzog  sich  der  Controle.*) 

Da    man    nach  Sonnenuntergang    hinter    den  Mauerr 

!j    I  Legationsstrasse   uns  gegenüber  grossen  Lärm   und  das  ( 

von  Hammer-  und  Axtschlägen  hörte,  wurde  der  Verdau 
dass  die  Chinesen  dort  einen  Geschützstand  errichteten 
vom  Dachraum  des  Thorgebäudes,  noch  vom  Ausguck 
Capelle  konnte  man  den  Raum  unmittelbar  hinter  der  fr 
Mauer  einsehen,  blieb  daher  auf  Vermuthungen  beschrär 
meine  Veranlassung  wurde  um  die  »Internationale«  geschic 
ihrer,  die  inzwischen  anderwärts  aufgestellt  worden,  1 
italienische  Schnellfeuerkanone  herüber.  Während  wir  i 
der  Herstellung  einer  entsprechenden  Oeffnung  in  der  S 
beschäftigt  waren,  erschien  Chamot  und  betheuerte,  vc 
seines  Hauses  folgendes  Gespräch  bei  unserem  Gegenüber  < 
zu  haben:  »Jetzt  kommen  fremde  Soldaten,  machen  wir 
dem  Staube.  €  —  Was  immer  daran  gewesen,  so  war  voi 
kein  Anzeichen  eines  Abzuges  zu  bemerken. 

Chamot    Hess    durch    seinen  Boy,    dessen    Bekanntsc 
schon  beim  Versuche,  die  Leiche  des  Russen  zu  bergen, 
haben,  an  zwei  Thore  vis-ä-vis  von  uns  Feuer  legen,  das  ab 
nicht  genügend  griff  und  die  Chinesen    veranlasste,    wie 
zu   schiessen.    Inzwischen    verständigten    wir   Soden   von 
Beobachtungen    und    unserem    Vorhaben ;    seine    Posten 
auch    nichts  Aufklärendes  melden,  doch  Hess  er  sie  für  a 
etwas  zurückziehen,  um  sie  ausser  Bereich  unseres  Gesch 

j    ;  bringen. 

Um  9'/4  Uhr  gaben  wir  vier  Schüsse  aus  der  itali 
Kanone  ab,  ihre  Wirkung  war  jedoch  minimal,  denn  si< 
schlugen  die  Vormauer  glatt  und  crepirten  erst  an  den  I 
natürlich  antworteten  die  Chinesen  alsbald  mit  einer  neuen 
Fusillade.  Ihr  Geschrei  und  misstönendes  Trompetengebl 
gerte  sich  einige  Minuten  hindurch,  so  dass  noch  drei 
Schüsse  abgegeben  wurden,  bald  aber  nahm  das  Getöse  j 
Rosthorn,  der  von  der  Thorbarricade  aus  mit  ges 
Ohr  Alles  verfolgte,  was  drüben  vorging,  erklärte,  dass  die 
drüben  gerufen:  »Grosse  Kanone  herbei,  Thor  öffnen«  — 
unser    kleines   Geschütz    in  Erwartung    des  Kommenden 

*)  Sir  Claude  verzeichnet  unter  dem  9.  Juli,  dass  ein  christlicher  Chii 
die  Stadt  hinausgeschlichen  und  unter  Anderem  berichtet  habe,  von  einen 
fremder  Truppen  sei  nichts  bekannt;  man  ersieht  aus  dieser  Entgegenstelli 
gänzliche  Ungewissheit  über  die  wichtigsten  Fragen. 


298 

Glück  geg-en  das  nähere  der  beiden  Thore  gerichtet  und  auf  unserer 
Stellung  Alles  an  den  Gefechtsposten  verblieb;  doch  verlief  die 
Nacht  ohne  besondere  Vorfalle,  ausgenommen  einiges  Gewehrfeuer 
bei  unserer  Nordbarricade,  auf  der  Stadtmauer  und  im  Fu. 

Am  folgenden  Morgen  schickte  ich  dankend  die  italienische 
Kanone  nach  »England«  zurück. 

Wir  schrieben  den  10.  Juli  —  also  war  seit  dem  Aufbruche 
Seymour's  von  Tientsin  schon  ein  voller  Monat  verflossen ;  das  gab 
zu  denken! 

Wieder  wurde  ein  Plünderer  von  der  Nordbarricade  einge- 
bracht und  nach  kurzem,  ebenso  resultatlosem  Verhör  wie  jenes  der 
am  Vortage  Gefangenen  trat  auch  er  gleichmüthig  seinen  letzten 
Gang  an. 

Um  8Vi  Uhr  kam  zu  unserem  grössten  Erstaunen  eine  englische 
Patrouille  hinter  der  Barricade  Chamot  hervor  und  marschirte, 
ohne  einen  Schuss  zu  erhalten,  an  den  von  Chinesen  besetzten 
Häusern  in  der  Legationsstrasse  vorbei  bis  zu  unserer  Stellung, 
wo  sie  Einlass  fand ;  sie  war  ins  Fu  bestimmt  gewesen  und  hatte 
sich  verirrt!  Da  mussten  unsere  sonst  doch  sehr  aufmerksamen 
Gegenüber  entschieden  eine  sehr  wichtige  Abhaltung  gehabt,  w^ahr- 
scheinlich  Hauptmahlzeit  gehalten  haben ;  hoffentlich  ist  dem  Führer 
der  fünf  Mann  das  Glück  auch  fernerhin  gleich  hold  geblieben. 

Von  10  Uhr    bis  Mittag    bombardirten    die  Chinesen    wieder 
die    östlichen  Gebäude    der  Legation    und    gefielen  sich  in    einem 
weiteren  Angriff  auf  uns,    wie  alle  die  Tage  seither;    nachmittags 
kehrte  sich  das  Bombardement   gegen  die  deutsche  Legation,   das 
Fu    und    die    Westgruppe,    der  Flaggenmast    der    amerikanischen 
Gesandtschaft  war  schon  vier  Tage  vorher   abgeschossen  worden, 
die  Russen  kappten  den  ihrigen,  weil  er  einen  zu  guten  Hilfsziel- 
punkt abgab.  Bei  uns  herrschte  relative  Ruhe;  vom  Hause  Saussine 
beobachteten  \vir,    dass  die  Chinesen   in  der  Customsstrasse  unter 
den  Resten  der  Mauer  gruben.  Bald  war  kein  Zweifel  mehr  darüber 
möglich,    welche  Absichten   sie   damit   verfolgten,    es   konnte   nur 
eine  Mine  sein;    gegen  welches  Object   jedoch   sie    sich    richtete, 
entzog"   sich   unserer  Beurtheilung.  Das  einfachste  Mittel,  um   sich 
g-eg'en   diese  neue  Gefahr   zu  sichern,   einen  tiefen,    senkrecht  zur 
Wahrscheinlichen  Richtung  des  Ganges  verlaufenden  Graben  auszu- 
heben,  konnte   in   unserem  Falle   nicht  angewendet  werden,   denn 
der  schmale  Hof  stand  ganz    unter  dem  Feuer    der  Chinesen  und 
Um    in  gerader  Richtung  unterirdisch  entgegenzuarbeiten,   fehlten 
Uns    die  Leute    und    schliesslich   jegliches  Sprengmaterial.    So  be- 
schlossen wir,  das  zunächst  liegende  Haus  Saussine  für  gewöhnlich 


294 

zu  räumen  und  die  Lücke  in  der  Linie  durch  Verstärkung  der 
seitwärts  aufgestellten  Wachen  so  gut  als  möglich  zu  decken; 
vielleicht  liess  sich  ein  Canal  auffinden,  den  ausräumend  man  in 
die  Nähe  der  chinesischen  Mine  gelangen  konnte.  Bouillard  und 
Chamot  wurden  zu  Rathe  gezogen,  aber  auch  letzterer  vermochte 
über  die  Existenz  und  den  Lauf  eines  Canals  gerade  an  dem  be- 
drohten Punkte  keinen  bestimmten  Aufschluss  zu  geben.  —  In  der 
That  ein  böses  Gefühl,  nun  auch  den  so  zähe  vertheidigten  Boden 
nicht    mehr  sicher  zu  wissen. 

Zur  Abwechslung  circulirte  am  Abend  ein  Gerücht,  dass  uns 
in  der  kommenden  Nacht  endlich  der  Garaus  gemacht  werden 
solle ;  gestern  Befreiung,  heute  allgemeines  Massacre  —  eines  wie 
das  Andere  Ausgeburten  einer  überhitzten  Phantasie! 

Der  ganze  folgende  Tag,  der  11.  Juli,  verging  bei  uns  ziem- 
lich ruhig.  Der  Versuch,  einen  Canal  zu  finden,  scheiterte;  zwar 
wurde  zwischen  Thor-  und  Hauptgebäuden  ein  fest  verstopfter,  ge- 
mauerter Abzug  gegen  die  Legation sstrasse  aufgedeckt,  aber  keiner, 
der  nach  der  bedrohten  Richtung  geführt  hätte.  Wie  immer  man 
über  die  Minen  der  Chinesen  denken  mochte,  so  liess  sich  doch 
voraussetzen,  dass  die  bisherige  Vertheidigungslinie  kaum  mehr 
lange  gehalten  werden  könnte,  und  so  fand  der  Vorschlag  Bartholin's, 
vom  Hause  Anthouard  bis  an  die  Nordmauer  einen  Laufgraben 
ziehen  zu  w- ollen,  volle  Zustimmung;  der  Antragsteller  übernahm 
gleich  die  Ausführung  und  arbeitete  mit  den  wenigen  Kulis,  die 
aufgetrieben  werden  konnten  —  ständig  blieben  nur  zwei  —  un- 
verdrossen vom  frühen  Morgen  bis  in  die  späte  Nacht. 

Trotz  des  abschreckenden  Beispieles  setzte  das  von  Boxern 
und  Soldaten  protegirte  Gesindel  in  unserer  linken  Flanke  sein  Un- 
wesen fort ;  morgens  waren  nicht  weniger  als  18  von  ihnen  nieder- 
geschossen, einer  gefangen  und  nach  fruchtlosem  Verhöre  füsilirt 
worden.  Raden  theilte  mit,  dass  die  Chinesen  ihre  Stellung  gegen- 
über der  amerikanisch  -  russischen  Barricade  im  Westth^ile  der 
Legationsstrasse  mit  Sack  und  Pack  verlassen  hatten;  eine  Er- 
klärung hiefür  liess  sich  nicht  leicht  erdenken. 

Die  Deutschen  verloren,  wiewohl  nur  in  den  Morgenstunden 
lebhafter  beschossen,  doch  wieder  einen  Mann  todt,  Engländer 
und  Japaner  im  Fu  mehrere  Verwundete;  spät  abends  wurde 
dort  Matrose  Triscoli,*)  den  ich  erst  am  Morgen  als  Ablösung 
für  einen  anderen  dahin  geschickt,  durch  den  Kopf  geschossen. 
Also  trotz  weniger  lebhafter  Thätigkeit  der  Chinesen  wieder  genug 
Verluste ! 

♦)  Mit  Verlust  des  rechten  Auges  invalid. 


295 

Abends  erzählte  man  sich  —  das  Gerede  entstand  meist  in 
»England«  —  die  Truppen  des  Prinzen  Tsching  hätten  sich,  für  die 
Fremden  Partei  ergreifend,  ausserhalb  der  Stadt  mit  anderen  ge- 
schlagen, wären  aber  geworfen  und  zerstreut  worden;  Sensations- 
lustige hatten  also  keinen  Grund,  über  Einförmigkeit  zu  klagen. 

Den  12.  Juli  leiteten  unsere  Gegner  mit  einer  erneuerten, 
heftigen  Beschiessung  des  Nordosttheiles  der  französischen  Legation 
ein,  gegen  die  es  kaum  mehr  Deckung  gab.  Die  Ostmauer  bröckelte 
immer  weiter  ab,  ein  trostloser  Anblick.  Auch  das  Manöver,  mit 
Stangen  Feuer  hereinzureichen,  wiederholte  sich,  glücklicherweise 
auch  diesmal  ohne  Erfolg;  wieder  wurde  ein  Plünderer  bei  der 
Nordbarricade  niedergemacht,  einer  gefangen.  Man  fragte  sich  un- 
willkürlich, welcher  Magnet  für  die  Raubgier  des  Volkes  dort 
eigentlich  verborgen  sein  müsse. 

Unser  Gefangener  wurde  auf  Ersuchen  von  Sir  Robert  Hart 
zum  Verhör  in  die  englische  Gesandtschaft  geschickt;  letzterer 
hoffte  doch  etwas  aus  ihm  herauszubringen. 

Auf  der  Stadtmauer  hatten  die  Chinesen  indessen  ihr  Geschütz 
schon  bis  auf  die  Höhe  der  Ostmauer  der  deutschen  Legation 
herangebracht  und  bombardirten  von  dort  nun  den  alten  und  neuen 
Club,  die  Secretärshäuser  und  das  Hotel  fast  den  ganzen  Tag. 
Soden  lud  mich  ein,  seine  Position  zu  besichtigen.  Auf  seine  Frage, 
was  ich  an  seiner  Stelle  noch  unternehmen  würde,  konnte  ich  nur 
antworten:  »Dasselbe  wie  Sie,  aushalten.«  Von  einem  Vorgehen, 
um  mehr  Luft  zu  bekommen,  war  einfach  keine  Rede ;  im  Osten 
standen  seine  Posten  nicht  viel  weiter  von  den  chinesischen  als 
unsere  im  Osthof,  von  der  Mauer  herab  hielten  die  Chinesen  den 
ganzen  freien  Platz  unter  plongirendem  Feuer,  es  blieb  nur  die 
Frage,  ob  sie  sich  getrauen  würden,  über  letzteren  her  anzulaufen. 

Aus  der  deutschen  Gesandtschaft  zurückgekehrt,  kam  ich  eben 
dazu,  wie  unser  Blockhaus  mit  Granaten  beschossen  wurde.  Die 
Chinesen  hatten  in  der  italienischen  Gesandtschaft  in  der  bei- 
läufigen Höhe  eines  Stockwerkes  ein  Geschütz  zu  postiren  ver- 
mocht und  eben  demaskirt.  Die  ersten  drei  auf  weniger  als 
150  Meter  Distanz  abgegebenen  Schüsse  trafen  wieder  das  Dach  des 
Portals,  nach  einem  Kurzschuss  auf  die  Strasse  schlugen  drei  Ge- 
schosse in  den  schwachen  Ziegelbau  des  Reduits,  einige  weitere  waren 
gegen  die  Barricade  Chamot  gerichtet.  Zu  unserer  grössten  Freude 
und  Ueberraschung  widerstanden  die  nur  zwei  Ziegellängen  dicken 
Wände  des  Blockhauses  im  Ganzen,  die  Sprengwirkung  war  rein 
örtlich,  weit  schwächer  als  befürchtet  und  verursachte  keine 
grösseren  Schäden,  als  dass  wir  sie  nachts   mit  einigen  Erdsäcken 


296 

ausbessern  konnten.  Sowie  die  Reihe  des  Beschossenwerdens  an  die 
in  unserem  Rücken  liegende  Barricade  gekommen  war,  hatten 
unsere  Leute  gleich  wieder  ihre  Posten  im  Reduit  eingenommen 
und  getrachtet,  die  in  der  finsteren  Bresche  unsichtbar  bleibende 
Geschützbemannung  mit  Gewehrfeuer  zu  vertreiben ;  nach  dreizehn 
Schüssen  verschwand  die  Kanone  hinter  einigen  rasch  von  innen 
vorgeschobenen  Balken,  um  nie  wieder  vom  selben  Punkte  aus 
in  Action  zu  kommen.  Wären  noch  drei  bis  vier  Schüsse  gegen 
das  Blockhaus  abgegeben  worden,  so  hätte  dieses,  unser  wichtigster 
Posten  in  der  Legationsstrasse,  doch  zweifellos  in  Trümmer  zer- 
fallen müssen,  aber  so  weit  reichte  die  Beurtheilungsgabe  der 
Chinesen  glücklicherweise  nicht. 

Gegen  die  Ostmauer  war  inzwischen  wieder  ein  lebhaftes 
Gewehrfeuer  unterhalten  worden;  an  der  Nordostecke  im  Keller 
scharrten  unsere  Gegner  wie  Maulwürfe  und  bauten  sich  dort  eine 
Holzbarricade.  Um  1  Uhr  nachmittags  setzte  Pelliot  letztere  in 
Brand  und  riss,  von  zwei  französischen  Matrosen  unterstützt,  ein 
dort  angelehntes  Banner  herein;  die  laute  Freude  darüber  wurde 
aber  nur  zu  bald  ernstlich  getrübt,  denn  an  derselben  Stelle  er- 
hob sich  ein  wüthendes  Feuer  der  ergrimmten  Chinesen.  Nun  sah 
man  deutlich,  wie  bedeutend  die  Anzahl  von  Zufallstreffern  sein 
konnte;  binnen  einer  Stunde  kamen  dort  fünf  Verwundungen, 
darunter  zwei  schwere  und  eine  tödtliche  vor.  Freiwilliger  Gruintgens 
erhielt  eine  Kugel  in  die  Kehle  und  wäre,  wenn  nicht  Dr.  Matig- 
non  unmittelbar  darauf  Hilfe  geleivStet  hätte,  durch  den  Bluterguss 
erstickt ;  unvergesslich  bleibt  uns  Allen  seine  heroische  Anstrengung, 
sich  zu  einem  Lächeln  zu  zwingen  und  den  Herbeigeeilten  die 
Hand  reichen  zu  wollen !  Während  man  ihn  nach  dem  Hospital 
in  der  englischen  Gesandtschaft  transportirte,  wurden  Benvenuti 
und  zwei  chinesische  Blessirtenträger  noch  leicht  verwundet. 

Die  Inschrift  des  Banners  wurde  abgelesen:  »General  Lih, 
rechter  Flügel  der  Truppen  Yunglu's«;  scheinbar  war  es  eines 
jener  Feldzeichen,  deren  Verlust  für  die  betreffende  Truppe  die 
Sistirung  ihres  Soldes  nach  sich  zieht,  denn  sonst  Hesse  sich  die 
Wuth  der  Chinesen  kaum  erklären. 

So  aneifernd  auch  sonst  die  Worte:  »Eroberung  einer  feindlichen 
Fahne  €  klingen  mochten,  so  durfte  in  unserem  Falle,  wo  jeder  dienst- 
fähige Mann  solange  als  möglich  erhalten  werden  musste,  doch 
für  derartige  Unternehmungen  nichts  aufs  Spiel  gesetzt  werden 
und  konnte  ich  Darcy  hierin  nur  beistimmen;  demgemäss  erging 
von  uns  Beiden  an  unsere  Leute  das  Verbot,  ohne  unser  Vorwissen 
wieder  etwas  Aehnliches  zu  unternehmen,  im  Uebrigen  wurden  aiudi 


die  Chinesen  vorsichtiger  und  vermieden  es,  ihre  Abzeichen  in  so 
L  verlockender  Nähe  aufzustellen.  Fast  zur  selben  Zeit  hatten  im 
■  Hanlin  ein  Amerikaner  und  mehrere  Engländer  ebenfalls  ein  chine- 
I  sisches  Artillerie-Banner,  das  auf  einer  Barricade  dicht  neben  der 
P   Alauer  aufgepflanzt  worden  war,  erbeutet. 

Gegen  das  Fu  hörte,  wie  überhaupt  bei  uns  im  Osten,  das 
I  Feuer  auch  diesen  Tag  nicht  auf;  auf  der  Stadtmauer  versuchten 
die  Amerikaner  eine  Zeit  lang  mit  Erfolg  die  Chinesen  am  Bom- 
bardement der  deutschen  Gesandtschaft  zu  verhindern :  um  5  Uhr 
nachmittags  hatten  letztere  sich  aber  gegen  die  Salven  von  Westen 
her  gedeckt  und  warfen  nun  schon  Granaten  ins  Ministerhaus. 
Abends  wurde  es  ruhiger,  einige  durch  die  Bresche  beim  franzö- 
sischen Flaggenmaste  hereingeschleuderte  Brander  versagten. 
Letzterer  stand,  wiewohl  von  Projectilen  aller  Art  zerhackt,  noch 
immer  aufrecht,  die  Tricolore  wehte  halb  zerfetzt  noch  immer 
herab  —  ein  Zufall  hatte  es  wollen,  dass  eine  durchschossene  Leine 
sich  in  der  zweiten  verfangen  und  scheinbar  verbleit  hatte,  die 
Flagge  sass  fest  wie  angenagelt! 

Die  ganze  Nacht  über  liess  das  Gewehrfeuer  an  der  Nordost- 
ecke nicht  nach  und  kostete,  als  der  Morgen  des  13.  Juli  anbrach, 
noch  dem  Matrosen  Lenne  das  Leben  —  die  erbeutete  Fahne  kam 
den  F'ranzosen  fürwahr  theuer  zu  stehen.  Statt  der  Plünderer  fielen 
an  diesem  Tage  drei  chinesische  Soldaten  bei  der  Nordbarricade ; 
auffälligerweise  wurde  die  franzosische  Legation  gar  nicht  mit 
Geschütz  angegriffen,  dagegen  litten  die  deutsche,  das  Hotel  und 
das  Fu  sehr  unter  dem  fortgesetzten  Bombardement,  im  letzteren 
mussten  die  Japaner  wieder  um  eine  weitere  Linie  zurück.  Die 
»Deutschen  hatten  wieder  zwei  Falle  von  Verwundungen,  darunter 
eine  schwere,  zu  beklagen. 

Gegen  Mittag  trat  allmählich  Stille  ein;  Bartholin  arbeitete, 
glücklich  sein  Werk  der  Vollendung  nahe  zu  sehen,  rüstig  an  der 
Tranchöe  weiter,  die  seinen  Namen  tragen  sollte.  Wir  erhielten 
wie  am  Vortage  den  Besuch  einiger  Engländer,  die  sich  das  Bild 
ansehen  gekommen  waren,  und  gewiss  war  es  der  Mühe  werth, 
den  Weg  herüber  zu  machen.  Von  der  ehedem  so  schönen  Gesandt- 
schaft standen  eigentlich  nur  mehr  Ruinen  da.  Die  Ostmauer, 
praktisch  genommen  ein  rauchgeschwärzter  Trümmerhaufen,  bot 
fast  .schon  mehr  Durchblick  als  sie  ihn  verwehrte;  die  Dächer  der 
Hauptgebäude  und  der  grossen  Halle  total  zerschossen  und  ihr 
nrg  zersplittertes  Gebälk  nahezu  ganz  freigelegt,  die  Mauern  bis  auf 
.circa  ii'l»  Meter  vom  Boden  durch  die  vielen  Granaten  zerrissen 
Wd    durch    die  Tausende  von  Gewehrprojectilen  zerbröckelt;    das 


298 

Thorgebäude  und  sein  östlicher  Annex  zur  Hälfte  abgedeckt,  die 
Wände  vielfach  durchlöchert  und  Alles  dem  Einsturz  nahe;  die 
schmalen  Hofräume  mit  zerschlagenen  Ziegeln,  zerfallenem  Mauer- 
anwurf  und  halbverkohlten  Holzstücken  bedeckt;  der  ehedem  so 
gut  gepflegte  Park  mit  abgeschossenen  Aesten  und  Zweigen  über- 
säet, nur  mehr  die  in  seinem  westlichen  Theile  befindlichen  Baulich- 
keiten waren  in  bewohnbarem  Zustande,  auf  dem  Tennisplatze  ein 
paar  arg  mitgenommene  Rickshaws  mit  Ziegeln  beladen  und  sonst 
die  Spuren  vom  Schlachten  und  Zerlegen  unserer  schon  bedenklich 
zusammenschmelzenden  Maulthierherde  —  so  präsentirte  sich  die 
Legation  von  aussen.  Die  vormals  bekannt  schönen  Interieurs 
devastirt,  wo  die  feindlichen  Geschosse  nicht  hingetroffen,  dort 
hatte  ein  Durchschlag  gemacht  werden  müssen  und  auf  dem  Boden 
manche  dunkle  Stelle,  wo  er  das  Blut  eines  Verwundeten  eingesogen; 
Officiere,  Freiwillige  und  Matrosen  in  zerrissenen,  angebrannten 
Kleidern,  seit  dem  29.  Juni  fast  stets  auf  ihren  Gefechtsposten, 
wer  nicht  auf  Wache  stand,  suchte  Gewehr  im  Arm  in  der  nächsten 
Nähe  ein  Plätzchen,  wo  er  auf  einem  alten  wackeligen  Stuhl  oder 
auch  nur  auf  ein  paar  Sandsäcken  oder  auf  Schutt  ruhen  wollte  — 
wollte,  denn  die  Millionen  von  Fliegen  Hessen  das  nicht  zu.  Der  An- 
blick konnte  melancholisch  stimmen,  aber  wir  waren  stolz,  dort  noch 
auszuhalten ;  unsere  Besucher  verhehlten  nicht,  wie  tiefen  Eindruck 
ihnen  das  Gesehene  bereitete,  und  einer*)  von  ihnen  sprach  sich,  die 
Verheerungen  durch  Geschützfeuer  musternd,  unumwunden  aus:  »Ja 
hier  haben  Sie  wohl  zehnmal  mehr  bekommen  als  die  englischt 
Legation.« 

Nach  1  Uhr  wurde  es  unheimlich  still,   nur  vom  Westen  hei 
klangen  noch  einige  Schüsse ;  Lenne's  Begräbniss  verlief  ganz  un — 
gestört. 

Um  4  Uhr  hatte  Bartholin  seinen  letzten  Spatenstich  gethai 
und  meldete  Darcy  schweisstriefend,  aber  glücklich  über  den 
die  Vollendung  seines  Werkes,  das  er  trotz  einer  glühenden,  durcl— ^^  ^ 
keinen  Hauch  gekühlten  Hitze  unermüdlich  fortgesetzt  hatte,  allere  < 
Warnungen,  sich  nicht  zu  übermüden,  immer  nur  das  eine  Wer — "^nri 
entgegensetzend:  »Gleich,  gleich  ist's  fertig.« 

Gegen  4Vs  Uhr   erschien    in   der    Customsstrasse   wieder  eir  —An 
Banner  und  war  dort  einige  Unruhe  zu  bemerken ;  da  jedoch  ala«cr   r- 


*)  Dr.  Morrison  selbst.    Er   und    sein   Begleiter    Captain    Poole    besuchten 
das    deutsche    Ministerhaus,    das    allerdings    noch   unvergleichlich   besser    erhalten 
eine  eben  den  Plafond  durchschlagende  Granate  kürzte  ihren  Besuch  ab.    I^der  cxist_     mit 
keine  einzige  photographische  Aufnahme  der  französischen  Legation  in  ihrem  Zustand  sm.w 
12.  oder  13.  Juli,  das  Project  einer  solchen  wurde  hinausgeschoben,  bu  es  xu  9^  W"^«r. 


mirt  wurde,  zopeii  sich  die  Chinesen  wieder  zurück.  —  Wenn  uns  I 
die  Chinesen  Ruhe  Hessen,  sollte  morgen  das  französische  National-  1 
fest  solenn  begangen  werden:  der  alte  Pesqueur,  ein  in  allen  I 
Oceanen  und  unter  allen  Sonnen  grau  gewordener  Seebär  mit  dem  1 
einfachen,  leicht  zu  befriedigenden  Herzen  eines  Kindes,  bereitete  I 
eine  Flagg^^ngala  vor.  ohne  die  nach  seinem  seemännischen  Gefühl  I 
ja  ein  14.  Juli  nicht  gefeiert  werden  konnte.  Eine  lange  Stange  I 
■und  Leinen  hatte  er  aufgetrieben  und  damit  wollte  er  vor  dem  I 
»Hauptquartier«,  d,  i.  dem  Fremdenpavillon  einen  neuen  Flaggen-  I 
stock  errichten,  von  dem  Tricolore  und  Roth-Weiss-Roth  zusammen  I 
stolz  in  die  gegnerischen  Lager  hinübersehen  würden;  wie  er  sich  1 
freute,  einmal  wieder  etwas  auftakeln  zu  können!  Das  rausste  er  1 
,ganz  allein  besorgen,  die  Dienstfertigen  von  vier  Nationen  hatten  I 
nur  zuzusehen  und  zuzuhören,  wie  er  seine  flinke  Arbeit  mit  Be-  I 
merkungen  über  das  Jetzt  inmitten  des  gelben  Hundepacks  und  I 
das  glücklichere,  gewiss  noch  folgende  Einst  auf  dem  «D'Entre-  I 
casteauX'  kürzte.    Braver  Pesqueur,  das  war  dein   letzter  Traum!  I 

Oegen  5  Uhr  theilte  uns  M.  Pichon  folgende  Aussagen  des  tags-  I 
vorher  gefangenen  Plünderers  mit,  die  Sir  Robert  Hart's  Fragekunst  I 
entlockt  hatte:  I 

"Kaiser  und  Kaiserin- Witwe  befinden  sich  im  Winterpalast;  I 
die  Leitung  der  öffentlichen  Angelegenheiten  liegt  in  den  Händen  | 
des  Prinzen  Tuan,  der  Generale  Yunglu  und  Tung-Fuhsiang,  Prinz  ( 
Tsching  nimmt  keinen  Theil  daran.  Es  sind  noch  zahlreiche  Boxer  ] 
in  der  Stadt;  im  Hause  ihres  Hauptbeschützers  Tuan  werden  sie  J 
immatriculirt,  mit  Geld  und  Lebensmitteln  versehen.  Die  Soldaten  1 
machen  sie  lächerlich,  weil  sie  trotz  ihrer  angeblichen  Unverw^und-  j 
barkeit  nicht  wagen,  in  den  ersten  Reihen  ins  Feuer  zu  gehen.        I 

300(J  Tung-Fuhsiang-Soldaien  sind  in  der  Stadt,  sie  stehen  I 
den  Amerikanern  auf  der  Stadtmauer  und  im  Süden  gegenüber.  J 
■Die  französische  Legation  wird  von  Yunglu's  Leuten  umgeben.  I 
Täglich  fallen  einige  oder  werden  verwundet;  die  Munition  kommt  ] 
aus  Nanhaitse.  Die  Kaiserin -Witwe  hat  sich  der  Anwendung  von  I 
grobem  Geschütz  gegen  die  Fremden  mit  Rücksicht  auf  den  I 
Schaden,  der  daraus  für  ihre  Untcrthanen  und  deren  Behausungen  i 
entstehen  könnte,  widersetzt.  Nachdem  die  directen  Angriffe  erfolg-  I 
los  geblieben  und  die  Gewehre  der  Fremden  die  besseren  sind.  I 
hat  man  sich  entschlossen,  letztere  auszuhungern;  auch  glauben  I 
die  Soldaten,  dass  die  Fremden  einige  Tausend  stark  sind.")  1 

Heien  Fremden  auf  2000;  er  sei  »on  Jen  1 
•  Heller)  läglich  engagitt  gevoen.  Ueber  I 
nur  Erzähltes,  kann  dahet  für  die  Richlig-   I 


*)    Der  GeTangene   schallte  d 
*  Todlengtäber    filr  zwei 
C  Schicksal  diese»  Mannes  ^ 


300 

Die  kaiserlichen  Decrete  werden  wie  gewöhnlich  publicirt, 
die  Geschäfte  gehen  weiter,  der  Markt  wird  wie  immer  versorgt, 
nur  die  Banken  sind  geschlossen.« 

In  dieser  Aussage  fehlte  vor  Allem  die  erhoffte  Andeutung 
über  das  Nahen  eines  Entsatzes,  aber  hierüber  wusste  ein  ehe- 
maliger Diener  Rosthorn's  etwas  zu  erzählen.  Nach  seiner  Angabe 
sei  im  Volke  das  Gerücht  verbreitet,  fremde  Truppen  rückten  von 
Ost,  Süd  und  West  vor,  stünden  auch  nicht  mehr  weit,  aber  von 
chinesischen  Soldaten  aufgehalten,  könnten  sie  vor  zwei  bis  drei 
Tagen  nicht  eintreff^en.  Das  klang  allerdings  ermuthigender,  aber 
dass  der  Entsatz  von  drei  Seiten  gleichzeitig  anmarschiren  sollte, 
konnte  doch  nicht  ohneweiters  geglaubt  werden;  immerhin  durfte 
man  aber  doch  hoffen,  dass  er  eintreffen  werde,  bevor  sich  die 
neue  Taktik  des  Aushungems  erfolgreich  bewiesen  haben  würde. 
Noch  mit  der  Discussion  über  den  Werth  oder  Unwerth  dieser 
Nachrichten  beschäftigt,  wurden  wir  gegen  6V4*)  Uhr  durch  einen 
von  Ost  und  Süd  kommenden,  plötzlich  entstandenen  Angriffslärm 
aufgescheucht;  die  gewöhnlichen  Instrumente  setzten  mit  ihrem 
Fortissimo  ein,  es  musste  Besonderes  im  Zuge  sein. 

Auf  beiden  Fronten  überschütteten  uns  unsere  Gegner  mit 
einem  Schnellfeuer  von  kaum  dagewesener  Heftigkeit,  die  Trom- 
peter bliesen  mit  aller  Macht,  das  »Scha-scha«-Gebrüll  suchte  beides 
zu  übertönen  und  sechs  Banner  näherten  sich;  noch  hatte  aber 
kein  Chinese  sich  frei  gezeigt  und  so  wurde  das  Feuer  gegen  die 
Schiesslöcher  gerichtet. 

Da  mit  einemmale  eine  dumpfe  Detonation,  gleich  darauf  eine 
zweite  —  das  Gewehrfeuer  schwieg  wie  abgeschnitten,  und  schon 
sauste  aus  Südosten  eine  Granate  dicht  über  uns  hinweg,  im 
Thorgebäude  crepirend,  gleich  darauf  eine  zweite  aus  Osten  in 
den  östlichen  Stall  —  Steine  und  Erde  fielen  in  dichtem,  die  Aus- 
sicht benehmendem  Regen  —  die  Minen  hatten  gespielt. 

Die  Leute  aus  Reduit  und  Thorgebäude,  in  dem  man  vor 
Pulverdampf  und  Staub  kaum  mehr  sehen  konnte,  zurückzietend, 
um  sie  ausser  Bereich  der  Granaten  zu  bringen,  gewärtigt€si^^%;|^ 
den  Ansturm ;  wirklich  stürzten  auch  einige  zwanzig  Chinesen  bei 

keit  nicht  einstehen.  Er  hatte  sich  als  zwangsweise  angeworbener  Boxer  bekfumt  und 
den  Vorschlag,  sein  Leben  durch  Beförderung  einer  Depesche  nach  Tientsin  zu  etlcaufen, 
gerne  acceptirt,  doch  kehrte  er  von  seinem  Botengange  nicht  wieder  zurück. 

*)    Genaue  Stundenangaben    sind    fast  unmöglich,    denn   mangels    eines    einwand- 
freien   Mittels    zum  Uhrvergleich    waren    gar   bald   Differenzen    von    30  bis  40  Minuten 
eingetreten.    Die  vorliegende  Zeitangabe   halte    ich    nicht    im  Vertrauen  auf   meine  ra«"^ 
behandelte  Taschenuhr,  sondern  im  Zusammenhalte  mit  anderen  mir  deutlich  erinnerUi 
Einzelnheiten  für  richtiger  als  jene  anderer  Quellen. 


den  Südbresclien  herein,  wendeten  sich  aber  gleich,  durch  unsere 
Salven  empfangen,  theils  zurück,  theils  nach  rechts  hinter  die  Ge- 
bäude, während  noch  weitere  Granaten  in  das  eben  geräumte  Thor- 
gebäude und  seinen  Annex  schlugen.  In  dem  Aug-enblick  erschien 
von  Rosthom.  über  und  über  mit  Staub  und  Erde  bedeckt,  und 
tbeilte  mit,  das  Haus  Saussine  sei  aufgeflogen,  am  linken  Hügel 
hielten  noch  die  Franzosen.  Das  Kanonenfeuer  schwieg  und  allso' 
gleich  eilten  wir  ins  halbverschüttete  Thorgebäude  zurück,  ver- 
jagten von  dort  die  Eindringlinge  mit  Schnellfeuer  in  ihre  Flanke, 
aber  zu  spät,  in  der  Mitte  der  Ostfront  züngelten  schon  die  Flammen, 
mit  unaufhaltsamer  Gier  das  freie  Gebälk  verzehrend,  empor.  Nach 
einer  Minute  war  kein  lebender  Chinese  mehr  innerhalb  des  Hofes, 
viele  lagen  hingestreckt,  aber  von  draussen  her  verkündete  er- 
neuert heftiges  Geschrei,  dass  sich  wieder  eine  Horde  heranwälze, 
Vom  Stalle  aus  konnte  man  nur  den  Einsturz  des  grössten  Theiles 
der  Umfassungsmauer  und  zwei  mächtige  Trichter  an  Stelle  der 
verschwundenen  Häuser  Morisse  und  Saussine  unterscheiden,  drüber 
hinaus  benahm  hochloderndes  Feuer  und  dicker  Rauch  die  Aus- 
sicht; das  Gewehrfeuer  rasselte  mit  verdoppelter  Schnelligkeit 
gegen  die  Mauertrümmer,  wir  dachten  den  entscheidenden  Augen- 
blick gekommen  —  aber  offenbar  durch  den  Anblick  der  Brand- 
garben befriedigt,  unterliessen  unsere  feigen  Gegner  das  Wagniss, 
die  zehn  Schritte  herüberzulaufen  und  uns,  die  doch  kaum  mehr 
Zeit  gehabt  hätten,  als  die  geladenen  Gewehre  ausz uschiessen,  mit 
der  blanken  Waffe,  ja  mit  den  Fäusten  niederzumachen  —  dies 
schien  den  Hunderten  und  Hunderten  da  draussen  doch  zu  be- 
denklich. 

Mayer,  den  ich  zur  Einholung  von  Nachrichten  auf  den  linken 
Flügel  ausgesendet,  meldete,  dass  die  Franzosen,  dem  Gewehrfeuer 
trotzend,  erst  durch  den  Brand  in  ihrer  Flanke  gezwungen,  den 
linken  I-lügel  geräumt  und  sich  in  die  Tranchee  zurückgezogen 
hätten.  Dadurch  war  auch  unser  Flügel  unhaltbar  geworden  und 
ich  musste  meine  Leute  und  die  aus  eigenem  Antrieb  zum  letzten 
Kampf  herbeigeeilten,  mit  Messern  und  Piken  bewaffneten  Kulis 
in  den  Capellentract  und  den  Fremdenpavillon  zurücknehmen. 
Raschka  und  Basljan  schlössen  die  schweren  Thore  und  die 
Matrosen  rissen  noch  in  aller  Eile  die  Verb  in  dungsbar  ricade  zum 
Hauptgebäude  ein,  um  für  die  neue  Linie  freien  .Schuss  zu  be- 
kommen. Erst  jetit  erfuhr  ich  Näheres;  Darcy  kam,  aus  einer  Kopf- 
wunde und  am  Arme  blutend,  zu  mir,  schwarz  von  Rauch  und 
Erde  wie  ein  Mohr.  Er  hatte  mit  von  Rosthorn,  Destelan,  dem  alten 
Pesqueur  und  vier  Matrosen  bei  dem  heftigen  Gewehrfeuer,  einen 


Anlauf  gewärtigend,  das  Haus  Saussine  besetzt,  um  die  vorlie) 
Hauptbreschen  zu  vertheidigen ;  die  erste  Mine  flog  unter 
auf,  von  Rosthorn  wurde  durch  den  Choc  in  eine  Ecke  geschl 
und  durch  Schutt  eingekeilt,  Darcy  entfiel  das  Gewehr,  u 
instinctiv  den  Kopf  mit  den  Armen  bedeckend,  entging  < 
Schicksal,  erschlagen  zu  werden.  Die  zweite  Explosion  t 
von  Rosthorn  aus  seiner  Lage,  begrub  aber  Destelan  bis  zui 
unter  Trümmern;  als  nun  Darcy  das  Haus  räumen  Hess, 
Pesqueur  und  der  Matrose  Bougeard,  sie  waren  jedenfalls  g 
begraben,  Destelan  wurde  mit  Mühe  und  Noth  gerettet 
Gewehrfeuer  waren  auffalligerweise  nur  einer  unserer  Leute, 
und  der  französische  Freiwillige  Feit,  beide  bloss  leicht  ven 
worden. 

Noch  standen  wir  auf  dem  Boden  der  Gesandtschaft,  a 
eine  Dämpfung    des    sich    vor    unseren  Augen    mit   jeder 
rascher  ausbreitenden  Brandes  war  nicht  zu  denken. 

Die  Deutschen  waren  ebenso  heftig  wie  wir  ange 
worden,  ja  bei  ihnen  waren  die  Chinesen  über  den  freiei 
bereits  eingedrungen,  um  die  Vertheidiger  in  Flanke  und  I 
zu  fassen,  als  Soden,  mit  dem  Gewehr  in  der  Hand,  die  nl 
zwei  bis  drei  Leute  zusammenraffend,  Sturm  blasen  Hess  ui 
ihnen  mit  Hurrah  !  entgegenwarf;  das  half,  und  als  seine 
Schäften  aus  ihren  Barricaden  herbei  eilten,  verjagten  sie  in 
Bajon  nett  an  lauf  die  Eindringlinge,  welche,  mehrere  Todte  u 
Banner  preisgebend,  in  wilder  Flucht  davonliefen.  Eine  Versti 
von  zwölf  Russen,  die  Herr  von  Below  herbeigeholt,  kam  e 
der  Sturm  abgeschlagen  worden  war;  die  erste  Phase  des  Ai 
hatte  wieder  drei  Verwundete  gekostet,  beim  Bajonnettaalaui 
alle  Stürmenden  unverletzt  g-eblieben.  Gleichzeitig  mit  den 
Legationen  hatten  die  Chinesen  auch  das  Fu  heftig  ange 
und  Sir  Claude  mich  um  eine  Bemannung  für  unsere  Mitr: 
ersucht,  mit  der  er  vom  ersten  Stockwerk  einer  der  nör 
Häuser  seiner  Gesandtschaft  die  Angreifer  beschiessen  lassen 
der  Bote,  M.  Fliehe,  erschien  während  des  heftigsten  Feuers 
und  nahm  die  zwei  Leute  gleich  mit.  Bald  aber  kehrten  sie  ; 
das  Stiegenhaus  war  nicht  breit  genug,  um  das  Maschinen) 
hinauftransportiren  zu  können.  Ich  schickte  die  Leute  nochn 
rück  mit  dem  Antrag,  die  Lafette  und  den  Schirm  zu  zerleget 
die  Waffe  absolut  nöthig-  sei,  und  theilte  bei  dieser  Getegenhe 
mit,  was  das  Resultat  des  Angriffes  auf  uns  gewesen,  doch 
auch  dort  schon  ruhiger  geworden  und  der  englische  G( 
benöthigte  die  MitraiUeuse  nicht. 


^^^Bzwischen  war  die  Nachl  hereingebrochen,  wir  hatten  aller- 1 
ffl^^roti  dem  colossalen  Brande  g'enug  Helle  vor  uns  und  konnten  1 
gleich  an  die  Arbeit  gehen;  das  Haus  Philippini  störte  uns  sehr  und 
liess  ich  es  mit  Darcy's  Zustimmung  nun  ebenso  wie  den  an  der 
Westseite  des  Thorgebäudes  angebauten  Stall  durch  Chamot's  er- 
probten »Petroleur«  anstecken ;  leider  griff  das  Feuer  am  zweiten 
Punkt  nicht  genügend,  so  dass  die  Chinesen  es  noch  zu  dämpfen  ver- 
mochten. Letztere  feuerten,  durch  die  brennenden  Häuser  gedeckt, 
unablässig,  doch  wirkungslos  die  ganze  Kachi  gegen  uns  herüber. 

Capellentract  und  Fremdenpavillon  Hessen  Kollaf  und  ich  i 
durch  unsere  Leute  in  aller  Eile  in  vertheidigungsfahigen  Zustand  j 
versetzen,  d.  h.  dort  Schiesslöcher  einschneiden,  die  Fenster  mit  | 
Erdsäcken  verlegen,  die  vorliegende,  den  Ausschuss  beeinträch-  j 
tigende  Anpflanzung  etwas  lichten  u.  s.  w..  für  die  \acht  selbst  1 
wurde  unter  Bartholin's  Leitung  von  Kulis  eine  kleine  Barricade  I 
von  der  Capelle  zum  brennenden  Hause  Philippini  gezogen,  1 

Durch  dsts  Aufspringen  nordöstlicher  Brise  rasch  verbreitet, 
zerstörte  der  Brand  auch  den  westlichen  Tract  der  Hauptgebäude : 
um  1  Uhr  stürzte  die  Säulenhalle  mit  einem  weithin  veniehmbaren  ' 
Getöse  ein,  was  die  Chinesen  mit  lautem  Beifallsgeschrei  begrüssten;  J 
dichte.  Sehen  und  Alhmen  erschwerende  Rauchschwaden  und  ] 
F  im  kenschwärme  trieben  auf  uns  zu,  doch  kümmerte  sich  Niemand  J 
darum,  solange  unsere  Häuser  verschont  blieben;  hiess  es  doch  i 
wenigstens  so  weit  fertig  werden,  dass  ein  neuerlicher  Angriff  uns  | 
gerüstet  finden  würde.  1 

Darcy  musste  sich,  nachdem  ihn  Dr.  Matignon  verbündet!,  1 
einige  Stunden  Ruhe  gönnen  und  begab  sich  mit  dem  Ehepaar  | 
von  Rosthorn  in  die  deutsche  Gesandtschaft ;  glücklicherweise  I 
batte  der  Choc  der  F.xplosion  bei  keinem  der  Betroffenen  weitere  I 
Folgen.  I 

Da  das  Haus  Anthouard  für  die  Unterkunft  des  französischen  | 
Detachements  benÖthigt  wurde,  nahm  Frau  von  Rosthorn  die  ihr  I 
in  der  deutschen  Gesandtschaft  angebotene  Wohnung  an;  aber  I 
gleichwie  ihr  Gatte  auch  fernerhin  in  der  französischen  Legalion  I 
mitkämpfte,  kam  auch  sie  immer  wieder  herüber,  um  nach  den  I 
Venvundeten  und  Kranken  zu  sehen  und  zu  helfen,  wo  sie  konnte. 

Uns  vergingen  die  langen  Stunden  dieser  unvergesslichen 
Nacht  rascher  als  erwartet;  Arbeit  gab's  in  Fülle.  Kaum  dass  die 
Schiesstände  nothdürftig  beendet  waren,  hiess  es  sich  ans  Lichten 
der  Bosquets  und  Slräucher  machen,  was  mangels  Werkzeugen 
recht  langsame  Fortschritte  erzielte,  diese  Gewächse  kamen  uns  I 
^ürdig   zähe  vor.   und    dann    musste    vom  brennenden  Hause   1 


304 

Philippine  umgelegt  werden,  was  möglich;  kurzum  von  Ruhe  keine 
Spur.  Ein  Glücklicher  war  unter  uns:  Bartholin!  Mit  Fug  und 
Recht  konnte  er  auf  seine  so  a  tempo  beendete  Tranch^e  stolz 
sein,  und  als  er  noch  den  letzten  Ziegel  und  Erdsack  auf  die  Barri- 
cade  gelegt,  da  gönnte  er  sich  eine  Flasche  Wein  und  erklärte, 
auch  für  die  Herren  Boxer  nicht  vor  8  Uhr  zu  sprechen  zu  sein. 
Minder  zufrieden  war  Bouillard,  dem  während  des  Ausrodens  ein 
ausschnellender  Zweig  das  unentbehrliche  Augenglas  von  der  Nase 
weggeschlagen  hatte;  alles  Suchen  blieb  umsonst,  die  gekränkte 
Gartennymphe  gab  ihr  Opfer  nicht  wieder  heraus  und  mein  Helfer 
im  Waldfrevel  musste  auf  die  Suche  nach  der  letzten  Reserve 
gehen. 

Gegen  2  Uhr  fielen  wieder  einige  Granaten  in  die  deutsche 
Legation,  auch  wurden  auf  dem  Westflügel  und  in  der  Richtung 
des  Fu  wieder  häufigere  Gewehrsalven  hörbar ;  bei  uns  knatterte 
und  pfiff  es  nach  wie  vor,  bis  sich  etwa  zwei  Stunden  später  ein 
tüchtiges  Gewitter  entlud  und  damit  noch  mehr  Lebhaftigkeit  in 
das  zweck-  und  ziellose  Geschiesse  der  Chinesen  kam. 

Der  schwere  Regen  löschte  sehr  zur  Unzeit  den  Brand,  denn 
je  mehr  von  den  Ruinen  erhalten  blieb,  desto  leichter  konnten  sich 
unsere  Gegner  darin  festsetzen  und  uns  molestiren;  gegen  5  Uhr 
morgens  rückten  sie  scheinbar  auch  vor,  doch  wagte  sich  keiner 
über  die  schützende  Westmauer  des  Ministerhauses  vor.  Endlich 
trat  bei  beginnender  Tageshelle  Ruhe  ein,  die  Kerle  mussten  sich 
ja  nach  aller  Berechnung  total  verschossen  haben. 

Der  Angriff  am  Abend  war  mit  grossem  Aufgebot  an  Kräften 
und  sehr  geschickt  eingeleitet  worden,  das  liess  sich  nicht  leugnen; 
die  zweite  Mine  war  eine  völlige  Ueberraschung  für  uns  gew^esen, 
wir  hatten  absolut  kein  Anzeichen  ihres  Baues  bemerkt  gehabt. 
Minen-  und  Geschützwirkung  hätten  einander  nicht  besser  ergänzen 
können  und  nur  diesem  fatalen  Umstände  hatten  wir  es  zuzu- 
schreiben, dass  die  Chinesen  Feuer  legen  konnten  und  uns  durch 
dieses  unwiderstehliche  Element  zum  Preisgeben  der  trotz  Breschen 
und  auf  nächste  Distanz  abgegebenem  Feuer  so  zähe  behaupteten 
Linie  zwangen.  Genau  14  Tage  waren  seit  dem  Entstehen  der 
ersten  Bresche  verstrichen.  Nun  standen  wir  allerdings  nur  mehr 
auf  dem  letzten  Drittel  des  ganzen  Complexes;  aber  hatten  die 
Angreifer  nicht  auch  wieder  die  günstigste  Gelegenheit,  uns  den 
Garaus  zu  machen,  nur  aus  jämmerlicher  Feigheit  verstreichen 
lassen  ?  Wie  wir  an  dem  Arbeitslärm  hinter  den  rauchenden  Trümmern 
erkennen  konnten,  fingen  sie  eben  wieder  den  bekannten  lang* 
samen  Vorgang  an,  sich  mit  Deckungen  heranzuarbeiten,  also 


305 

inser  Rückzug  doch  nicht  davS  einzig  zu  Fürchtende  veranlasst, 
j.  i.  dass  die  Bande  wirklichen  Muth  bekommen  hätte.  Ein  un- 
3estimmtes  Gefühl,  dass  wir  die  entscheidende  Kraftprobe  unserer 
Widersacher  bereits  erfolgreich  überdauert  hätten,  hatte  sich  schon 
n  der  Nacht  bei  uns  geltend  gemacht,  als  die  Bataillone  Yunglu's 
lichts  Anderes  zur  Störung  unserer  Arbeit  gethan  hatten,  als  ihre 
Patronen  unnütz  gegen  die  Mauern  und  in  die  Luft  zu  verschiessen ; 
dieses  Gefühl  festigte  sich  allgemach,  wenn  man  die  gesammten 
3isherigen  Vorgänge  mit  dem  nunmehrigen  Stand  der  Dinge  ver- 
glich, zur  vollen  Ueberzeugung. 

Nach  24  Tagen  hatten  die  Chinesen  noch  immer  nicht  ver- 
nocht,  einen  der  drei  Punkte:  deutsche,  französische  Legation 
ind  Fu  in  ihren  Besitz  zu  bringen.  Gegen  den  erstgenannten  hatte 
hnen  der  13.  Juli  nur  so  weit  einen  Vortheil  gebracht,  dass  der 
ilte  Club  völlig  niedergebrannt  war,  dafür  war  den  deutschen 
Wachen  aber  freierer  Einblick  geworden;  in  der  französischen 
Gesandtschaft  standen  sie  nur  dem  rechten,  etw^as  vorgeschobenen 
Flügel,  d.  i.  der  von  uns  Oesterreicher-Ungarn  besetzten  Capelle 
und  dem  Fremdenpavillon  auf  25  Meter  nahe,  während  sie  von  der 
/on  den  Franzosen  gehaltenen  Tranch^e  Bartholin  durch  60  bis 
100  Meter  nur  theilweise  mit  Gesträuch  bestandenen,  im  Ueb- 
rigen  aber  fast  völlig  freien  Raumes  getrennt  waren,  den  zu  über- 
schreiten sie  sich  gewiss  lange  überlegen  würden;  im  Fu  endlich 
war  durch  das  nur  schrittweise  Zurückgehen  der  Japaner  eine 
Phase  eingetreten,  in  der  sich  das  Verhältniss  zwischen  Zahl  der 
Vertheidiger  und  Ausdehnung  der  zu  haltenden  Linien  entschieden 
IM  Gunsten  der  Fremden  verschoben  hatte. 

Bei  uns  sah  es  allerdings  wüst  genug  aus  und  es  bedurfte 
noch  mannigfacher  Arbeit,  um  unsere  Position  einigermassen  zu  be- 
festigen; die  aufrecht  gebliebenen  Baulichkeiten  bestanden  durch- 
wegs aus  leichtem  Mauerwerk,  nur  die  Capelle  war  zum  Theil  in 
massivem  Stein  ausgeführt.  Küche  und  Keller  des  Hauses  Anthou- 
ird  wurden  ebenfalls  besetzt  und  die  Wände  von  innen  verstärkt, 
so  dass  der  Raum  zwischen  Fremdenpavillon  und  Capelle  von  drei 
Seiten  bestrichen  wurde;  vom  Capellentract  aus  konnte  der  schmale 
Hof  zwischen  den  abgebrannten  Häusern  und  der  Umfassungs- 
mauer unter  Feuer  gehalten  und  aus  den  Schiesständen  des 
Fremdenpavillons  ein  Vorgehen  der  Chinesen  gegen  die  Tranch^e 
verhindert  werden.  Wichtig  war  vor  Allem,  dass  sie  sich  nicht 
in  der  Ruine  Philippini  festzusetzen  vermöchten,  und  deshalb 
rissen  wir  trotz  dem  Feuer  der  bereits  im  Ministerhaus  verborgenen 
Schützen  die  uns  zugekehrte  Wand  bis  auf  etwa  einen  Meter  vom 

Winterhaider:  Kämpfe  in  China.  20 


306 

Boden  ein ;  die  französische  Tranch^e  liess  sich  unschwer 
ständigen  und  der  Erdaufwurf  so  verstärken,  dass  ihm 
Geschützfeuer  nicht  viel  anhaben  würde.  Gegen  letzterei 
freilich  der  Fremdenpavillon  und  der  Capellentract  mi 
Riegelwänden  nicht  haltbar  gewesen  und  deshalb  war  unse 
sächliches  Augenmerk  während  des  ganzen  folgenden 
darauf  gerichtet,  uns  nicht  durch  Auffahren  einer  Kanon 
raschen  zu  lassen.  Für  diesen  allerdings  desperaten  Fall 
uns  am  meisten  exponirten  Leuten  von  der  'Zenta*  übrige 
immer  zwei  gegen  directes  Feuer  gedeckte  Rückzugsliniei 
Tranchöe  offen,  die  im  Laufe  der  Zeiten  noch  besser  g< 
wurden.  Dies  Alles  bezog  sich  auf  Angriffe,  die  vom  Raum 
halb  der  Legation  ausgingen;  gegen  Süden  deckte  uns  d 
Umfassungsmauer,  ausserdem  enfilirte  ja  die  Barricade  Cha 
Legationsstrasse ;  im  Norden  hatten  wir  noch  die  Barricade 
halb  der  Mauer,  deren  Wichtigkeit  bisher  den  chinesischen  1 
entgangen  war  und  daher  voraussichtlich  auch  fernerhin  ni 
fallen  würde. 

Von  den  vier  Brunnen  der  Gesandtschaft  konnten  ' 
mehr  jenen  beim  Hause  Matignon  benützen,  zwei  lagen  z 
uns  und  Chinesen ;  grosse  Sorge  bereitete  der  Gedank 
letztere  von  den  Ruinen  des  Mi  n  ister  hau  ses  aus  vielle 
Dunkelheit  die  Gräber  unserer  Gefallenen  zu  schänden  ve 
würden,  und  deshalb  wurde  in  dieser  Richtung  scharfer 
gehalten.  Das  gesamnite,  von  der  Demolirung  der  Fens 
Fremdenpavillons  herrührende  Glas  und  zerbrochene  Flascl 
streuten  wir  vor  der  Westfront  des  Min  ister  hauses  als 
tischen  Melder  für  den  Fall,  dass  die  Chinesen  Lust  ve 
sollten  sich  anzuschleichen. 
'.ji.  Der  Tag    des    französischen  Nationalfestes    war    trübi 

i  ■ '  brochen,  noch  trüber  gemacht  durch  die  Nachricht,  dass  Gti 

Ij'ij .  nach    iI6stündigem    Leiden   in    der    Nacht    seiner  Wunde 

war,  aber  schliesslich  durften  sich  M.  Pichon  und  Darcy  d 
Recht  freuen,  dass  allen  Anstrengungen  der  Chinesen  zui 
wenigstens  ein  Theil  französischen  Bodens  erhalten  geblii 
gerade  ihre  Legation  es  gewesen  sei,  an  der  sich  das  Um  ! 
der  Kriegskunst  unserer  Feinde  gebrochen  hatte.  Dies  1 
die  jederzeit  so  aufmerksamen  Nachbarn,  die  Herren  der  dt 
Gesandtschaft,  auch  in  ihren  Glückwünschen. 

''■■  IJie  Lebensverhältnisse  in  der  Legation  erfuhren  freilü 

..  die  Beschränkung    auf   einen    so   kleinen  Raum    eine    bed 

H''.,  j  Verschlimmerung,  welche  die  österreichisch-ungarische  Ma 


rielleichi  in  noch  höherem  Masse  verspürte  als  ihre  fratizösischen 
l^ameraden.  Auf  dem  vorgeschobensten  Posten  war  natürlich  er- 
höhte Wachsamkeit,  ja  conti nuirliche  strenge  Bereitschaft  geboten, 
und  so  kam  sie  aus  den  dumpfig-en,  bloss  durch  Schiesslöcher  er- 
hellten engen  Räumen  eigentlich  nicht  mehr  heraus,  dafür  stand 
sie  aber  wenigstens  bei  Regen  im  Trockenen. 

Die  Messe  der  Officiere  und  Freiwilligen  hatte  aufgehört  zu 
bestehen  und  nun  nahmen  wir  unsere  Mahlzeiten  im  grossen  Saal 
des  Hotel  de  Pekin.  der  aber  z.  B.  gleich  am  ersten  Morgen  einem 
Aquarium  glich,  denn  der  Regen  war  durch  die  zwei  oberen  zer- 
schossenen Stockwerke  unbehindert  eingedrungen;  überall  standen 
Pfützen  und  von  oben  sickerte  das  braune  Nass  unablässig  weiter  — 
Zimperlichkeit  war  unter  uns  aber  schon  lange  nicht  mehr  bekannt 
Und  der  Thee  wurde  dabei  in  der  Farbe  ohnedies  nicht  lichter! 
Die  Tafelrunde  entbehrte  denn  auch  trotz  der  täglich  auffälligeren 
Aehnlichkeit  des  ersten  und  zweiten  Ganges  untereinander,  an  der 
das  Haus  Chamot  gewiss  kein  Verschulden  traf,  nicht  der  Leb- 
laftigkeit,  wenngleich  in  der  Conversation  Vocabeln,  wie :  Barricade, 
Schiessloch,  Erdsack.  Entsatz,  Mine.  Tuan,  Boxer  —  so  häufig 
ibwechselten  wie  im  Menü  Maulthier  und  Ponny,  nur  mit  dem 
Unterschied,  dass  Tuan  und  Boxer  zumeist  mit  einer  kräftiger 
gewürzten  Zuthat  in  den  Mund  genommen  wurden,  als  dies  bei  .der 
Vierfussler-Ambrosia  möglich  war. 

Der  Tag  blieb  beiderseits  fast  ausschliesslich  den  Arbeiten 
ui  den  Stellungen  gewidmet,  nur  die  russische  Position  wurde 
lebhafter  beschossen  und  trat  dort  wieder  die  italienische  Schnell- 
fcuerkanone  in  Action;  nachmittags  wurde  unser  braver  Gruitgens 
in  englischer  Erde  zur  letzten  Ruhe  bestattet,  in  der  französischen 
Legation  gab's  kein  Plätzchen  mehr.  Um  5  Uhr  erschien  die  «Inter- 
Bätionalea  in  der  Barricade  Chamot.  um  eine  von  den  Chinesen 
twgonnene,  von  dem  Hauptthor  der  französischen  Gesandtschaft 
Sber  die  Legation sstrasse  führende  Barricade  in  ihren  Anfangen  zu 
vernichten;  obwohl  die  Distanz  nur  160  Meter  betrug,  waren  doch 
Srei  Schüsse  nothwendig,  bis  nach  Augenmass  die  richtige  Elevation 
gefunden  wurde,  und  dann  gab's  drei  glatte  Durchschlage,  viel  Staub 
lad  Geschrei  beiden  Chinesen,  auch  einiges  Gewehrgepuffe  —  bei 
Bonnen  unter  gang  wurde  die  brave  Kanone  wieder  ausruhen  geschickt. 

Darcy  berief  in  Anbetracht  der  bisherigen  empfindlichen  Ver- 
Hste  des  französischen  Detachements  seine  Leute  aus  dem  Fu 
nirück;  ich  liess  die  vier  Unserigen,  obwohl  ihre  Dienste  unter  den 
rerscbärften  Anforderungen  der  neuen  Stellung  sehr  willkommen 
wären,    auch  weiter  dort,    weil    ich  Werth  darauf   legte, 


dass  das  k.  und  k.  Detachement  auch  auf  jenem  heissumstrittenen 
Punkte  vertreten  sei. 

Das  Hauptereig'niss  trat  abends  ein  und  überraschte  aller- 
dings nicht  wenig-.  Ein  am  10.  Juli  ausgesendeter  Chinese,  ehe- 
maliger Thürsteher  im  Nantang,  kam  mit  einem  an  den  englischen 
Gesandten  gerichteten,  mit  »Prinz  Tsching  und  Änderet  gefertigten 
Briefe  zurück.  Der  Mann  war  Soldaten  und  Boxern  in  die  Hände 
gefallen,  zuerst  misshandelt  und  seiner  für  Tientsin  bestimmten 
Depesche  beraubt,  dann  aber  vor  Yunglu  geführt  und  nach  drei- 
tägiger Internirung  mit  einem  Schriftstück  an  Sir  Claude  zurück- 
geschickt worden,  das  als  Beginn  einer  hinsichtlich  ihres  Inhaltes 
und  der  begleitenden  Umstände  ganz  einzig  dastehenden  Corre- 
spondenz  werth  ist,  in  seinem  Wortlaut  angeführt  zu  werden. 

»Während  der  letzten  zehn  Tage  haben  Soldaten  und  Miliz 
gekämpft  und  es  gab  zu  unserer  grossen  Betrübniss  keinen  Ver- 
kehr zwischen  uns  (Tsching  und  Genossen  und  fremden  Ministem). 

Vor  einiger  Zeit  hängten  wir  ein  unsere  Absichten  aus- 
drückendes Placat  auf,  aber  keine  Antwort  kam  darauf  und  ent- 
gegen der  Erwartung  erneuerten  die  fremden  Soldaten  ihre  Angriffe, 
was  beim  Volke  und  bei  den  Soldaten  Beunruhigrmg  und  Verdacht 
hervorrief. 

Gestern  fingen  die  Truppen  einen  Convertiten,  namens  Tschin- 
Hu-Hsi  und  hörten  von  ihm,  dass  sich  alle  fremden  Minister  woh^ 
befänden,  was  uns  grosse  Befriedigung  verschaffte.  Aber  das  Un^ 
erwartete  tritt  ein.  Die  Verstärkungen  der  fremden  Truppen  wurde 
längst  durch  Boxer  aufgehalten  und  zur  Umkehr  gezwungen,  un 
wenn    wir    in    Uebereinstimmung  mit   einer    früheren    Abmachun 
Euere  Excellenz  aus    der  Stadt  escortiren  sollten,    so  würden  wi 
sehr  einen  Misserfolg  fürchten,  denn  auf  dem  Wege  nach  Tientsii 
und  Taku  stehen  noch  viele  Boxer.  —  Wir  ersuchen  gegenwärtij 
lauere  Excelleiizen  zuerst  mit  ihren  Familien  und  den  verschiedene 
Mitgliedern  ihrer  Stäbe  die  Legationen  zu  verlassen.  Wir  würde; 
vertrauenswürdige  Officiere  auswählen,  um  stricten  Schutz  zu  g 
währen  und  Sie  würden  einige  Zeit  im  Tsungli-Yamen  wohnen,  bi 
weitere  Verfügungen    betreffs  Ihrer  Rückkehr   in  die  Heimat   ge 
troffen  werden,    um  so    von  Anfang   bis   zu  Ende   freundliche  Be 
Ziehungen  zu  erhalten. 

Aber  zur  Zeit,  wo  die  Legationen  verlassen  werden,  darf  unte 
keiner  Bedingung  auch  nur  ein  einziger  bewaffneter  fremder  Solda 
mitgenommen  werden,    um  Zweifel    und  Furcht   bei    den  Truppe 
und  dem  Volke  zu  vermeiden,  was  zu  misslichen  Ereignissen  führe 
könnte.    Wenn    Euer   Excellenz    Ihr    Vertrauen    hierein    bezeige 


309 

wollen,  bitten  wir  Sie,  sich  mit  allen  fremden  Gesandten  in  Peking 
in  Verbindung  zu  setzen ;  morgen  mittags  ist  der  letzte  Termin, 
und  lassen  Sie  denselben  Boten  Ihre  Antwort  bringen,  damit 
wir  im  Voraus  den  Tag  zu  ihrer  Escortirung  aus  den  Legationen 
festsetzen  können. 

Dies  ist  der  einzige  Weg  zur  Aufrechterhaltung  von  Be- 
ziehungen, den  wir  angesichts  unzähliger  Schwierigkeiten  ausfindig 
machen  konnten.  Wenn  zur  bestimmten  Zeit  keine  Antwort  ein- 
läuft, wird  uns  selbst  unsere  Zuneigung  nicht  mehr  erlauben,  Ihnen 
zu  helfen.« 

Das  masslose  Erstaunen  über  diesen  ebenso  naiven  wie  imperti- 
nenten Brief,  mit  dem  man  die  Gesandten  in  eine  doch  zu  lächer- 
lich plump  gestellte  Falle  zu  locken  versuchte,  lässt  sich  kaum 
schildern;  die  eindringliche  Befragung  des  Ueberbringers,  der  zum 
Beweise  der  Wahrheit  seiner  Angaben  nur  die  deutlich  sichtbaren 
Spuren  erlittener  Misshandlung  zu  zeigen  brauchte,  zerstreute  wohl 
die  erste  Annahme,  dass  man  es  mit  einer  Mystification  zu  thun 
haben  könnte,  an  welcher  dieser  einfache  Mann  durch  irgend  ein 
Interesse  betheiligt  sein  würde.  Nun  war  aber,  ganz  abgesehen 
von  dem  Mangel  jeder  officiellen  Form  —  die  seitens  des  Tsungli- 
Yamens  eingehenden  Noten  waren  stets  von  den  Karten  sämmtlicher 
oder  der  gefertigten  Minister  des  Yamens  begleitet  —  und  der 
unbeholfenen  (in  der  Uebersetzung  möglichst  getreu  wiederge- 
gebenen) Stilisirung,  doch  schon  der  einzige  Umstand  auffallend 
genug,  dass  »Prinz  Tsching  und  Genossen«  durch  Yunglu's,  des 
Vertreters  einer  antipoden  Anschauung,  Beihilfe  mit  den  Fremden 
in  Verbindung  treten  wollten;  hierin  allein  erblickte  Herr  von 
Rosthorn  die  sicherste  Gewähr,  dass  Prinz  Tsching  thatsächlich 
nicht  mit  dem  Verfasser  des  drolligen  Schriftstückes  identisch  sein 
konnte,  und  lehnte  es  daher  ab,  in  eine  Berathung  über  die  Ant- 
wort darauf  einzutreten.  Don  Bernardo  de  Cologan  stimmte  der 
Anschauung  des  österreichisch-ungarischen  Geschäftsträgers  voll- 
kommen bei,  dass  die  Schreiber  des  Briefes  einer  Antwort  des  ge- 
sammten  diplomatischen  Corps  nicht  würdig  seien,  und  machte  nur 
das  eine  Zugeständniss,  dass  es  nicht  unopportun  sei,  wenn  der 
englische  Gesandte,  an  dessen  Adresse  ja  das  Ganze  gerichtet  war, 
in  unverbindlicher  Form  antworte.  Dieser  Weg  wurde  auch  be- 
treten und  der  Doyen  der  fremden  Minister  setzte  seinen  Namen 
erst  dann  unter  ein  Schriftstück,  als  das  Yamen  —  am  4.  August  — 
in  ganz  officieller  Form  mit  einer  Enunciation  hervorgetreten  war. 

Von  meinem  bescheidenen  Standpunkte  aus  möchte  ich  die 
Meinung  aussprechen,  dass  der  Werth  der  ganzen  Correspondenz, 


810 

die  fortan  bis  zum  Entsatz  mit  Unbekannten  gepflog-en  wurde, 
darin  bestand,  dass  die  Fremden  aus  dem,  was  seitens  der  Chinesen 
nicht  gesagt  oder  sichtlich  verdreht  vorgebracht  wurde,  und  aus 
den  mehrfachen,  auf  das  Phrasenbedürfniss  der  Gegenpartei 
zurückzuführenden  Widersprüchen  doch  mancherlei  Combinationen 
ziehen  konnten;  die  erfolgreiche  Fortsetzung  der  Vertheidigung 
hingegen  ist  durch  das  halbe  Parlamentiren  gewiss  nicht  beein- 
flusst  worden,  denn  das  zeitweilige  Nachlassen  der  Chinesen  in 
ihren  Bestrebungen,  sich  der  Eingeschlossenen  mit  Gewalt  zu  ent- 
ledigen, war  eine  Folge  ihrer  Niederlage  in  Tientsin  und  die 
Wahrung  des  Standpunktes  der  Fremden  an  sich  hätte  gewiss 
weniger  Mühe  gekostet,  wenn  man  die  Stilübungen  von  »Prinz 
Tsching  und  Genossen«  einfach  ignorirt  hätte,  anstatt  sich  der 
Sisyphusarbeit  zu  unterziehen,  ihnen  brieflichen  Unterricht  in  den 
Rudimenten  des  Völkerrechtes  ertheilen  zu  wollen. 

Damit  im  Zusammenhange  will  ich  auch  gleich  an  dieser 
Stelle  —  unbeschadet  der  Eindrücke,  die  der  Leser  aus  den  an- 
geführten und  noch  zur  Sprache  kommenden  Thatsachen  selbst 
ziehen  soll  und  wird  —  der  in  Europa  nicht  vereinzelt  gehörten 
Ansicht  entgegentreten,  dass  die  Gewalthaber  in  Peking  es  nicht 
auf  unsere  Vernichtung,  sondern  bloss  Einschüchterung  abgesehen 
hätten.  Wenn  noch  das  kaiserliche  Beeret  vom  21.  Juni,*)  welches 
offen  den  Volkskrieg  gegen  die  Fremden  erklärt,  ferners  kaiser- 
liche Verordnungen  aus  der  Zeit  vom  22.  bis  27.  Juni,  mit  welchen 
Organisation  der  Boxer  und  Belohnung  dieser  wie  der  Soldaten  für  »be- 
sondere in  Peking  geleistete  Dienste«  anbefohlen  und  die  Functionäre^ 
und  Truppen  aufgefordert  wurden,  ihre  ganze  Kraft  gegen  den- 
gemeinsamen  Feind  aufzubieten  und  keinen  Augenblick  zu  er- 
schlaffen, wenn  noch  diese  aus  chinesischer,  also  massgebendste^ 
Quelle  stammenden  Documente  einen  Zweifel  über  die  Intention^ 
der  Regierung  offen  lassen  sollten,  dann  ist  es  schwer  zu  erkennen 
was  unsere  Gegner  Anderes  hätten  thun  sollen,  um  uns  zu  ver 
nichten,  als  uns  mit  Geschützen,  Gewehren  und  Brandraketen 
beschiessen,  Feuer  an  unsere  Stellungen  zu  legen,  unter  un^  -^ 
Minen  zu  graben  und  schliesslich  zu  versuchen  uns  auszuhungern  ^^ 
Dass  dies  Alles  fehlschlug,  ist  nur  der  inferioren  Qualität  chinesi  m: 
scher  Soldateska  in  der  Hauptstadt  zuzuschreiben,  und  gerade  de^:  - 
Vergleich  mit  Tientsin,  wo  die  europäisch  gedrillten  Trapper^ 
Nieh's  die  Fremdenbesatzung  —  z.  B.  am  19.  Juni  —  so  energiscl 
angriffen,  obgleich  letztere  fünfmal  so  stark  wie  jene  Pekings  war 


*)  Den  Wortlaut  dieses  Documcntes  findet  der  Leser  an  späterer  Stelle. 


liefert  den  schlagendsten  Beweis,  daas  die  Gesandtschaften  ihre 
Erhaltung  nur  dem  Ungenügen  des  wider  sie  angewendeten  In- 
strumentes, nicht  aber  vielleicht  dem  versteckten  Wohlwollen  der 
massgebenden  Kreise  oder  auch  nur  einer  Partei  verdanken.  —  In 
diesem  ersten  Brief  war  ja  auch  von  einem  Wohlwollen,  ja  einer 
Zuneigung  die  Rede,  aber  das  Wort  stand  doch  nur  darin,  um 
als  effeclvoller  stilistischer  Gegensatz  die  schrecklichen  Folgen 
erst  recht  hervorzuheben,  die  die  Gesandten  sich  zuzuschreiben 
haben  würden,  wenn  sie  auf  den  sinnlosen  Vorschlag  nicht  ein- 
gingen. Sir  Claude  redigirte  eine  Antwort  des  Inhalts,  was  die 
Pflichten  civilisirter  Völker  gegen  Gesandte  seien,  und  flocht  darin 
die  Bemerkung  ein,  dass  die  Mächte  dereinst  gegen  die  pflicht- 
vergessenen Träger  verantwortlicher  Rollen  persönliche  Repressalien 
üben  würden;  die  Fremden  hätten  sich  stets  nur  auf  die  Ver- 
theidigung  beschränkt  und  würden  es  auch  fetner  so  halten,  die 
Minister  sähen  jedoch  gar  nicht  ein,  warum  sie  im  Yamen  sicherer 
sein  sollten  als  in  ihren  Legationen,  und  zum  Schlüsse  wurde  an- 
geführt, daas,  falls  eine  fernere  Mittheilung  erwünscht  wäre,  man 
nur  eine  vertrauenswürdige  Person  unter  weisser  Flagge  senden 
möge.  Diese  Erwiderung  wurde  erst  am  15,  Juli  abends,  nachdem 
der  gestellte  Termin  um  einen  halben  Tag  überschritten  war, 
durch  denselben  Chinesen  abgeschickt,  der  den  ersten  Brief  ge- 
bracht hatte  und  jetzt  wieder  seinen  Weg  durch  das  Canalgitter 
nahm. 

Die  Mittheilüng,  dass  die  Entsatz truppen  längst  von  den  Boxern 
zur  Umkehr  gezwungen  worden  seien,  konnte  sich  offenbar  nur 
auf  die  SeymourColonne  beziehen;  denn  dass  die  himmlischen 
Soldaten  ein  grosseres,  gut  gerüstetes  Corps,  welches  die  Mächte 
nun  doch  endlich  zu  unserer  Hilfe  ausgesendet  haben  mussten, 
aufzuhalten  im  Stande  gewesen  wären,  das  schien  uns  nach  den 
eigenen  Erfahrungen  doch  ganz  unglaublich.  Bei  der  Unkenntniss 
aller  Vorgänge  in  der  Aussenwelt  bemächtigte  sich  der  Ein- 
geschlossenen eine  ärgerliche  Stimmung  gegen  die  gewiss  wieder 
durch  diplomatische  Bedenken  verschuldete  Saumseligkeit  und 
den  Mangel  an  Einigkeit  der  engagirten  Staaten  in  einer  so  eminent 
gemeinsamen  Angelegenheit;  unter  solchen  Umständen  konnte 
sich  Shiba's  Berechnung  über  die  Ankunft  des  Entsatzes  allerdings 
nicht  bewähren! 

Glücklicherweise  verhinderten  die  noch  zu  leistende  Arbeit 
und  die  Nothwendigkeit,  unsere  Gegner  aufmerksamer  denn  je  zu 
beobachten,  zu  weitgehende,  höchstens  zu  nutzloser  Selbstquälerei 
führende    .Speculation    über    die    Weltpolitik:    wenngleich    relativ 


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312 

wenig  Feuer  gegen  uns  abgegeben  wurde,  so  waren  die  Cl 
doch  ungemein  thätig  und  gruben,  scharrten  und  hämmerten 
ihren  Deckungen,  dass  es  eine  Art  hatte. 

Nach  den  Erfahrungen  in  der  französischen  Legation  w 
das  allgemeine  Misstrauen  gegen  Minenunternehmungen  i 
gerechtfertigt,  und  nachdem  Mr.  Wintour  im  Hanlin  in  diei 
Ziehung  beunruhigende  Wahrnehmungen  gemacht  hatte,  wur( 
unter  seiner  Leitung  eine  Gegenmine  gegen  eine  vom  kaise 
Wagenpark  herkommende  Mine  und  von  Reverend  Gamew< 
tiefe,  Ost- West  laufende  Tranch6e  gegen  eine  etwa  von  Nord 
gebaute  angelegt.  Als  die  Gegenmine  nach  einigen  Tagen  sc 
zur  Grenzmauer  fortgeschritten  war,  ohne  dass  man  auf  die 
liehe  gestossen  wäre,  wurde  die  Arbeit  unterbrochen  und  vor 
spottlustigen  Witzbold  ungerechterw^eise  »Wintour's  FoUy«  g 
sie  war  aber  durchaus  kein  närrischer  Einfall,  wie  sich  ns 
Befreiung  zeigte.*) 

Die  Nacht  auf  den  15.  Juli  ging  ohne  besondere  Vo 
heiten  vorüber,  das  häufigere  Schiessen  der  Chinesen  a 
Ruinen  uns  gegenüber  kam  nicht  überraschend  und  mach 
Eindruck,  als  suchten  sie  sich  gegen  ein  Vorgehen  unsei 
zu  sichern.  Den  ganzen  Tag  über  wurde  Geschützfeuer  ii 
westlicher  Richtung  gehört,  das  nur  dem  Pcitang  gelten  '. 
also  hielten  sich  unsere  Gefährten  drüben  noch.  Vormittags  n 
die  Russen  einen  Ausfall  gegen  den  Mongolenmarkt  und  zer 
zwei  dem  Ausschusse  hinderliche  Häuser  durch  Feuer,  w 
den  Chinesen  auch  die  Fortsetzung  eines  begonnenen  Laufg 
unmöglich  gemacht  wurde. 

Im  Allgemeinen  blieb  das  Feuer  gegen  das  Legationi 
ziemlich  spärlich,  nur  bei  der  deutschen  Gesandtschaft  entw 
sich  vormittags  ein  etwas  lebhafteres  Gefecht,  um  die  . 
einer  chinesischen  An  griff sbarricade  zu  verhindern;  in  u 
massigen  Intervallen  erhielten  die  Häuser  der  französiscl: 
gation  und    das  Hotel  wieder  Granatfeuer. 

Erst  mittags  wurde  das  Fu  wieder  stärker  beschösse 
um  IV2  Uhr  erfolgte   auf  allen  Linien    ein  kurzer,  hitziger 

*)  Die  Chinesen  hatten  thatsächlich  an  der  vermutheten  SteUe  eine  ] 
zutreiben  versucht.  Der  Gang  wurde  gefunden;  anstatt  aber  gegen  Osten  unter  c 
weiterzugraben,  zogen  es  die  angeworbenen  Arbeiter,  offenbar  durch  das  Geräu 
Graben  der  Gegenmine  furchtsam  gemacht,  vor,  gegen  Südwest  —  also  von  c 
sehen  Gesandtschaft  weg  —  abzubiegen.  Dadurch  konnten  sie,  ohne  sich  zu  | 
als  Beweis  ihres  Fleisses  täglich  eine  Menge  Erde  an  die  Oberfläche  ford 
beaufsichtigenden  chinesischen  Officier  genügte  das  jedenfalls  vollkommen.  So 
Wintour's  Arbeit  —  wenn  auch  indirect  —  ihren  Zweck. 


313 

angriff,  der  aber  ebenso  wie  ein  bei  Sonnenuntergang  gegen  unsere 
Stellung  gerichteter  resultatlos  verlief.  Spät  abends  gelang  es  uns  mit 
Hilfe  einiger  durch  Chamot  verschaffter  Kulis,  die  Anpflanzungen  um 
Capelle  und  Fremdenpavillon  so  weit  als  nothwendig  zu  lichten ;  natür- 
lich schössen  die  Chinesen  auf  den  Lärm  hin  äusserst  lebhaft,  glück- 
licherweise aber  wieder  Alles  zu  hoch,  und  als  die  Sache  zu  bunt 
wurde,  commandirte  KoUaf  zu  unserer  Erleichterung  einige  prompt 
wirkende  Salven.  Nun  war  der  Ausblick  wenigstens  genügend 
frei,  aber  unsere  Gegner  konnten  den  Verdacht,  dass  sich  Jemand 
anschleiche,  nicht  los  werden  und  warfen  in  der  Folge  häufig 
Steine  gegen  uns,  um  zu  sondiren. 

Nachdem  die  Chinesen  im  Fu  so  viel  Terrain  gewonnen, 
hatten  die  dort  untergebrachten  Christen  ausquartirt  werden  müssen; 
sie  vertheilten  sich  in  die  leer  stehenden  Häuser  zwischen  Fu 
und  Hotel  und  hinter  der  amerikanischen  Gesandtschaft.  Einige 
Familien  siedelten  sich  in  der  Nähe  unserer  Nordbarricade  an  und 
die  Männer  Hessen  sich  von  Veroudart  gerne  als  Aushilfswachen 
organisiren.  Das  Elend  unter  ihnen  machte  immer  grössere  Fort- 
schritte, die  wenige  regelmässige,  aus  minderwerthigem  Reis, 
etwas  Hirse  und  Kleie  bestehende  Nahrung,  die  ihnen  Chamot  zu- 
kommen lassen  konnte,  suchten  sie  durch  das  Fleisch  getodteter 
Hunde  und  Katzen  und  —  gekochtes  Laub  aufzubessern,  bald  waren 
erstere  aber  überhaupt  nicht  mehr  zu  sehen  und  das  Los  der 
Arbeitsunfähigen  gestaltete  sich  erbarmungswürdig,  da  ja,  dem 
harten  Gebot  der  Nothwendigkeit  entsprechend,  in  erster  Linie  die 
Kräfte  der  Arbeitenden  durch  verhältnissmässig  reichlichere 
Speisung  erhalten  werden  mussten.  Trotzdem  kamen  nur  wenige 
Diebstähle  an  unseren  Vorräthen  vor  und  hörten  bald  ganz  auf, 
nachdem  die  Uebelthäter  gehörig  gezüchtigt  und  ihnen  zum  Zeichen 
der  Entehrung  die  Zöpfe  abgeschnitten  worden  waren.  Das  Schicksal 
der  Chinesenchristen  war  so  eng  mit  dem  der  Fremden  verbunden, 
dass  man  Verrath  nicht  zu  fürchten  brauchte,  und  um  das  Ein- 
schleichen von  Spionen  zu  verhindern,  konnten  wir  gewiss  keine 
besseren  Wächter  als  solche  aus  ihren  Reihen  finden. 

Die  Nacht  verlief,  die  üblichen  kleinen  Störungen  abgerechnet, 
ruhig,  so  auch  der  grösste  Theil  des  16.  Juli;  vormittags  fiel 
Captain  Strouts  auf  einem  Rundgange  im  Fu  durch  einen  wSchuss 
in  die  Lenden  tödtlich  getroffen,  seine  Begleiter  Dr.  Morrison  und 
Oberstlieutenant  Shiba  kamen  ersterer  mit  einer  Fleischwunde  im 
Schenkel,  letzterer  mit  einem  Loch  im  Rock  davon.  »Wie  grit, 
dass  ich  so  abgemagert  bin,«  scherzte  der  unverletzt  Gebliebene 
später.    Strouts  erlag  dem  Blutverlust  binnen  zwei  Stunden,    sein 


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314 

Tod  bedeutete  nicht  nur  für  das  englische,  seines  Führers  beraubte 
Detachement  einen  schweren  Schlag,  sondern  wurde  von  den  ge- 
sammten  Fremden  tief  betrauert,  denn  Jedermann  hatte  ihn  ge- 
kannt und  gleich  als  vorzüglichen  Officier  wie  stets  dienstwilligen 
Gefährten  hochgeschätzt.  Eben  als  man  ihn  gemeinsam  mit  dem 
tagsvorher  auch  im  Fu  verwundeten  und  bald  darauf  verschiedenen 
Freiwilligen  Mr.  Warren  zur  Ruhe  bestattete,  überbrachte  der 
schon  bekannte  Bote  unter  der  Parlamentärsflagge  einen  weiteren 
Brief  von  »Tsching  und  Genossen«  —  gleichzeitig  sausten  aber  auch 
einige  Granaten  über  den  Trauerzug  hinweg!  Dieses  Zusammen- 
treffen war  so  recht  charakteristisch  für  die  nun  anbrechende  Zeit 
—  heuchlerisch  süsse  Worte  und  Feindseligkeiten  in  einem  und 
demselben  Augenblick! 

Dieses  zweite,  ebenfalls  an  Sir  Claude  Macdonald  gerichtete 
Schreiben  stach  in  seiner  Stilisirung  wesentlich  günstig  gegen 
das  erste  ab  und  gab  nebst  den  schon  gewohnten  Betheuerungen, 
dass  man  bestrebt  sein  werde  geordnete  Zustände  zu  sichern,  als 
Erklärung  für  die  Zumuthung  an  die  Gesandten,  sich  ins  Tsungli- 
Yamen  zurückzuziehen,  den  Grund  an,  dass  es  dort  leichter  sein 
werde,  den  Ministern  Schutz  angedeihen  zu  lassen  als  in  den  doch 
ziemlich  weit  auseinander  liegenden  Legationen.  Nachdem  die 
Minister  das  Anbot  zurückwiesen,  sei  man  genöthigt,  noch  mehr 
Truppen  zum  Schutze  der  Gesandtschaften  aufzubieten,  um  zu 
verhindern,  dass  sie  von  der  »Miliz«  beschossen  würden ;  anderer- 
seits möge  man  aber  auch  aus  den  Legationen  zu  schiessen  auf- 
hören, damit  die  allgemeine  Erregung  nicht  ins  Unbezwingbare 
wachse.  Weitere  Briefe  könnten  in  der  im  Schreiben  des  englischen 
Gesandten  angegebenen  Weise  ausgetauscht  werden. 

Diese  Auslassungen  unserer  räthselhaften  Gönner  Hessen  vor 
Allem  erkennen,  dass  ihr  Wohlwollen  doch  nicht  so  engherzig 
gewesen  war,  um  mit  dem  Schlag  12  Uhr  mittags  des  15.  Juli 
und  durch  die  Ablehnung  der  Einladung  ins  Yamen  zu  enden,  und 
dann  war  eine  gewisse  Sehnsucht  nach  dem  Aufhören  des 
Schiessens  von  unserer  Seite  unverkennbar.  Die  am  17.  Juli  ab- 
geschickte Antwort  betonte,  dass  man  sehr  erfreut  sei,  dass  die 
chinesische  Regierung  um  den  Schutz  der  Legationen  besorgt 
sei;  man  möge  jedoch  bedenken,  wie  schwer  es  falle,  unter  den 
Leuten,  welche  in  der  Nähe  der  Gesandtschaften  Barricaden  und 
Geschützstände  erbauten,  die  freundlich  Gesinnten  herauszufinden, 
und  deshalb  diese  Arbeiten  ebenso  wie  das  Schiessen  verbieten, 
dann  erst  werde  gewiss  auch  seitens  der  Fremden  vollige  Ruhe 
bewahrt  werden.    Zum  Schlüsse  geschah  dann  auch  der  Kanooeiir 


Schüsse  Erwähnung,  welche  die  U eberreich ung-  des  Schreibens  be- 
gleitet hatten. 

Noch  in  der  Nacht  war  auf  uns  wie  gewöhnlich  geschossen 
worden,  am  17.  Juli  morgens  störte  jedoch  kein  einziger  Knall 
mehr  die  Ruhe  und  bald  erfuhren  wir,  dass  die  Soldaten  Befehl 
erhalten  hatten,  das  Feuer  überhaupt  einzustellen. 

Trotz  der  schönen  Briefe  hätten  wir  das  nicht  für  möglich 
gehalten  —  aber  bei  den  Deutschen  waren  zwei  chinesische  Sol- 
daten ohne  Gewehr,  mit  weissen  Tüchern  winkend,  an  die  Barri- 
caden  gekommen  und  erzählten  die  Wundermär!  Der  Anlass  zu 
ihrer  Mittheilsamkeit  war  freilich  ein  egoistischer:  beide  hätten 
gerne  ihre  Wunden  von  europäischen  Aerzten  verbinden  lassen 
und  der  Eine,  seinerzeit  der  Musikcapelle  Sir  Robert  Hart's  an- 
gehörig Und  dann  zum  Dienste  in  den  Reihen  unserer  Angreifer 
gepresst,  zögerte  keinen  Augenblick,  den  kürzesten  Weg  zur  Er- 
füllung seines  Wunsches  einzuschlagen,  war  er  doch  sicher,  dass 
man  ihm  für  eine  so  gute  Neuigkeit  Dank  wissen  würde.  Beide 
wurden  mit  verbundenen  Augen  in  die  englische  Gesandtschaft 
geführt,  wo  Dr.  Velde  sie  verband  und  eine  Corona  von  Experten 
sie  ausfragte;  das  war  ihnen  nicht  ganz  bequem  und  besonders 
dem  Ex-Mitglied  des  Orchesters  die  Begegnung  mit  seinem  ehe- 
maligen Brotherrn  nicht  übermässig  angenehm,  aber  schliesslich 
behandelte  ihn  dieser  doch  auch  jetzt  noch  viel  besser  als  der 
chinesische  Officier.  der  ihm,  weil  er  nicht  ausdauernd  genug  ge- 
blasen, ein  Ohr  halb  abgehauen  hatte.  Die  beiden  Gäste  aus  Feindes- 
reihen gaben  nur  recht  lebhaft  ihre  Freude  über  das  endliche 
Aufhören  der  so  lästigen  Feindseligkeiten  Ausdruck,  schilderten, 
was  für  ein  Hundeleben  sie  für  2  Taöls*)  monatlich  führen  mussten 
und  dass  schon  viele  Fing  und  I'ping  (Soldaten  und  Boxer)  ge- 
fallen seien.  Verbunden  und  gelabt  traten  sie  höflichst  dankend 
wieder  den  Rückweg  an,  die  Fremden  waren  doch  brauchbare 
Leute! 

Bevor  dieser  kleine  Zwischenfall  noch  bei  uns  bekannt  ge- 
worden war,  hatten  unsere  Leute  bei  der  Nordbarricade  wieder 
einen  Plünderer  zu  fassen  bekommen  und  Sir  Robert  entwand 
Ihm  denn  auch  durch  geschickte  Fragen  einiges  Neue.  Nach  seiner 
-■Vngabe  herrsche  in  China  die  reine  Anarchie,  kein  Mensch  wisse 
mehr,  was  thun.  Zwischen  Taku  und  Tientsin.  nahe  letzterer  Stadt, 
seien  die  Chinesen  aufs  Haupt  geschlagen  worden  und  hätten 
rieh  nach   Süden   zurückgezogen,    General  Nieh    habe   Selbstmord 

*)  Uoeefiihr  7'2  Kronen. 


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316 

begangen.    Unter  der  englischen  Gesandtschaft   sei  eine  M 
graben,  gegen  die  französische  jedoch  keine  weitere  proje 

Diese  Aussage  hatte  allerdings  einige  Wahrscheinlich 
sich  und  bestärkte  unsere  im  Stillen   gehegte  Annahme,    ( 
Chinesen  irgendwo  eine  tüchtige  Schlappe  erlitten  hätten  \ 
halb  wieder  anfingen,    die  Friedensschalmeien   zu  stimmen 
sächlich  trat  mit  diesem  Tage  eine  Art  Waffenstillstand  e 
ohne  dass  directe  Abmachungen  getroffen  worden  wären, 
der  Chinesen  einige  Tage  ziemlich  gewissenhaft   eingehaltei 
und  sich  erst  anfangs  August  wieder   auf  dieselbe  unverb 
Art    langsam   in    offene  Feindseligkeiten    verwandelte.     Sc 
aufrichtig  er  gemeint  war   und  so  verschieden  ihn  unsere 
an  den  einzelnen  Punkten  auch  auslegten,  so  brachte  er  u 
eine  nicht  hoch  genug  zu  schätzende  Erleichterung,  ja  gan 
sehen   von   der  Erhaltung   so   vieler  Streiter,    von   denen 
Fortdauer   der  Kämpfe  gewiss   wieder    so  Mancher   gefall 
dienstunfähig  geworden  wäre,    haben  wir    es    nur    dieser 
der  Waffenruhe  zu  danken,  dass  einige  Contingente  ihre    B 
nicht  vorzeitig    gänzlich    erschöpften,     und     das    blieb    de 
Wichtigste!  Nebenher  konnten  wir  noch  unsere  Positioneii 
lieh  ausgestalten  und  befestigen,  auch  den  überanstrengte! 
etwas  Erholung  gönnen. 

Trotz  der  Angabe  des  (befangenen,  welcher  die  Fr 
gegen  uns  Minen  gegraben  werden,  ausdrücklich  verneii 
glaubte  ich  doch  den  Capellentract  gegen  eine  derartige 
von  der  Strasse  her,  wo  die  Chinesen  entweder  im  Hai 
vordringen  konnten  oder  nur  die  relativ  kurze  Distanz 
Südseite  der  Legationsstrasse  herüber  zu  überwinden 
sichern  zu  sollen  und  ersuchte  die  Herren  Bouillard  und  ] 
beide  Ingenieure,  den  Hauptcanal  vom  Hofe  aus  anstec 
lassen,  was  sofort  in  Angriff  genommen  wurde. 

Bei  uns  in  der  französischen  Gesandtschaft  äusserte  ; 
Vertrauen  unserer  Angreifer,  dass  auch  wir  das  Feuer  e: 
würden,  erst  gegen  Mittag,  dann  aber  hatten  wir  alle  Mü 
Massenwanderung  der  zerlumpten  Gesellen  aus  ihren  Ba; 
zu  uns  herüber  zu  verhindern ;  zuerst  steckten  sie  ihre 
heraus,  winkten  und  riefen,  dann  kamen  sie  ganz  herai] 
Waffen,  suchten  unsere  Hände  zu  schütteln  und  boten  ihre 
einer  sogar  einen  Pfirsich  an  —  kurzum,  sie  konnten  i 
nicht  genug  thun,  uns  ihre  Zufriedenheit  mit  der  Wendi 
Dinge  zu  beweisen.  Die  Zahl  der  des  Chinesischen  k 
Herren  hätte  sich  verzehnfachen    müssen,    um   alle  Fragei 


Iriedij^eii  und  ihnen  i^leichzeitig  die  Btidingunfjen  einzuscliärfeii, 
unter  denen  wir  ihnen  erlaubten,  mit  uns  zu  verkehren.  Letzleres 
einzuschränken  war  wohl  ein  Gebot  der  ff e wohnlichsten  Vorsicht, 
denn  vor  allem  sollten  sie  iu  ihrer  für  uns  so  glücklichen  lieber- 
»ehätzung'  unserer  Zahl  nicht  enttäuscht  werden  und  die  Schwäche 
einzelner  Punkte  nicht  kennen  lernen,  wenn  sie  vielleicht  auch  im 
Augenblick  gar  nicht  darauf  ausgingen,  uns  auszuspähen. 

Der  allzeit  ungestüme  Pelliot  bereitete  uns  bei  diesem  An- 
lasse einige  schwere  Stunden:  ehe  Darcy  und  ich  ihn  daran  hindern 
konnten,  hatte  er  der  Einladung  einiger  über  seine  Sprachkennl- 
nisse  entzückter  Soldaten  Folge  geleistet,    war   trotz  unserer  sehr 


kategorischen  Zurufe  mit  einem  Satz  auf  der  nächsten  Barrlcade 
und  auch  schon  unter  dem  Gewühl  der  Chinesen  verschwunden! 
Eine  nette  Bescherung  —  jetzt  hatten  die  Kerle  drüben  einen 
lebenden  Europäer  unter  ihren  Händen  und  konnten  nach  Belieben 
mit  ihm  ihren  grausamen  Spass  treiben,  ohne  dass  wir  es  zu  ver- 
hindern vermocht  hätten!  Fürwahr  eine  kritische  Situation,  in  der 
man  sich  rein  auf  die  Ehrlichkeit  unserer  Gegner  verlassen  mussie. 
denn  jeder  Versuch,  mit  Gewalt  zu  Hilfe  zu  kommen,  hätte  nur 
gewisses  Unheil  heraufbeschworen.  Einer  unserer  Besucher  erbot 
sich,  dem  weissen  Herrn  einen  Zettel  Darcy's  mit  dem  stricten 
Befehl  zur  sofortigen  Rückkehr  zu  übergeben.  Nach  längerer 
Zelt  brachte  er  auch  einen  kleinen,  chinesisch  geschriebenen  Brief 
unsere»  schon  verloren  Geglaubten  herüber,  er  könne  sich  äugen- 


318 

blicklich  der  Höflichkeit  seiner  neuen  Freunde  nicht  entziehen, 
die  ihm  versprochen  hätten,  ihn  binnen  einer  Stunde  zurück- 
kehren zu  lassen.  Man  habe  ihn  zu  General  Ma  geleitet  und  dieser 
zeige  sich  sehr  artig,  wir  möchten  doch  beruhigt  sein.  Wieder  ging 
ein  Chinese  mit  der  noch  peremptorischer  gehaltenen  schriftlichen 
Ordre  an  Pelliot  ab,  doch  vergingen  anderthalb  Stunden,  bis  eine 
neuerliche  Mittheilung,  diesmal  in  französischer  Sprache,  einlief,  der 
zufolge  Pelliot  vom  General  Ma  in  Person  über  den  Hatamen- 
Boulevard  ins  Tsungli-Yamen  geführt  worden  sei,  wo  er  eben  mit 
einigen  »Gros  ponts«*)  bei  Thee  und  Melonen  über  unser  vor- 
zügliches Befinden,  die  Stärke  unserer  Besatzung  etc.  das  Schönste 
erzähle.  —  Sehr  gespannt  wurde  die  Situation,  als  vom  Westen 
her  Geschützfeuer  ertönte  und  die  bei  uns  weilenden  Chinesen 
misstrauisch  nach  dessen  Bedeutung  fragten.  Glücklicherweise 
gab  der  eben  zu  Besuch  erschienene  holländische  Minister  Herr 
Knobel  beruhigende  Aufschlüsse;  die  Chinesen  hätten  gegenüber 
der  russischen  Barricade  eine  neue  aufzuwerfen  begonnen  und  sich 
auch  durch  Warnungen  darin  nicht  stören  lassen,  so  dass  Raden 
endlich  die  »Internationale«  holen  und  hineinbrummen  Hess.  Diese 
Auseinandersetzung  genügte,  um  unsere  Nachbarn  zu  beruhigen, 
sie  waren  froh,  dass  die  Schüsse  nicht  ihnen  galten,  mochten  die 
Leute  drüben  im  Westen  nur  die  Suppe  auslöffeln,  warum  mussten 
sie  auch  an  einem  solchen  Tag  der  Freude  Anlass  zur  Unzu- 
friedenheit geben! 

Einstweilen  hatten  wir  Zeit  genug,  die  chinesische  Besatzung 
in  der  französischen  Legation    mit   unseren  Bedingungen   vertraut 
zu  machen;  nie  sollten  mehr  als  zwei  gleichzeitig  herüberkommen, 
selbstverständlich  ohne  Gewehre  und  ein  weisses  Tuch  schwingend: 
hätten  sie  Briefe  zu  übergeben,  so  sollten  sie  ebenfalls  ein  weisses 
Tuch,  bei  Nacht  ein  Licht    zeigen    und  Veroudart's  Namen   rufen 
—  sollte  einer  von  ihnen  schiessen  oder   sie  sich  einfallen  lassen, 
neue  Barricaden  gegen  uns   zu    bauen,    so  wären    wir    auch   nicht 
mehr    gebunden    und    würden  gleich    zurückschiessen.  Wenn  sich 
mehr  als  zwei  auf  einmal  zeigten,  würde  zur  Warnung  zuerst  ein 
Schuss  über  sie  w^eg  abgegeben,  im   Falle  die  Betreffenden  nicht 
umkehrten,  jedoch  nach    diesem  Aviso  gleich   gezieltes  Feuer  er- 
öffnet werden.  Ein  Placat    mit  dem  Wortlaut   dieses  Abkommens 
in  chinesischen  Zeichen   wurde    dicht  vor  der  Barricade   zwischen 
Ministerhaus  und  dem  Haus  Philippini  aufgestellt,  das  die  Soldaten 
drüben    eifrig    discutirten.    Leider    mussten    wir,    durch   Pelliot  s 
Abwesenheit  gezwungen,  gleich   in  den    ersten  Stunden   von  der 

*)  Familiärer  Ausdruck  für  höhere  Persönlichkeiten. 


trciigen  Auslegung-  der  ausgegebenen  Regeln  absehen  und  stilU 
chweigend  dulden,  dass  die  Gegenpartei  in  der  Mitte  der  nächsten 
iarricadc  mit  der  Aushebung  eines  Schützengrabens  begann. 

Endlich  gegen  6'/»  Uhr  abends  erschien  Pelliot,  von  einer 
urch  einen  Officier  geführten  Hscorte  begleitet,  an  der  neuen 
hinesischen  Barricade  in  der  Legations  Strasse  —  wir  athmeten 
irleichlert  aufl  Seine  Erzählung  fand,  wie  man  sich  denken  kann, 
tein  kleines  Auditorium,  das  ihn  von  Herzen  zu  seiner  Rückkehr 
)eglückwünschte.  die  Vorwürfe  Darcy's  erstarben  von  selbst. 

'Unwillkürlich  einem  momentanen  Impulse  folgend,  stieg  ich 
tinüber  und  wurde  sehr  freundlich  aufgenommen;  mein  Er.stes 
Ifar,  nach  den  Leichen  der  zwei  Verschütteten  zu  fragen  und  ein 
lohes  Entgelt  für  deren  Zustandebringnng  anzubieten.  In  der 
ranzösischen  Legation  liegen  400 — 500  Mann,  die  sich  ganz  häuslich 
angerichtet  haben;  von  da  führte  man  mich  mit  sanfter  Gewalt  zu 
jeneral  Ma  und  dieser  brachte  mich  selbst  nach  dem  Tsungli-Yamen. 
Jis  zum  Hatamen  sind  alle  Häuser  gepfropft  voll  mit  Soldaten, 
lie  sich  darin  verbarricadirt  haben,  ich  schätze  ihre  Zahl  auf 
lieser  Strecke  allein  auf  3000.  Im  Yamen  war  man  sehr  freundlich 
aid  erzählte  mir,  dass  die  Kaiserin-Witwe  sich  noch  in  der  Stadt 
«finde  und  das  Tsungli-Yamen  seine  Geschäfte  erledige.  Die 
'ragen  nach  uns  habe  ich  dahin  beantwortet,  dass  es  uns  gut 
[ehe,  wir  auf  Monate  mit  allem  Nöthigen  versorgt  und  in  unserer 
[.egation  allein  etliche  hundert  Franzosen  und  Oesterreicher  stark 
leien.  In  der  Nordstadt  herrscht  das  gewöhnliche  Leben;  ich  glaube. 
lass  man  mich  absichtlich  zurückhielt,  um  erst  Yunglu's  Befehle 
Iber  meine  Person  einzuholen.  Die  Soldaten  meiner  Escorte  haben 
Dir  erklärt,  dass  zwischen  ihnen  und  den  Boxern  Zwistigkeiten 
Bisgebrochen  sind,«  Soweit  Pelliot's  Erzählungen  über  sein  Aben- 
euer,  das  noch  am  selben  Abend  den  Gesprächsstoff  der  ganzen 
Freradengemeinde  bildete  und  ihm  selbst  wohl  Zeit  seines  Lebens 
b  unauslöschlicher  Erinnerung  bleiben  wird. 

Nachmittags  war  wieder  ein  Brief  von  «Prinz  Tsching  und 
Jenossen«  an  den  englischen  Gesandten  eingelaufen,  aus  dem  wir 
mdlich!  den  richtigen  Sachverhalt,  wie  es  zu  Feindseligkeiten  hatte 

Eommen  können,  erfahren  sollten.  Man  lese  und  staune: 

Der  Zweck  des  Einzuges  von  Truppen  der  verschiedenen  Länder  in 
Peking  war  der  Schutz  der  Gesandtschaften,  aber  später  strolchten 
ie  in  den  Strassen  herum  und  schössen  aus  ihren  Gewehren,  wie 
Is  ihnen  behagte,  so  dass  Fälle  eintraten,  dass  Leute  verwundet 
Inirden,  und  die  Umgebung  der  Tschangan-Strasse  wurde  für  den 
to^^ir  fast  gänzlich  abgesperrt.  Ja  noch  mehr,  am  2b.  Tage  des 


320 

5.  Monats  (21.  Juni)  ging  zufallig  ein  Mandschu-Edelmann,  namens 
Yun,  zu  Hofe  und  hatte  eben  die  Strasse  ausserhalb  des  Ostthores  des 
Palastes  erreicht,  als  er  plötzlich  einen  Gewehrschuss  horte  und 
das  Geschoss  das  Dach  seines  Wagens  durchbohrte.  Dies  er- 
regte den  Unwillen  sowohl  des  Volkes  als  auch  der  Sol- 
daten und  führte  zu  gegenseitigen  Angriffen. 

Nun,  seitdem  man  gegenseitig  übereingekommen  ist,  dass 
künftighin  auf  beiden  Seiten  das  Feuer  schweigen  soll,  möge 
Friede  und  Ruhe  sein,  aber  jetzt  stehen  östlich  vom  Tschien-men 
auf  der  Stadtmauer  fremde  Soldaten,  die  von  Zeit  zu  Zeit  feuern 
und  angreifen.  Wenn  man  die  Soldaten  im  Zaum  halten  und  ihnen 
nicht  erlauben  würde,  auf  die  Mauer  zu  gehen,  würde  es  höchst 
wünschenswerth  sein.« 

Etwas  Einfaltigeres  als  diese  Erklärung  für  die  Entstehung 
der  »bedauerlichen  Missverständnisse«  und  den  treuherzigen  Ton 
der  Aufforderung,  die  Stadtmauer  aufzugeben,  lässt  sich  schwer 
denken  —  wohl  aber  kann  man  sich  die  allgemeine  Heiterkeit 
vorstellen,  als  das  Missgeschick  eines  so  hochedlen  Herrn,  wie 
des  Mandschu  Yun,  bekannt  wurde ;  immerhin  schienen  die  Schreiber 
sehr  zu  wünschen,  dass  Ruhe  eintrete,  nahmen  sie  doch  die 
Existenz  eines  Uebereinkommens  vorweg  an,  das  bisher  noch  gar 
nicht  näher  definirt  war. 

Sir  Claude  widerlegte  in  einem  Schreiben  den  Mythus  durch 
eine  summarische  Darstellung  der  Begebenheiten  am  Fu  seit 
19.  Juni,  des  verrätherischen  Placates  vom  25.  gedenkend,  lehnte 
die  Räumung  der  Mauer  ab,  verlangte  aber,  Eis  und  Obst  durch 
Händler  zuzulassen. 

Dass  die  Stadtmauer  den  Chinesen  recht  begehrlich  erschien, 
nahm  gewiss  Niemanden  Wunder;  der  dort  conmiandirende  chine- 
sische Officier,   ein  Oberst  vom  Corps  Tung-Fuhsiang's,  Hess  dem 
englischen    Gesandten    am  18.   morgens    durch    einen    ehemaligen 
Bahnpolizisten  sagen,    dass  er  gerne  schriftliche  Mittheilungen  an 
den   Generalissimus   Yunglu    befördern    werde,   worauf  Sir  Claude 
mit  ihm  bei  der  russisch-amerikanischen  Barricade  eine  Zusammen- 
kunft hatte.    Im  Verlaufe    der  Unterredung,    welche  sich   um  die 
Bedingungen    des    Waffenstillstandes    drehte,    befestigte  sich  die 
Ueberzeugung,  dass  Yunglu  im  Augenblick  die  allmächtige  Persön- 
lichkeit sei  und  um  endlich  zu  etwas  Concreterem  als  den  halben 
Versprechungen    zu    kommen,    verlangte    der    englische  Miiiister, 
man  möge  doch  eine  officielle.  verantwortliche  Persönlichkeit  ent- 
senden,   um   zu  verhandeln.    Daraufhin    erschien    nadmüttags  öo       j 
Secretär  des  Tsungli-Yamens,  namens  Wen  Hsien,  mit 


321 

führungsschreiben  Yunglu's,  der  ausserhalb  des  Thores  der  eng- 
lischen Legation  von  mehreren  der  dort  versammelten  Minister  in 
Erwartung  neuer  Mittheilungen  und  wichtiger  Vorschläge  sehr  höflich 
empfangen  wurde.  Thatsächlich  brachte  er  aber  gar  nichts  von 
Wichtigkeit  und  hatte  auch  gar  keine  anderen  Vollmachten,  als 
eben  nur  ein  paar  Phrasen  auszutauschen.  Das  von  ihm  erneuerte 
Verlangen  um  Räumung  der  Stadtmauer  wurde  selbstredend  ab- 
geschlagen, die  Frage  nach  dem  Peitang  beantwortete  er  aus- 
weichend, »er  glaube  nicht,  dass  sich  dort  etwas  ereignet  hätte«. 
Eine  chifFrirte  Depesche  des  russischen  Ministers  übernahm  er  nach 
einigem  Zögern,  doch  wurde  sie  am  folgenden  Tage  wieder  zurück- 
gestellt. 

Als  die  Sprache  auf  die  Lebensmittel  der  Fremden  kam, 
wurde  auch  ihm  erklärt,  dass  wir  genügend  versehen  wären,  doch 
gleichzeitig  der  Wunsch  ausgesprochen,  man  möge  Verkäufern  von 
Gemüse  und  Eis  den  Zutritt  gestatten,  w^elche  Artikel  wir  für 
Frauen,  Kinder  und  Kranke  benöthigten ;  Wen  Hsien  getraute  sich 
über  diesen  Punkt  und  die  gleichfalls  verlangte  Zusendung  der 
»Pekinger  Zeitung«  keine  Zusage  zu  machen,  sondern  verschanzte 
sich  hinter  dem  gönnerhaften  Gemeinplatz,  er  w^erde  sehen,  was 
sich  thun  Hesse.  » 

Augenzeugen  der  ganzen  Verhandlung  berichten,  dass  das 
Benehmen  des  chinesischen  Emissärs  sehr  aufgeregt  war,  was  man 
allgemein  seiner  Furcht,  als  Geisel  zurückbehalten  zu  werden,  zu- 
schrieb; späterhin  erst  erfuhr  man,  dass  sein  Gewissen  durchaus 
nicht  rein  gewesen  und  er  als  ernannter  Chef  einer  Abtheilung 
Boxer  erhöhten  Grund  gehabt  habe  sich  unsicher  zu  fühlen. 

Alles  in  Allem  war  der  Empfang  des  von  Yunglu  empfohlenen 
Secretärs  ein  Schlag  ins  Wasser  gewesen  und  Höflichkeit  an  einen 
wenig  Würdigen  vergeudet  worden.  —  Dafür  brachte  aber  ein 
anderes  Ereigniss  Entschädigung;  am  18.  Juli  kam  der  erste  Bote 
von  Tientsin  an ! 

Seit   fünf  Wochen   das   allererste  Lebenszeichen  von   aussen! 

Die  Nachrichten  waren  für  den  japanischen  und  den  deutschen 
Minister,  sowie  für  Oberstlieutenant  Shiba  bestimmt  und  stammten, 
am  14.  Juli  geschrieben,  von  General  Fukuschima,  Oberstlieutenant 
Mori  und  den  Consuln  Japans  und  Deutschlands.  Ausführlicher 
wurden  nur  die  japanischen  bekannt: 

»Admiral  Seymour  musste,  von  Truppen  Tung  -  Fuhsiang's 
angegriffen,  umkehren,  erhielt  internationale  Unterstützungen,  rückte 
^m  26.  Juni  in  Tientsin  ein.  Taku-Forts  am  17.  Juni  genommen. 
20.000  Japaner  sollen  am  20.  Juli  in  Taku  ankommen. 

Winterhaider:  Kämpfe  in  China.  21 


322 

In  Tientsin:  4000  Japaner,  4000  Russen,  2000  Engländer, 
1500  Franzosen,  500 Deutsche,  1500  Amerikaner.  Totale  13.500  Mann.« 

Ein  Brief  des  japanischen  Consuls  ergänzte  die  Angabe  be- 
züglich Eintreffens  der  Japaner  dahin,  dass  die  20.000  Mann 
zwischen  15.  und  20.  Juli  staffelweise  in  Tientsin  einrücken 
sollten. 

Herr  von  Below  theilte  aus  der  für  ihn  bestimmten  Depesche 
nur  mit,  dass  am  14.  Juli  Tientsin  von  den  Fremden  endgiltig 
genommen  wurde;  über  bevorstehende  Operationen  des  Entsatz- 
Corps  fehlte  jede  Andeutung. 

Nun  war  allerdings  der  Umschwung  in  dem  Gehaben  unserer 
Gegner  vollständig  erklärt,  aber  auch  das  Ausbleiben  des  Ent- 
satzes hatte  seine  richtige  Deutung  gefunden;  kein  Mensch  in 
Peking  hätte  es  für  möglich  gehalten,  dass  die  Schicksale  Tientsins 
so  lange  unentschieden  bleiben  könnten,  und  was  musste  dort  vor- 
gegangen sein,  wenn  man  mit  13Vt Tausend  Mann  noch  nicht  an 
einen  Vormarsch  dachte! 

Die  Lage  nahm,  von  diesem  Gesichtspunkte  aus  betrachtet, 
doch  wieder  einen  ernsteren  Charakter  an;  wenn  Tientsin  uns 
nichts  Anderes  mittheilen  konnte,  als  dass  die  Chinesen  erst  vor 
vier  Tagen  von  dort  vertrieben  worden,  so  mussten  wir  uns  aller- 
dings noch  einige  Zeit  in  Geduld  fassen.  Letzteres  waren  wir  aber 
schon  gewohnt  und  so  überwog  doch  im  Allgemeinen  die  Zu- 
friedenheit, endlich  etwas  Positives  zu  wissen,  ein  Umstand,  der 
namentlich  bei  den  Verhandlungen  in  Peking  mit  Yunglu  oder  der 
nichtprotokoUirten  Firma  »Tsching  und  Genossen«  einen  Rückhalt 
bot,  wenn  man  sich  auch  wohl  hütete  merken  zu  lassen,  was  unsere 
Nachrichten  seien,  bevor  die  Chinesen  selbst  vom  Fall  Tientsins 
sprachen. 

Bei  uns  in  der  französischen  Legation  verhielten  sich  die 
Chinesen  ruhig,  blieben  aber  hinter  den  Barricaden  und  Hessen 
uns  sagen,  dass  sie  die  Leichen  Pesqueur's  und  Bougeard's  ge- 
funden hätten  und  am  folgenden  Tage  übergeben  würden;  über 
das  Peitang  wollten  sie  lange  nichts  mittheilen,  behaupteten  viel- 
mehr, es  sei  unmöglich  hinzugelangen,  bis  sich  endlich  einer  ver- 
plapperte und  verrieth,  dass  dort  noch  immer  geschossen  werde, 
weil  »die  dortigen  Fremden  nicht  um  Frieden  gebeten  hätten«.  So 
also  halten  die  Führer  ihren  Soldaten  den  unerwarteten  Befehl, 
die  Feindseligkeiten  einzustellen,  mundgerecht  zu  machen  gewussti 
Nun,  auf  ein  paar  Lügen  kam's  ja  weiter  nicht  an  und  wir  wareOf 
auch  ohne  um  Gnade  gefleht  zu  haben,  ganz  zufrieden,  Ruhe  W 
geniessen.   Den  Dolmetschen  gelang  es,  für  schweres  Geld  • 


Eier  und  Pfirsiche  hereingeschrauggfelt  zu  erhalten,  ein  Neben- 
erwerb, den  die  chinesischen  Krieger  namentlich  an  der  japani- 
schen Linie  in  ausgedehnterem  Masse  betrieben,  bis  sie  strenge 
Gegenbefehle  erhielten;  ich  muss  jedoch  ^ur  Steuer  der  Wahrheit 
anführen,  dass  unter  den  Soldaten  Yunglu's  wenigstens  Einer  Ideen 
von   ritterlicher  Galanterie  bewies. 

Mme-  Pichon  war  mit  ihrem  Gemahl  und  einigen  anderen 
Damen  der  französischen  Gesandtschaft  herübergekommen,  um  zu 
sehen,  was  aus  ihren  Häusern  geworden  sei.  und  als  sie  mit 
ehmüthigen  Blicken  die  Ruinen  musterte,  in  denen  nun  Chinesen 
lagerten,  kam  einer  der  Soldaten  herübergelaufen,  drückte  ihr 
einen  kleinen  Kürbis  und  einen  Pfirsich  in  die  Hand  und  lief  — 
jeden  Dank  und  klingenden  Lohn  heftig  abwehrend  —  eiligst  wieder 
hinter  seine  Barricade  zurück!  Mme.  Pichen  hatte  den  Mann  nie 
zuvor  gesehen,  seine  Handlung  war  also  gewiss  ganz  spontan  und 
eder  durch  Gewinnsucht  noch  einen  Anlass  zu  Dankbarkeit  zu 
erklären. 

Der  deutsche  Militär- Attache.  Lieutenant  von  Loesch,  hatte  an 
diesem  Tage  die  Wache  auf  der  Stadtmauer  und  berichtete  von 
dort,  dass  in  der  Chinesen- 
stadt Soldaten  auf  Boxer 
schössen  —  wohl  bekomm's, 
wenn  sich  unsere  Wider- 
sacher nun  gegenseitig  in  den 
Haaren  lagen,  so  konnte  uns 
das  nur  freuen. 

Am  lÖ.  Juli  erfuhr  un- 
sere Situation  eine  neue, 
sehr  bedeutsame  Aenderung 
durch  directe,  ganz  officielle, 
von  den  Visitkarten  der  Mi- 
nister begleitete  Mitthei- 
lungen des  Tsungli-Yamens 
an  die  diplomatischen  Ver- 
treter von  Deutschland.  Eng- 
land, Frankreich.  Russland 
und  den  Vereinigten  Staaten. 

ihr  Inhalt  konnte  aller- 
dings zu  denken  geben;  den 
chinesischen  Gesandten  in 
dtm  genannten  Staaten  war 
telegraphisch     der     Auftrag 


W^*s» 


324 

ertheilt*)  worden,  eine  Botschaft  des  Kaisers  von  China  an  das 
betreffende  Staatsoberhaupt  zu  übergeben,  in  dem  Kaiser  Kuangsü 
um    die   Mithilfe   zur  Wiederherstellung  geordneter  Zustande  bat. 

Der  Text  aller  dieser  Depeschen  an  die  einzelnen  Vertreter 
Chinas  im  Auslande  war  im  Meritorischen  so  ziemlich  identisch 
und  berührte  specielle  Fragen  nur  in  der  Absicht,  die  versöhn- 
liche" Tendenz  hervorzuheben.  M.  Pichon  theilte  uns  damals  nur 
einen  Auszug  des  für  den  Präsidenten  der  Republik  bestimmten 
Telegrammes  mit,  während  ich  hier  den  vollen  Wortlaut  nach 
einer  später  zugänglich  gewordenen  officiellen  Quelle  folgen  lasse: 

»Complimente  des  Kaisers  von  China  an  den  Präsidenten  der 
Republik  Frankreich  etc.  etc. 

China  ist  seit  mehreren  Jahren  durch  Freundschaft  mit  Ihrem 
ehrenwerthen  Lande  verbunden.  Alle  Angelegenheiten,  die  sich 
auf  Unsere  Beziehungen  an  der  Grenze  von  Kwangsi  und  Yünnan 
bezogen,  sind  auf  dem  Wege  der  Versöhnlichkeit  besprochen  und 
ausgetragen  worden.  Zwischen  Uns  herrscht  keine  Streitigkeit. 
Neuerlich,  als  zwischen  der  Bevölkerung  und  den  Christen  Feind- 
seligkeiten ausbrachen,  haben  Rebellen  aus  dem  Volke  die  Ge- 
legenheit ergriffen,  um  sich  in  Plünderungen  zu  ergehen;  das 
Ergebniss  davon  ist  gewesen,  dass  die  fremden  Nationen  den  Hof 
verdächtigt  haben,  dass  er  seine  Parteilichkeit  für  das  Volk  und 
dessen  Eifersucht  gegen  die  Christen  erwiesen  habe.  Seither  fanden 
der  Angriff  und  die  Einnahme  der  Taku-Forts  statt;  hierauf  folgten 
militärische  Actionen  und  Unglücksfalle,  w^elche  die  Situation  umso 
complicirter  und  gefährlicher  gestalteten.  Da  nach  Unserer  Ansicht 
Ihr  ehrenwerthes  Land  unter  allen  den  internationalen  Verbindungen 
Chinas  die  herzlichsten  Beziehungen  zu  China  hat  und  China  heute 
durch  die  Umstände  so  arg  bedrängt  worden  ist»  dass  es  sich  den 
allgemeinen  Zorn  zugezogen  hat,  ist  es  nicht  möglich,  dass  Wir  he\ 
der  Ordnung  dieser  Schwierigkeit  und  Lösung  dieser  Complicatio"^ 
nicht  einzig  auf  Ihr  ehrenwerthes  Land  zählen. 

Deshalb  eröffnen  Wir  Uns  Ihnen  in  aller  Aufrichtigkeit,  desha-T^^ 
legen  Wir  Ihnen  Unsere  innersten  Gefühle  dar  und  deshalb  rieht 
Wir  mit  voller  Freimüthigkeit  diesen  Brief  an  Sie  in  der  einzig- 
Hoffnung,    dass  Sie,    Herr  Präsident  der  Republik,  ein  Mittel 
Ordnung   der   Dinge    finden    werden    und   dass  Sie    die   Initiati 
zur  Umgestaltung  der  gegenwärtigen  Lage  ergreifen  werden. 


*)   Das   Datum,  wann    diese   Depeschen    thatsächlich    den    einzelnen   chinesisc' 
Gesandten  übergeben  wurden,  variirt,   fallt  jedoch  nach  den  officiellen  Docamenten, 
der  Verfasser  einsehen    konnte,    unbedingt  nach  dem  14.  Juli,    dem  Tage,  wo  die 
von  Tientsin  erstürmt  worden  ist. 


325 

Wir  bitten  Sie  zugleich  die  Güte  zu  haben,  Uns  eine  wohl- 
wollende Antwort  zukommen  zu  lassen,  die  Wir  nur  mit  äusserster 
Spannung  erwarten  können.«  *) 

Die  Mittheilung  des  Yamens  an  den  deutschen  Geschäftsträger 
sprach  das  tiefe  Bedauern  über  den  Tod  Baron  Ketteler's  aus, 
der  ungeahnterweise  das  Opfer  von  Rebellen  ge- 
worden sei. 

Nebst  diesen  zweifellos  aus  dem  Tsungli-Yamen  stammenden 
Briefen  wurde  aber  gleichzeitig  ein  anderer,  von  Prinz  Tsching 
und  Genossen  an  Sir  Claude  Macdonald  gerichteter  abgegeben, 
der  den  »lebhaften  Wunsch  des  Hofes,  den  Gesandtschaften  zur 
gegenwärtigen  Gelegenheit  Schutz  zu  gewähren«,  auf  eine  höchst 
seltsame  Art  zu  verdeutlichen  suchte.  Unter  Berufung  auf  die 
hochgehende  Erregung  des  Volkes  gegen  die  Chinesen  Christen, 
welche  der  Thron  vergebens  einzudämmen  versucht  und  die  nun- 
mehr einen  solchen  Grad  erreicht  hätte,  dass  sie  nur  mehr 
durch  die  Zerstörung  der  Legationen  in  Peking  besänftigt 
werden  könnte,  wurden  die  Minister  aufgefordert,  unter 
chinesischer  Escorte  sich  zeitweilig  nach  Tientsin  zu  be- 
geben; dieser  Forderung  hatten  die  Schreiber  des  Briefes  jedoch 
eine  Einleitung  vorangeschickt,  dass  in  Tientsin  heftig  ge- 
kämpft werde  und  es  höchst  rathsam  wäre,  dass  die 
Excellenz  und  die  anderen  so  lange  als  möglich  in  der 
Stadt  verbleiben.**) 

Den  Schluss  dieses  unfasslichen,  der  üblichen  Höflichkeits- 
formel  auffallenderweise  ganz  entbehrenden  Documentes  bildete 
eine  emphatische  Erklärung,  dass  Prinz  Tsching  und  Genossen  an 
allem  weiteren  Unglück  nicht  schuldig  sein  würden,  sollten  die 
Gesandten  sich  entschliessen,  in  Peking  zu  bleiben. 

Die  crassen  Widersprüche  und  das  Fehlen  der  Schlusscompli- 
mente  machten  einen  recht  ungünstigen  Eindruck;  irgendwo  lauerten 
also  doch  tückische  Absichten.  Man  mochte  die  Enunciationen  des 
Thronesund  andererseits  die  von  Prinz  Tsching  und  Genossen  kommen- 
den Worte  drehen  und  wenden  wie  man  wollte,  so  konnte  doch  ange- 
sichts der  Unentschiedenheit  der  Chinesen  an  ernste  Verhandlungen 
erst  dann  gedacht  werden,  wenn  die  Gesandten  durch  eigene 
Truppen  befreit  und  im  Stande  waren,  ihren  Worten  Nachdruck 
Zu  verleihen. 


•)  Der  Minister  des  Aeusseren  in  Paris  antwortete  dem  chinesischen  Gesandten 
'V'ukeng,  das  Tsungli-Yamen  möge  sich  die  Antwort  bei  der  französischen  Gesandtschaft 
id.  Peking  abholen. 

**)  Der  zweite  Passus  wörtlich  wiedergegeben. 


326 

Das  Gaukelspiel  —  beruhigende  süsse  Nachrichten  für  die 
Aussenwelt  und  plumpe  Zweideutigkeit  gegenüber  den  Einge- 
schlossenen, die  von  den  chinesischen  Politikern  wahrschemlich 
noch  immer  wie  Geiseln  betrachtet  wurden  —  äusserte  sich  in  der 
Correspondenz  des  19.  Juli  so  recht  deutlich.  Der  Courier  mit  der 
Nachricht  von  der  endlichen  Befreiung  Tientsins  war  wohl  recht- 
zeitig gekommen,  um  schon  an  dem  Detail  —  Tsching  und  Genossen 
gaben  vor,  dass  dort  noch  heiss  gekämpft  werde  —  die  Verlogen- 
heit der  uns  gemachten  Mittheilungen  zu  erkennen  und  sich  durch 
sie  nicht  irreführen  zu  lassen. 

Der  französische  Gesandte  hatte  ebenfalls  durch  das  Yamen  ein 
chiffrirtes  Telegramm  aus  Frankreich  erhalten,  dass  zwei  Kreuzer- 
Divisionen  ä  drei  Schiffe  und  vier  Kanonenboote,  ferners  15.000  Mann 
theils  schon  unterwegs  seien,  theils  unmittelbar  vor  dem  Abgang 
ständen;  auch  persönlich  Erfreuliches  war  ihm  vom  Minister  des 
Auswärtigen  darin  mitgetheilt  worden,  seine  Ernennung  zum 
Commandeur  der  Ehrenlegion  und  Nachrichten  über  das  Wohlbefinden 
seiner  betagten  Mutter  —  M.  Pichon  konnte  also  in  vielfacher 
Richtung  Glückwünsche  entgegennehmen. 

Auf  unserer  Linie  hatten  wir  ausser  dem  reichen  Stoff,  den 
das  Bekanntwerden  des  Inhaltes  der  verschiedenen  Schreiben  der 
Unterhaltung  bot,*)  noch  ein  besonderes,  allerdings  nicht  gerade 
vertrauenerweckendes  Sondererlebniss. 

Nachdem  die  Chinesen  ihr  Versprechen,  die  Leichen  der  zwei 
verschütteten  Franzosen  auszuliefern,  bisher  nicht  gehalten  hatten, 
wurde  ein  christlicher  Boy,  namens  Wong,  der  letzte  aus  der 
österreichisch-ungarischen  Gesandtschaft  mitgekommene,  um  4  Uhr 
nachmittags  mit  einem  Briefe  an  General  Ma  abgeschickt,  um  die 
Herausgabe  zu  betreiben;  unser  Vertrauen  in  die  Redlichkeit  der 
Chinesen,  die  doch  zwei  Tage  vorher  Pelliot  wieder  zurückge- 
bracht hatten,  erlitt  aber  einen  unheilbaren  Bruch,  denn  Wong 
kehrte  weder  an  diesem,  noch  an  einem  späteren  Tage  zurück  und 


*)  Ein  Gerücht  circulirte,  dass  die  amerikanische  Regierung  ihre  von  China  cf" 
betene  Vermittlung  von  einer  Depesche  ihres  Vertreters  in  Peking,  Mr.  Conger,  abhängig 
gemacht  und  das  Yamen  ein  chiffrirtes  Telegramm  des  amerikanischen  Gesandten  »'"' 
Beförderung  übernommen  habe ;  sogar  dessen  "Wortlaut  wurde  hemmenählt  und  b«- 
gefügt,  dass  die  Chinesen  den  amerikanischen  ChifFreschlüssel  besässen.  Mr.  Conger  soll 
telegraphirt  haben:  »Seit  einem  Monat  von  kaiserlichen  Truppen  eingeschlossen,  oit 
Geschütz  und  Gewehren  beschossen ;  vor  Allem  ausgiebige  Truppenmacht  »um  EntsatJ 
nöthig.«  Ich  kann  leider  nicht  mit  Bestimmtheit  angeben,  ob  diese  Depesche,  wie  be* 
hauptet,  thatsächlich  am  20.  Juli  abgesendet  worden  ist;  ähnliche,  die  Sitaation  richtig 
schildernde  Telegramme  der  Gesandten  gingen  erst  am  3.  und  5.  August,  durch  «• 
Chinesen  befördert,  an  die  verschiedenen  Regierungen  ab. 


327 

schriftliche  Reclamationen  des  französischen  Ministers  bei  Yunglu 
über  den  schnöden  Verrath  fanden  keine  andere  Erwiderung  als 
die  Erklärung,  weder  ein  Bote,  noch  ein  Brief  seien  im  Lager 
Ma's  erschienen  —  kein  Zweifel,  Wong  war  schon  früher  als  Christ 
erkannt  und  umgebracht  worden. 

Sir  Claude  hielt  es  für  gerathen,  allgemein  aufmerksam  zu 
machen,  dass  in  der  kommenden  Nacht  nach  chinesischem  Ge- 
brauche das  Fest  der  Kriegsgöttin  gefeiert  zu  werden  hätte;  im 
Legationsviertel  wurde  aber  nichts  Anderes  bemerkbar,  als  eine 
ferne,  von  10  Uhr  bis  Mitternacht  dauernde  Kanonade,  die  dem 
Peitang  galt,  und  das  Abfeuern  blinder  Patronen  seitens  einiger 
chinesischer  Wachposten. 

Die  Ruhe  hielt  weiter  an  und  so  beantworteten  die  Minister 
am  20.  Juli  die  die  Friedensabsichten  mittheilende  Note  mit  einer 
kurzen,  hinhaltenden  Bemerkung,  dass  sie  über  die  Intentionen 
der  Regierung  nur  erfreut  sein  könnten,  und  forderten  die  Ab- 
sendung beigeschlossener  Telegramme,  die  jedoch  diesmal  noch 
nicht  zugestanden  wurde.  Der  englische  Gesandte  verlangte  in 
einem  neuerlichen  Briefe  an  Prinz  Tsching  und  Genossen  Auf- 
klärungen betreffs  des  letzten  unverständlichen  Schreibens  und 
legte  nochmals  Gewicht  darauf,  zu  erklären,  dass  die  Machthaber 
sich  doch  nicht  der  Verantwortung  entziehen  könnten,  wenn  sie 
das  Völkerrecht  so  gänzlich  missachteten. 

Am  Nachmittage  erschienen,  von  einigen  kleinen  Mandarinen 
geleitet,    ein  paar  Karren   mit  Wassermelonen,    Gurken  und  Eier- 
pflanzen,   die  auf  kaiserlichen  Befehl    »in  Anbetracht   des  heissen 
Wetters    und    dass    die    Fremden    derlei    Gemüse    wahrscheinlich 
entbehren  dürften«,  übergeben  wurden;  wir  waren  durch  die  voran- 
gegangene Hungercur  in  unseren  stolzen  Principien  genügend  er- 
schüttert, um  diese  Gabe  anzunehmen  und  die  edlere  Regung  mit 
der  Betrachtung  zu  beschwichtigen,  die  Politik  gebiete  diese  Con- 
cession.  Dass  sich  eine  Gegenstimme  vernehmbar  machte,  als  eine 
restitutio  in  integrum    schon  unmöglich  geworden,  wird  man  auch 
nicht  schärfer  verurtheilen.  Nur  jammerschade,  dass  nach  Aussage 
der  Mandarine    die  Boxer    das  Eis    absolut  nicht    hatten   passiren 
lassen  wollen! 

Die  ganze  Bescherung  kam  eben  recht,  um  den  Tag  von 
Lissa  doch  auch  durch  eine  bescheidene  Abwechslung  im  Menü 
feiern  zu  können ;  Chamot  trieb  sogar  noch  etwas  Wein  für  unsere 
und  die  französischen  Matrosen  auf,  und  da  Professor  Gi^^ter  und 
unsere  zwei  ersten  Verwundeten,  Petrovac  und  Bemardis,  geheilt 
zu  uns  zurückkamen,  herrschte  frohe  Stimmung. 


328 

Der  Göttin  zu  Ehren  brannten  unsere  Gegenüber  in  der 
Nacht  wieder  Schwärmer  ab,  gegen  die  Barricade  Chamot  auch 
ein  paar  scharfe  Patronen,  da  sie  in  dem  ausgeschnittenen,  von 
innen  beleuchteten  Kürbis,  den  eine  muntere  Gesellschaft  zum 
Schabernack  dort  aufgestellt  hatte,  ein  neues  schreckliches  Kriegs- 
instrument vermutheten. 

Der  nächste  Tag  war  ein  Fest  für  Zeitungsleser,  denn  es  war 
gelungen,  eine  Menge  Exemplare  der  »Pekinger  Zeitung«  herein- 
zuschmuggeln, und  diesmal  lohnte  sich  die  Mühe,  einen  Gang  zum 
Glockenthurm  in  »England«  zu  unternehmen,  wo  alle  wahren  und 
bloss  conibinirten  Neuigkeiten,  Alarmvorschriften,  Kauf-  und  Ver- 
kaufsanträge, Avisos  über  stattfindende  Waschefeste,  verlorene  — 
seltener  gefundene  —  Gegenstände  etc.  durch  Anschlag  zur  allge- 
meinen Kenntniss  gelangten.  Die  Sprach-  und  Schriftkundigen 
konnten  kaum  den  überreichen  Stoff  aufarbeiten  und  dann  um- 
lagerten dichte  Schaaren  Neugieriger,  Tagebuch  in  der  Hand,  die 
wichtige  Stätte. 

Wie  gesagt,  diesmal  kam  Jeder  auf  seine  Rechnung,  vielleicht 
wendet  sich  auch  der  Leser  nicht  ganz  enttäuscht  einem  weiteren 
Abschnitt  zu,  wenn  ich  einige  von  den  damals  heiss  verschlun- 
genen Neuigkeiten  ausführlich  wiedergebe. 

Vor  Allem  die  kaiserlichen  Edicte;  die  Nebeneinanderstellung 
spricht  in  dem  Falle  wohl  Bände. 

21.  Juni.  Kriegserklärung. 

»Seit  der  Begründung  Unserer  Dynastie  sind  die  Fremden, 
welche  nach  China  kamen,  mit  Güte  behandelt  worden.  In  den 
Regierungszeiten  Tao-kuang's  und  Hsienfeng's  wurde  ihnen  ge- 
stattet, Handel  zu  treiben,  und  sie  baten  um  Erlaubniss,  ihre  Religion 
verkünden  zu  dürfen.  Diese  Bitte  wurde  ihnen  wider  Willen  ge- 
währt. Anfangs  fügten  sie  sich  der  chinesischen  Controle,  aber  in 
den  letzten  30  Jahren  haben  sie  die  Nachsicht  Chinas  missbraucht, 
chinesisches  Land  besetzt,  das  chinesische  Volk  bedrückt  und 
China's  Geld  und  Gut  begehrt.  Jedes  von  China  gemachte 
Zugeständniss  steigerte  ihr  Vertrauen  auf  die  Gewalt.  Sie  bedrängten 
friedliche  Bürger  und  insultirten  die  Götter  und  die  Heiligen,  wo- 
durch sie  den  heftigsten  Unwillen  beim  Volke  hervorriefen.  Davon 
rührt  das  Niederbrennen  von  Capellen  und  Tödten  von  Convertiten 
seitens  der  tapferen  Patrioten  her.  Der  Thron  war  eifrigst  bemüht, 
einen  Krieg  zu  vermeiden,  und  erliess  Edicte,  mit  denen  der 
Schutz  der  Gesandtschaften  und  Erbarmen  mit  den  chinesischen 
Christen  anbefohlen  wurde.  Die  Decrete,  welche  kundthaten,  dass 
die  Boxer    und    Convertiten    gleiche    Kinder    des    Staates 


wurden  in  der  Hoffnung  erlassen,  den  alten  Zwist  zwischen  dem 
Volke  und  den  (^ur  christlichen  Religion}  Bekehrten  zu  besfcitigen, 
und  die  Fremden  aus  der  weiten  Ferne  \\'urden  mit  äusserster 
Liebenswürdigkeit  behandelt.  Aber  diese  Leute  kannten  keine 
Dankbarkeit  und  vermehrten  ihren  Druck.  Gestern  kam  Uns  eine 
Depesche  von  Du  Chaylard  zu,  mit  welcher  Wir  angegangen 
wurden,  ihnen  die  Taku-Forts  zu  übergeben,  sonst  würden  die- 
selben mit  Gewalt  genommen  werden.  Diese  Drohung  zeigte  ihre 
Aggression.  In  allen  Sachen  des  internationalen  Verkehres  haben 
Wir  es  ihnen  gegenüber  nie  an  Höflichkeit  fehlen  lassen;  aber 
sie,  die  sich  selbst  die  civilisirten  Staaten  nennen,  haben  ohne 
Rücksicht  auf  Recht,  nur  auf  ihre  militärische  Kraft  bauend,  ge- 
handelt. Wir  haben  nunmehr  fast  30  Jahre  regiert  und  das  Volk 
wie  Unsere  Kinder  behandelt:  das  Volk  verehrte  Uns  als  seine 
Gottheit.  Und  inmitten  Unserer  Regierung  waren  Wir  die  Em- 
pfanger der  gnädigen  Gunst  der  Kaiserin-Witwe.  Femer  sind  Uns 
Unsere  Vorfahren  zu  Hilfe  gekommen,  dieGötter  haben  auf  Unseren 
Ruf  geantwortet  und  nie  hat  eine  Bekundung  von  Loyalität  und 
Patriotismus  so  allgemein  bestanden. 

Mit  Thränen  in  den  Augen  haben  Wir  an  den  Altären  Unserer 
Vorfahren  den  Krieg  angekündigt.  Es  ist  besser.  Unser  Acusserstes 
zu  thun  und  den  Kampf  aufzunehmen,   als  Uns   nach  Mitteln   zur 
Selbsterhaltung   umzusehen,    was  ewige  Ungnade   nach  sich  ziehen 
würde.  Alle  Unsere  Beamten,  hoch   und  niedrig,   sind    von  einem 
Gedanken  beseelt  und  haben  ohne  officielle  Aufforderung  mehrere 
hunderttausend     patriotische     Soldaten     (Iping-Boxer)    zusammen- 
berufen. Sogar  Kinder  tragen  Speere  im  Dienste  des  Vaterlandes. 
Die  Anderen  verlassen  sich  auf  listige  Kniffe,  Wir  vertrauen  auf 
die   Gerechtigkeit   des  Himmels.    Diese   hängen   von   Gewalt,  Wir 
von  Humanität  ab-  Ganz  abgesehen  von  der  Berechtigung  Unserer 
,  Ursache,    zählen  Wir   20  Provinzen   mit   mehr  als  400,OIX).000  Be- 
\vohnern    und   es   wird   nicht   schwer  halten,   die   Würde  Unseres 
Xandes  zu  rächen.«  Das  Edict  schliesst  mit  der  Verheissung  grosser 
-Belohnungen  für  diejenigen,   welche   sich    in    den  Schlachten  aus- 
ÄDichnen  oder  Geldmittel  beisteuern,   und  der  Androhung  von  Be- 
strafungen derjenigen,  welche  sich  feig  zeigen  oderVerrath  üben. 
Hier    war  in    den   deutlichsten  Worten    das   Zusammengehen 
'  <ier  Regierung  mit  den  Boxern  und  die  formelle  Kriegserklärung 
Ausgesprochen,  was  gewisse  sinophile  Schwärmer  beherzigen  sollten. 
Das  EdicC  vom  2.  Juli  wendete   sich   gegen   die  Convertiten, 
"\iVelche  gegen  ihr  eigenes  Vaterland  an  Seite  der  Fremden  kämpften 
Und  deshalb  zu  tÖdten    wären:    die  Missionäre    sollten    vertrieben. 


3ao 

während  der  Reise  aber  beschützt  werden.  Hinsichtlich  der 
Chinesenchristen  wurde  verfügt,  dass  jene,  welche  abschwören 
und  zum  alten  Glauben  zurückkehren  wollten,  mit  Nachsicht 
wieder  aufgenommen  werden  könnten;  man  solle  sie  be- 
strafen, brauche  sie  aber  nicht  ganz  »todt  zu  machen«. 

Das  Edict  vom  6.  Juli  schärfte  den  Prinzen  und  den  Ministern, 
welche  Truppen  commandirten  und  den  Prinzen  wie  Ministern, 
welche  Boxer  anführen,  ein,  das  überhandnehmende  Räuber- 
unwesen energisch  zu  bekämpfen  und  jeden  in  flagranti  Ertappten 
sofort  hinrichten  zu  lassen. 

Das  Edict  vom  9.  Juli  brachte  die  Ernennung  Lihung-Tschang's 
zum  Vicekönig  von  Tschili  und  zum  Superintendenten  des  Handels 
im  Norden  —  das  erste  Zeichen,  dass  man  anfing,  an  der  Weis- 
heit der  Rathschläge  Tuan's  und  seines  Anhanges  leise  zu  zweifeln. 

Das  Edict  vom  12.  Juli  enthielt  den  Tadel  für  General  Nieh- 
Schih-Tscheng,  der  trotz  seiner  Bestrebungen,  Gutes  zu  leisten, 
viele  Irrthümer  begangen  hätte,  deswegen  seines  Ranges  ent- 
kleidet, jedoch  im  Commando  belassen  wurde. 

Das  Edict  vom  15.  Juli  musste  besonders  den  Beamten  des 
Yamens  in  diesem  heissen  Hochsommer  unangenehm  fallen,  denn  es 
enthielt  die  Drohung,  dass  diejenigen,  welche  in  solchen  Zeiten,  wie 
leider  mehrmals  vorgekommen,  ohne  genügenden  Grund  Urlaub  ver- 
langten, zu  degradiren  wären ;  ansonst  verordnete  es,  bei  aller  Aner- 
kennung des  Patriotismus  der  echten  Boxer,  die  Bekämpfung  aller 
unter  diesem  Namen  auftretenden  Räuber  und  Bedränger  des  Volkes. 

Einen  vollen  Einblick  in  den  Umschwung  der  Ideen,  welchen 
das  Scheitern  des  ganzen  Complotes  gegen  die  Fremden  ver- 
ursacht hatte,  gewährte  das  Edict  vom  18.  Juli,  dessen  Wortlaut 
zu  dem  des  vor  kaum  vier  Wochen  erlassenen  wohl  im  schärfsten 
Gegensatz  steht  und  gleichzeitig  erkennen  lässt,  wie  bewandert 
die  chinesischen  Staatsmänner  in  der  Kunst  des  Vergessens  und 
des  leichten  Weggehens  über  fatale  Thatsachen  sind. 

»Die  gegenwärtigen  Feindseligkeiten  zwischen  Chinesen  und 
Fremden  sind  ursprünglich  aus  einer  Differenz  zwischen  dem  Volke 
und  den  Christen  entstanden.  Als  die  Taku-Forts  genommen  wurden, 
konnten  Wir  nur  in  den  Krieg  eintreten.  Nichtsdestoweniger  ist  die 
Regierung  nicht  willens,  leichtsinnig  die  freundlichen  Beziehungen 
abzubrechen,  die  vordem  bestanden  haben. 

Wir  haben  zu  wiederholtenmalen  Edicte  zum  Schutze  der 
Minister  der  verschiedenen  Länder  ausgegeben  und  verlangt,  dass 
der  Schutz  auf  die  Missionäre  der  verschiedenen  Länder  au*" 
gedehnt  werde. 


Der  Kampf  ist  noch  nicht  allgemein  geworden. 

Esexistireii  in  Unseren  Reichen  viele  Kauf  leute  verschiedener 
Länder;  sie  Alle  sollten  gleicherweise  beschützt  werden. 

Es  wird  hiemit  anbefohlen,  dass  alle  Generale  und  Gouverneure 
sorgfaltig  erheben,  wo  Kaufleute  und  Missionäre  leben,  und  sie  in 
Gemässheit  der  früheren  Verträge,  ohne  sich  eine  Sorglosigkeit  zu 
Schulden  kommen  zu  lassen,  beschützen.  Im  letzten  Monat  wurde 
der  Kanzler  der  japanischen  Gesandtschaft  getÖdtet;  dies  kam  in 
der  That  ganz  unerxvartet.  Bevor  diese  Angelegenheit  noch  er- 
ledigt war.  wurde  der  deutsche  Minister  getÖdtet.  Der  plötzliche 
Eintritt  dieser  .AfFaire'  verursachte  Uns  tiefen  Kummer.  Wir 
sollten  nachdrücklich  nach  dem  Morder  suchen  und  ihn  bestrafen. 

Abgesehen  von  den  Kämpfen  in  Tientsin,  sollten  das  Departe- 
ment der  Hauptstadt  und  der  Generalgouverneur  dieser  Provinz 
ihren  unterstehenden  Functionären  befehlen,  dass  sie  erheben, 
welche  Fremden  ohne  Ursache  getÖdtet  und  welches  Eigenthum 
zer.stört  worden,  und  dies  anzeigen,  damit  Alles  zusammen  erledigt 
(gutgemacht)  werden  möge. 

Die  Vagabunden,  welche  in  diesen  vielen  Tagen  Häuser  ver- 
brannten, das  Volk  beraubten  und  tödteten,  haben  einen  chaoti- 
schen Zustand  herbeigeführt.  Es  wird  hiemit  anbefohlen,  dass  die 
Generalgouverneure.  Statthalter  und  hohen  Miütärfunctionäre  sich 
Klarheit  von  den  Umständen  verschaEFen  und  vereinigen,  um  aus 
der  Verwirrung  wieder  zu  Ordnung  und  Ruhe  zurückzuführen 
und  die  Ursache  der  Störung  ausrotten. 

Man  veranlasse,  dass  alle  Stellen  dieses  allgemeine  Edict 
kennen  lernen!- 

Nebst  diesen  Edicten  veröfTentlichle  die  »Pekinger  Zeitung* 
auch  Berichte  des  Vicekönigs  Yülü  über  die  Kämpfe  in  Tientsin. 
die  aber  nur  bis  zum  26.  Juni  reichten  und  Wahrheit  mit  Dichtung 
öfters  verwechselten,  wie  wir  später  ersahen;  in  einem  solchen 
Rapporte  führte  der  VicekÖnig  auch  an,  dass  ihm  ein  körperlich 
und  auch  geistig  recht  fähiger  Häuptling  5000  Boxer  zugeführt 
und  er  Waffen,  Munition  und  Lebensmittel  an   sie  vertheilt  habe. 

Sehr  interessant  las  sich  ein  Memorandum  Yuanschikkai's.  um 
2U  motiviren,  warum  er  keine  Streitkräfte  für  die  gute  Sache  nach 
Tschili  sendete;  er  habe  nur  7000  Mann,  die  kaum  zur  Bewachung 
der  Grenzen  und  der  Seehäfen  seiner  Provinz  (Schantung)  aus- 
reichten, und  solange  man  ihm  nicht  Gelegenheit  gebe,  mehr 
Truppen  anzuwerben,  vermöge  er  weder  nach  Tientsin  noch  nach 
Peking  Contingente  zu  schicken.  Ob  diese  Begründung  seitens  der 

■ttHiiilillilÜii 


332 

wohl  gleichgiltig  sein,  aber  dass  Yuanschikkai  nach  diesem  Berichte 
gewiss  sich  enthalten  werde,  activ  einzugreifen,  stand  fest. 

Der  ausgesendete  Chinese,  welcher  die  Zeitungen  gebracht 
hatte,  ergänzte  das  Gedruckte  durch  Mittheilungen  über  das  Stadt- 
gespräch. Danach  hätte  Tung-Fuhsiang  mit  der  Hälfte  seiner 
Truppen  den  Fremden  entgegengehen  sollen,  sei  aber  nach  Süd- 
westen geflohen  (!);  die  Verluste  der  Chinesen  in  Peking  betrügen 
schon  3000 — 4000  Mann  und  den  ganzen  Tag  nach  dem  g^rossen 
Angriff  auf  die  französische  Legation  habe  man  20  Karren  mit 
der  WegschaflFung  der  bei  dieser  Gelegenheit  Gefallenen  beschäftigt 

Mochten  die  zuletzt  angeführten  Daten  auch  durch  Klatsch 
übertrieben  worden  sein,  so  passten  sie  doch  recht  gut  in  das 
Gesammtbild,  welches  man  sich  aus  den  übrigen  Informationen 
zusammenstellen  konnte.  Dieses  sah  denn  auch  viel  lichter  aus 
als  jenes,  welches  einige  Pessimisten  in  der  englischen  Gesandt- 
schaft nach  dem  Eintreffen  des  widerspruchsvollen  und  unhöf- 
lichen Briefes  von  Prinz  Tsching  und  Genossen  entwerfen  zu  müssen 
geglaubt  hatten. 

Gewiss  stand  trotz  des  kaiserlichen  Edictes  vom  18.  Juli  noch 
einige  Zeit  der  Prüfung  bevor,  ehe  der  von  der  chinesischen 
Regierung  ersehnte  Zustand  der  Ruhe  und  Ordnung  wiederkehren 
würde,  aber  die  Sache  verhielt  sich  doch  ganz  anders,  seitdem 
der  Hof  für  gut  befunden  hatte,  an  eine  Gutmachung  des  ent- 
standenen Schadens  zu  denken;  von  diesem  Augenblicke  an  hatten 
die  klügeren,  zumeist  auf  ihren  eigenen  Vortheil  bedachten  Elemente 
der  Bevölkerung  einen  guten  Grund,  sich  nicht  mehr  in  dem,  was 
ein  Monat  vorher  als  Patriotismus  gegolten,  hervorzuthun  und 
ohne  Aussicht  auf  Belohnung  zu  exponiren. 

Was  Peking  anbelangte,  bedurfte  es  keines  hervorragenden 
Seherblickes,  um  in  grossen  Zügen  die  nächste  Zukunft  zu  er- 
gründen: die  Mächte  würden  Alles  aufbieten,  um  in  der  Haupt- 
stadt einzuziehen  und  erst  dort  den  Frieden  zu  dictiren  —  die 
(Chinesen  hinwieder  würden  eine  Besetzung  Pekings  durch  mehr 
oder  weniger  energischen  Widerstand  auf  der  einzigen  prakti- 
kablen Anmarschlinie  zu  verhindern  trachten,  doch  konnte  der 
endliche  Ausgang  nicht  zweifelhaft  sein.  Die  einzige  Frage  betraf 
den  Schlussact,  die  Einnahme  der  Hauptstadt  selbst;  würden  die 
im  Felde  geschlagenen  chinesischen  Truppen  sich  nicht  in  die 
Hauptstadt  zurückziehen,  vereint  mit  deren  Garnison  und  dem 
Pöbel  in  wilder  Verzweiflung  darüber,  dass  Alles  verloren,  wenig- 
stens an  uns  Eingeschlossenen  ihre  Wuth  auslassen  und  endlich 
das    schon  mehreremalc    angekündigte  Massacre  verüben?    Klein- 


müthige  warfen  diese  Frage  zuerst  auf  und  maskirten  sie  mit  der 
steten,  jedoch  überflüssigen  Betonung,  dass  man  den  Waffanstitl- 
stand  nicht  intensiv  genug  zur  Verstärkung  der  Stellungen 
nützen  könne,  um  den  'Coup  de  chien«  zu  pariren;  aber  wer  die 
Geschichte  Chinas  in  den  letzten  40  Jahren  nur  oberSächltcIi 
kannte  und  das  Verhalten  unserer  Angreifer  in  dem  ersieii 
Monat  der  Belagerung  nur  halbwegs  aufmerksam  verfolgt  hatte, 
der  rausste  sich  dach  sagen,  dass  für  chinesische  Truppen  der 
Augenblick  des  vollen  Rückzuges  nicht  derjenige  sein  könne,  wo 
sie  eine  Energie  auftreiben  würden,  die  sie  eu  den  ihrer  Sache 
günstigsten  Zeiten  nie  zu  entwickeln  im  Stande  gewesen  waren. 
Dass  es  trotz  Wassermelonen,  Gurken  und  schönen  Briefen  noch 
zu  ernsten  Angriffen  kommen  werde,  sahen  wir  freilich  vontus. 
für  alle  jene,  welche  über  Schanzen  bauen,  Feuerlöschen  und  -Scbürcai 
Schiessen,  Maulthierfleisch  und  schlaflosen  Nächten  doch  nicht  die 
Gelegenheit  versäumt  hatten,  sich  ein  eigenes  Unheil  über  Taktik 
und  Volkscharakter  der  Chinesen  zu  bilden,  für  diese  Autodidakten 
und  die  sich  abseits  hallenden  wirklichen  Kenner  Chinas  war  es 
eine  ausgemachte  Sache,  dass  uns  nicht  ein  gewaltsamer,  zu  eigenen 
Opfern  bereiter  offener  Angriff  der  Chinesen  mit  der  blanken 
Waffe  erwartete,  sondern  höchstens  die  Verpflegs-,  also  Zeitfragb 
Gefahr  bringen  könnte.  Darin  hingen  wir  nun  froilicli  ganz  voß 
den  Entschlüssen  ab,  die  die  Führer  des  Entsatz-Corps  zu  fattü' 
für  gut  finden  und  alle  dringenden  Ersuchen  der  Belagerten 
Beschleunigung  der  Action  nicht  wesentlich  ändern  würden  — • 
dass  das  ungeduldige  Warten  gerade  nicht  zu  Aeusserungen  düK 
Bewunderung  der  Schnelligkeit  von  unseren  Befreiem  hlnrial^ 
darf  man  wohl  nicht  weiter  übelnehmen. 

Den  Chinesen  uns  gegenüber  schien  indessen,  trotzdem  aifi 
nach  den  vielen,  auf  rege  Arbeit  hindeutenden  Anzeichen  dodl 
genügend  beschäftigt  waren,  sich  so  bequem  als  möglich  einza- 
richten,  die  Zeit  etwas  lang  geworden  zu  sein  und  i^choa  an 
21.  Juli  nachmittags  fielen  wieder  die  ersten  scharfen  Scbüase, 
glücklicherweise  ohne  Harm  zu  thun ;  am  folgenden  Morgen  sclios» 
ein  Posten  —  zu  unserer  grössten  Freude  ohne  zu  treffen  —  auf 
Veroudart.  der  unter  der  weissen  Flagge  nach  den  versprochenW' 
Leichen  der  beiden  Verschütteten  gefragt  hatte.  Trotz  wiedBP- 
hoher  Abmahnung  gruben  sie  an  dem  Laufgraben  westlich  dtil' 
Ministerhauses  und  Darcy  streckte  mit  einem  Meisterschuss  uioSB' 
arbeitenden  Mann  nieder,  dessen  Kopf  allein  ab  und  zu  »icbttu^ 
wurde.  Die  Chinesen  nahmen  hievon  gar  keine  weitere  Noüz,  ol 
war  es  nur  ein  gedungener  Kuli  gewesen  und  deren  konnten 


336 

noch   ungezählte   opfern,   thatens   ferner  auch  ohne  Rücksicht  auf 
Waffenstillstand. 

Unsere  Arbeit,  den  Canal  in  der  Legationsstrasse  anzustechen 
und  als  Horchgrube  zu  benützen,  war  vollendet,  doch  war  nichts 
zu  hören;  die  Gräberei  drüben  kam  uns  allen  nicht  geheuer  vor. 
aber  Bouillard,  Bartholin  und  Mathieu  waren  als  Sachverständige 
einig,  dass  die  Entfernung  von  35  Metern  doch  etwas  zu  gross  sei, 
als  dass  man  auf  einen  Minengang  rechnen  müsste.  Nach  ihrer 
Ansicht  wären  in  diesem  Falle  schon  Vorrichtungen  für  künstliche 
Ventilation  und  ziemlich  umfangreiche  Verzimmerungen  nothwendig 
gewesen ;  nun  ich  nahm  mir  vor,  die  Sache  weiter  zu  überlegen  und 
einstweilen   unsere   bezopften   Nachbarn   schärfer   zu   beobachten. 

Nach  längerer  Zeit  hatte  den  Chinesen  scheinbar  doch  etwas 
gedämmert,  dass  das  Canalgitter  als  Ausgang  benützt  werden 
könnte,  und  sie  errichteten  in  der  Chinesenstadt  jenseits  des  die 
Stadtmauer  umgebenden  Grabens  eine  starke  Deckung,  von  der 
aus  sie  den  Durchschlupf  bewachten  und  beschossen.  Ein  Bote, 
den  der  japanische  Gesandte  Baron  Nischi  am  Morgen  ausge- 
sendet hatte,  kam  aber  trotzdem  durch;  Baron  Nischi  besuchte 
uns  nachmittags  und  theilte  uns  mit,  dass  einer  der  soldatischen 
Eierhändler,  mit  denen  Shiba  schon  öfters  gesprochen,  heute  end- 
lich sein  Versprechen,  Nachrichten  zu  liefern,  eingelöst  und  gegen 
25  Dollars  Entlohnung  erzählt  habe,  dass  die  Entsatztruppen  schon 
am  20.  Juli  in  Yangtsun  gewesen  seien.  »Trotzdem  habe  ich  an 
unseren  General  die  Aufforderung  gerichtet,  den  Vormarsch  zu 
beschleunigen«,  schloss  unser  Besuch  seine  Rede;  das  war  doch 
eine  frohe  Botschaft  —  die  Befreiungscolonne  nicht  einmal  mehr 
100  Kilometer  von  uns! 

Während  des  Waffenstillstandes  fand  ich  Zeit,  fast  täglich 
nach  »England«  zu  gehen,  um  nach  unseren  Verwundeten  zu  sehen, 
am  Glockenthurm  Neuigkeiten  zu  lesen  und  —  einen  Trunk  frischen 
Wassers  zu  thun,  denn  der  dortige  Brunnen  war  einer  der  wenigen, 
wo  man  solches  ohne  Schaden  für  die  Gesundheit  riskiren  konnte. 
Die  nächste  Umgebung  der  Gesandtschaft  an  der  Canalseite  durch- 
lief jeder,  so  schnell  ihn  seine  Beine  trugen,  denn  sie  diente  als 
Ablagerungsstätte  für  Kehricht  und  Abfalle,  wo  es  trotz  mehr- 
maliger Reinigung  des  Platzes  durch  Verbrennen  all  des  Zeuges 
doch  immer  widerlicher  roch;  innerhalb  der  Mauern  hingegen 
herrschte  dank  den  Bemühungen  der  verschiedenen  Comit^s  ein 
(xrad  systematischer  Ordnung  und '  Nettigkeit,  der  bei  dem  von 
einem  vorgeschobenen  Posten  Kommenden  immer  den  Eindruck 
hervorrief,  wie  der  Uebergang  von  unwirthlichem  Gebirge  in  öt** 


irg^griWnrr  uiil*>irdiKl»r  Cinil 


338 

Stadt.    Eine  solche  war's   ja  auch  im  Kleinen,    die  Eintheilung  in 
Viertel  ersetzt  durch  eine  solche  nach  Nationen,  deren  jede  aller- 
dings   nur    ein  Haus  zugewiesen    hatte,    Tafeln    und    Aufschriften 
überall,  alle  Stände  und  Berufsarten  vertreten,  gemischt  und  doch 
wieder  gesondert,   wie  es  ja  in  jeder  Stadt  zu  gehen  pflegt;  hier 
concentrirte  sich  Alles  oder  wenigstens  suchten  die  Einwohner  so 
zu  thun.  Bei  der  Uebervölkerung  waren  manche  Familienbande  zer- 
schnitten, Frauen  und  Kinder  von  den  in  anderen  Stuben  zusammen- 
gedrängten Gatten  und  Vätern  getrennt  worden ;  natürlich  strebte 
dann  Alles,  sich  im  Freien  zusammenzufinden ;    die  Zimmer,  deren 
Fenster  mit  Erdsäcken  verrammelt  waren,  hielten  Niemanden  länger 
als    unumgänglich    nothwendig    zurück,    war    die    Zahl    ihrer  Be- 
wohner doch  schon  mindestens  auf  das  Fünf-    bis  Sechsfache  des 
Normalen  gestiegen.     Und  welcher  Luxus   wurde  dort  getrieben; 
fast  alle   diese   glücklichen  Besitzenden    verfügten    über    mehrere 
Anzüge,  Wäsche  und  Schuhe,    mehr    als    ausreichend    für  regel- 
mässigen Wechsel  und  Sonntagsstaat;  da  gab's  Bücher,  bequeme 
Stühle,    Fächer   und   so  viel  Anderes,    das    uns    als  Inbegriff  des 
Comforts   erschien  —   freilich   auch    schon   abgenützt,   abgegriffen 
und    mehrfach    nachgebessert,    aber    trotzdem    ein    Ueberfluss!  — 
Der  erste  Gang  galt  stets  den  Verwundeten ;  in  Boyneburg's  blasse 
Wangen  begannen,  nachdem  er  eine  schwere  Operation  überstanden, 
Jugendkraft  und   die   kräftigen  Gerichte,   mit   denen   Mrs.  Squiers 
die  Insassen  der  Officiersabtheilung  zu  überraschen  pflegte,  wieder 
einen  Schimmer  von  Röthe  zu  treiben,  der  einäugige  Triscoli  ver- 
fehlte nie,    mir  für  seine  Kameraden  Grüsse  und    die  Empfehlung 
aufzutragen,  sie  möchten  nur  ja  gut  schiessen,  und  vergass  darüber 
die  Sorge  um  eine  Zukunft  als  Invalide.  Der  baumlange  Baöic  ver- 
mochte bald  wieder,    wenn  auch    noch  auf   einen  Stock    gebückt, 
herumzukriechen  und  freute  sich  wie  ein  Kind,  wenn  ich  ihm  nach 
Rücksprache    mit  Dr.  Velde    sagen    durfte,    dass  er    gewiss  noch 
öfter  Kolo  tanzen  werde !     Dr.  Velde,    der  meistbeschäftigte,  auf- 
opferndste Arzt,    war  aber  auch  ein  Hort  der  Zuversicht  für  alle 
seine  Patienten,    denen  er   wie   ein   alter  Freund   in    allen  Dingen 
an  die  Hand  ging ;  trotz  aufreibender  Thätigkeit  in  seinem  Beruf 
fand  er   doch   noch  Zeit,    sich   über  Alles  auf  dem  Laufenden  2^ 
erhalten,  und  seine  gleichmässig  heitere,  ruhige  Art  Hess  ihn  ttiit 
wenigen  Worten    die  Ereignisse  stets  so   richtig  und   treffend  be- 
urtheilen,  als  stünde  seine  eigene  Person  dabei  nicht  im  Geringsten 
mit  auf  dem  Spiele. 

Sein  Geist  durchzog  das  ganze,  dem  Samariterthum  geweihte 
Haus,    die    Krankenschwestern,    Missionärinnen   und    die   1 


welche  ohne  anderen  Anreiz,  als   das  Bedürfniss  mitzuhelfen,    das 
I      schwere  Amt  zu  pflegen  und   zu   trösten  auf  sich  genommen  hatten, 
I      waren  seinem  Vorbild  gefolgt  und  leisteten  still  wie  er  die  segens- 
I      reichsten  Dienste;  viel  Leid  und  Elend  gab's  zu  lindern  und  wenn 
auch  so  mancher  Todwunde  trotz    aller  Pflege  dahinschied,  so  er- 
lahmten   diese   gütigen  Hände    doch  keinen  Augenblick,    so    viele 
Andere    verdanken    ihnen    wiedererlangte  Kraft   und    Gesundheit. 
'      Frau  und  Fräulein  von  Giers,   Miss  Myer,  Miss  Brazier  und  einige 
'      japanische  Damen  waren  wie  Mrs.  Squiers   fast  beständig  im  und 
um  das  Hospital,  das,  glücklicherweise  durch  seine  Lage  und  einige 
mächtige  Bäume  geschützt,  von  feindlichen  Geschossen   fast   ganz 
unberührt  blieb.*) 

Draussen  herrschte  reges  Leben.  Kinder  spielten  an  den  ge- 
schützten Plätzen,  unbekümmert  um  die  Sorgen  der  Erwachsenen, 
aber  ihren  bleichen,  eingefallenen  Wangen  sah  man  nur  zu  deutlich 
die  Einengung,  den  Mangel  an  frischer  Nahrung  und   schliesslich, 
I      wie    die    von   Mosquitostichen    herrührenden    Beulen    andeuteten, 
auch  den  Mangel  an  ungestörtem  Schlaf  an,  das  Opfer  der  Fliegen- 
netze  zu  Gunsten  der  Verwundeten   war  ihr  thätiger  Beitrag  zum 
allgemeinen  Werke;  die  Erwachsenen  gingen  ihren  Pflichten  oder 
I      solche,    welche    keine  besonderen    hatten,    ihren  kleinen,  selbstge- 
I      wählten  Beschäftigungen    nach.  Skizzen-  und  Tagebücher  blühten 
I      bei  der  nun  eingetretenen  Stille  und  ein  reger  Meinungsaustausch 
leg^e    den  Grundstein    zu    dem    mitunter    phantastischen    Gebäude 
mündlicher  Ueberlieferung,  dessen  ungreifbare  Grundlagen  gleich- 
wohl   manchem    späteren    Ansturm    mit    dem    Widder    erwiesener 
Thatsachen  so  zähe  standhielten. 

Dort,  zwischen  dem  Glockenthurm  und  der  von  Junggesellen 
bewohnten  Tingah,**)   dem  Vorhof  zum   eigentlichen  Ministerhaus, 
'    War  für  Beobachter  der   lohnendste  Platz,  dort   wurde  Alles    zum 
Heiligthum  Sir  Claude's  Gehende  oder  von  ihm  Kommende  über- 
hört und  commentirt,  dort  gaben  trotz  der  Nähe  des  censurirenden, 
Unter  Vorsitz  des  Reverend   Tewksbury    tagenden    »general  com- 
I  mittee«    die  aus  eigener  Machtvollkommenheit    emporgewachsenen 
s^Vortführer  die  Parole  aus,  nicht  wie  das  oder  jenes  werden  sollte, 
|sondern  wie  jenes  und  dieses  sich  zugetragen   haben    musste.  Die 
;  im  Thurra,  die  son.'^t   nur  bei  Feuersgefahr    oder    um   alle 
Reserven  auf  den  Kampfplatz    zu    berufen  ertönt    halte,    schwieg 
Btzt   längere  Zeit;    dafür    war    man    auf   den   wahrlich  guten  Ge- 
♦)  So  »icl  mir  bekanul,    schlugen    nur   swei  Gewehrprojoctile    in   der  Nacht  vom 
''«f  den  13.  August  in  etu  glücklicher  weise  eben  leet  steheades  Zimmer  eiu- 
>  deit  Seilen  olTenE   ^uleahalle. 

22« 


340 

danken  gekommen,  in  der  Abendkühle  internationale  Vocalconcerte 
zu  improvisiren,  in  denen  Mme.  Pokotilow  als  unerreichbarer  Star 
brillirte,  doch  wiederholten  sich  diese  aufheiternden  Vereinigungen 
nur  wenigemale  und  kenne  ich  sie  nur  aus  den  Erzählungen  meiner 
Freunde.  Erst  zu  jener  Zeit  lernten  wir  eine  weitere  Landsmännin, 
Fräulein  Bergauer,  kennen,  die,  ursprünglich  dem  Hauswesen  der 
Baronin  Anthouard  vorstehend,  sich  ebenfalls  in  die  englische  Ge- 
sandtschaft hatte  zurückziehen  müssen  und  nun  in  dem  kleinen 
Hause,  das  den  französischen  Familien  eingeräumt  w^orden  war, 
ihre  stille,  fürsorgliche  Thätigkeit  fortsetzte. 

Zu  welcher  Stunde  immer  man  kommen  wollte,  war  man  doch 
sicher,  den  Reverend  Gamewell,  der  sich  bei  den  Befestigungs- 
arbeiten als  Genie  erwiesen  hatte,  alsbald  auf  seinem  Rad  einher- 
sausen  zu  sehen,  gleich  darauf  verschwand  er  wieder,  von  einigen 
mit  Werkzeugen  beladenen  Kulis  gefolgt;  die  spätere  Nachmit- 
tagsstunde gehörte  dem  »Commissariat«,  d.  i.  Captain  Wray  und 
Mr.  Brazier,  die  in  einem  Zelte  Rationen  vertheilten,  wobei  es 
trotz  besten  Willens  natürlich  nicht  ohne  unberücksichtigte  Wünsche 
und  Beschwerden  abging. 

Der  grosse  Tennisplatz  in  der  Mitte  des  ganzen  Complexes 
wurde  auch  in  diesen  stilleren  Tagen  nicht  mehr  betreten,  denn 
dorthin  hatten  sich  früher  mehr  Chinesenkugeln  verirrt,  als  gerade 
wünschenswerth  —  er  blieb  gemieden  und  verödet,  hingegen  ent- 
wickelte sich  an  der  Westseite  ein  ganz  regelrechter  Corso,  wo 
neben  ernsten  Discussionen  über  Chinesen,  Entsatz  und  Politik  im 
Allgemeinen  auch  unschuldiger  Flirt  der  jungen  Leute  nicht 
fehlte ;  wie  hätten  denn  auch  die  langen  Tage  und  Wochen  sonst 
verbracht  werden  sollen ! 

Sobald  die  Feuerschlünde  zu  schweigen  begonnen,  hatte  der 
Wunsch,  die  denkwürdige  Episode  in  Erz  zu  verewigen,  einige 
künstlerisch  veranlagte  Personen  veranlasst,  mehrere  Entwürfe  zu 
einer  internationalen  Erinnerungs-Medaille  zu  zeichnen,  so  dass  auch 
die  bildende  Kunst  zu  ihrem  Rechte  kam;  leider  konnte  sich  die 
Jury  über  das  Spectrum  des  Bandes  nicht  einigen! 

Aber  auch  unverbesserliche  Geschäftsleute  gab's  da  drüben, 
die  nicht  umsonst  vorsichtig  gewesen  sein  wollten;  ein  Schwein 
wurde  um  150  Taöls  und  eine  Schachtel  Cigaretten  um  22  Dollars 
verhandelt  und  um  Wetten  einzugehen,  boten  diese  2^iten  doch 
die  schönste  Gelegenheit. 

Stets  traf  man  dort  wieder  Jemanden,  den  man  in  der  Nacht 
auf  einer  Barricade  oder  bei  einer  sonstigen  Unternehmung  Uö 
weit  zurückliegenden  Juni  vielleicht  kennen  gelernt,  aber  v* 


341 

dieser  gerne  wiedergefundenen  Bekannten  trugen  einen  Arm  in 
der  Binde  oder,  was  noch  häufiger,  einen  Verband  um  den  Kopf, 
aus  dem  ein  Paar  tiefliegender  Augen  von  eben  überstandenem 
Leiden  sprach,  noch  immer  besser,  als  seinen  Namen  von  einem 
der  unscheinbaren  Kreuze  auf  dem  kleinen  Friedhof  im  südlichsten 
Hofe  ablesen  zu  müssen! 

Baronin  Ketteier  sah  ich  einigemale  dort,  begleitet  von 
Mrs.  Squiers  suchte  sie  den  einsamen  Winkel  gerne  auf;  für  sie  war 
die  um  den  20.  Juli  erfolgte  Mittheilung,  dass  das  Yamen  den 
Leichnam  des  deutschen  Gesandten  in  einem  Sarge  an  einem  sicheren 
Ort  habe  verwahren  lassen,  nur  die  grausame  Zerstörung  der  mit 
einem  Wunderglauben  festgehaltenen  Hofi"nung  gewesen,  ihr  Ge- 
mahl sei  nur  schwer  verwundet,  doch  noch  am  Leben.  Solcher 
treuer  Zuversicht  ist  doch  nur  das  Herz  eines  Weibes  fähig  — 
beugen  wir  uns  bewundernd  vor  ihr! 

Einige  Tage  hindurch  war  man  um  das  Schicksal  des  geistes- 
gestörten, norwegischen  Missionärs  Noestigaard  sehr  besorgt  ge- 
wesen, der  sich  über  die  Linien  der  Fremden  hinausgeschlichen 
hatte ;  über  schriftliche  Anfrage  bei  Yunglu  wurde  er  am  29.  Juli 
von  den  Chinesen  wieder  heil  ausgeliefert.  Diese,  wie  die  meisten 
Orientalen,  sind  gewohnt,  einen  Irrsinnigen  als  ein  von  Geistern 
beeinflusstes  Wesen  zu  respectiren,  mochten  es  aber  mit  der  Zeit 
nicht  ganz  bequem  gefunden  haben,  den  Unglücklichen  in  ihrer 
Mitte  zu  erhalten,  da  seine  Krankheit  sich  in  Streitsucht  äusserte; 
ob  sie  durch  Noestigaard,  der  chinesisch  vollkommen  sprach,  irgend 
welche  Aufschlüsse  über  unsere  Situation  bekommen  haben,  steht 
dahin,  doch  spricht  einige  Wahrscheinlichkeit  dafür.  Seine  spätere 
Ueberwachung,  um  ihn  von  einem  neuerlichen  Fluchtversuch  ab- 
zuhalten, war  keine  kleine  Aufgabe. 

Mehr  Erholung  als  die  Gänge  in  die  englische  Gesandtschaft, 
wo  sich  trotz  äusserer  Ordnung  und  bunteren  Lebens  doch  fühlbar 
im  »Räume  hart  die  Gegensätze  stiessen«,  ja  vielmehr  die  einzige 
wirkliche  Erholung   gewährten   die  Besuche   bei   unseren   liebens- 
würdigen Nachbarn  in  »Deutschland«.  Die  meiste  Dienerschaft  war 
dort  treu  geblieben  und  so  konnten  die  Herren,  vor  Allem  Bergen 
als  sorgsame  Hausmutter,  das  einzige  halbwegs  von  Geschützfeuer 
verschont  gebliebene  Ministerhaus   und   ein   kleines  Stück  Garten 
tadellos  wohnlich  und  in  gutem  Stande  erhalten.  Der  herzlich  ge- 
botenen Gastfreundschaft  verdankten  wir  so  manche  in  sympathi- 
schem   Gedankenaustausch    verflogene    fröhliche    Stunde    und    auf 
dem    kleinen    Rasenplatz    im    Schatten    eines    mächtigen    Baumes 
fühlte  man  sich  trotz  des  Ausblickes  auf  die  nahe  Stadtmauer  bei- 


342 

nahe  so  frisch  wie  in  einem  heimatlichen  Walde.  Die  Wohlthat 
dieses  klimatischen  Curortes  en  miniature  äusserte  sich  am  besten 
in  der  Genesung  des  der  Erschöpfung  nahe  gewesenen  Kindes 
eines  französischen  Eisenbahn-Ingenieurs,  der  mit  seiner  Familie 
bei  Chamot  einen  Unterschlupf  gefunden  hatte;  Herr  von  Below 
hatte  der  verzweifelnden  Mutter  die  Benützung  des  Gartens  an- 
getragen und  seither  erholte  sich  die  blasse  Kleine  zusehends. 

Auch  die  Boten  von  Prinz  Tsching  und  Genossen,  alias  Yunglu 
oder  Yamen  fühlten  sich  jedesmal  erleichtert,  wenn  sie  glücklich 
bei  den  deutschen  Posten  hereingelassen  worden  waren,  und  er- 
zählten dann  gerne  Dr.  Merklinghans  kleine  Neuigkeiten,  die  uns 
dieser  wieder  frisch  zum  Besten  gab;  viel  Abwechslung  brachten 
sie  zwar  nicht,  diese  Sendlinge  der  Häupter  Chinas,  denn  meistens 
wussten  sie  nur  zu  sagen,  wie  gefährlich  ihr  Weg  aus  dem  Yamen 
her  gewesen  und  wie  rohe,  ungebildete  Gesellen  die  Boxer  und 
der  grösste  Theil  der  Truppen  doch  wären,  die  nicht  einmal  ihr 
Amtskleid  respectiren  und  sogar  vom  Yamen  selber  nichts  wissen 
wollten. 

In  diesen  ruhigeren  Zeiten  hatten  auch  wir  in  der  franzosi- 
schen Gesandtschaft  vielerlei  Besuch;  man  kam  sich  die  Ver- 
wüstungen, die  nirgends  so  arg  wie  bei  uns  waren,  anzusehen  und 
von  den  vielen  bewundernden  und  unsere  Lage  bedauernden 
Stimmen  könnte  ich  manche  charakteristische  Aussprüche  von 
Personen  aller  Stände,  darunter  auch  gerade  englischen  Officieren 
anführen,  will  mich  aber  nur  auf  den  Ausruf  einiger  amerikani- 
scher Soldaten  beschränken,  die  rundweg  erklärten:  »Dachten 
bisher  immer,  unser  Platz  sei  bös  genug,  aber  der  hier  ist  die 
Hölle»  —  die  zugehörige  Würze  von  »verdammt«  und  »blutig«  ab- 
gezogen. Einer  unserer  häufigsten  Besucher  war  der  spanische 
Minister,  dessen  persönliche  Würde  unter  den  Entbehrungen  erst 
recht  zur  Geltung  kam;  stets  zuversichtlich  und  energisch  konnte 
er  die  Aengstlichkeit  mancher  Leute  nicht  begreifen  und  benützte 
die  vielen  Mussestunden,  um  eine  »valse  de  boxeurs«  zu  componiren, 
deren  Erstaufführung  vor  dem  musikalischen  RichtercoUegium 
Frau  von  Rosthorn,  Below  und  Bergen  in  der  deutschen  Gesandt- 
schaft einen  vollen  Erfolg  erzielte.  Dass  M.  Pichon  nun  noch  öfter 
auf  seinen  Boden  herüberkam,  als  zur  Zeit,  wo  er  jedesmal  dem 
Kugelregen  trotzte,  versteht  sich  von  selbst;  dankbar  gedenken 
wir  seiner  stets  gleichen  Liebenswürdigkeit  und  Bemühungen,  uns 
diese  oder  jene  kleine  Ueberraschung  zu  bereiten.  Einmal  entgifl? 
er,  in  der  Barricade  Chamot  stehend,  nur  um  ein  Haar  dem  Schicksal» 
von  einem' der  Sniper  getroffen  zu  werden. 


Mit  dem  officiellen  Chinesenthum  gab's  bis  zum  25.  Juli  nur 
feinen  belanglosen,  sehr  kurzen  Schriftwechsel  über  den  seit  Abgang 
mit  einem  Brief  an  Tsching  und  Genossen  ganz  verschwundenen 
Ex-Thürsteher  des  Nantang,  der  aber  von  ihnen  als  »noch  am 
Leben*  gemeldet  wurde. 

Den  23.  Juli  tagsüber  bauten  die  Chinesen  vom  Thorgebäude 
BUS  eine  neueBamcade  zu  den  Ministerhausem.  sowie  eine  weitere 
Im  Inneren  des  Hauses  Philippini  und  liesspn  sich  darin  auch  durch 
die  Schüsse  unserer  Posten,  welche  ein  paar  der  drüben  Arbeitenden 
tödteten,  nicht  weiter  stören,  hinderten  auch  uns  nicht,  eine  neue 
Barricade  vom  Hause  Anthouard  zur  Capelle  hinüber  zu  errichten 
und  den  Musikpavillon  mit  einer  Brustwehr  zu  versehen,  welche 
Stellung  die  Franzosen  besetzten.  An  Tagesneuigkeiten  war  das 
Gespräch  eines  chinesischen  Soldaten  mit  einem  der  russischen 
Dolmetsche  auf  der  Stadtmauer  und  ein  Brief  Yunglu's  an  M.  Pichon 
zu  verzeichnen.  Aus  dem  ersteren  ging  hervor,  dass  viel  Militär 
nach  Süden  abgezogen  sei,  was  mit  unserer  Beobachtung  nächt- 
licher Troropetensignale  ausserhalb  der  Stadtmauer  ziemlich  gut 
stimmte;  weniger  Glauben  fand  die  Angabe  desselben  Gewährs- 
mannes, dass  die  chinesische  Besatzung  des  Tschien-men  auf  4Ü  Mann 
reducirt  sei.  Der  Brief  an  den  französischen  Gesandten  behandelte 
das  Verschwinden  unseres  Boten  und  zeigte  an,  dass  die  Leichen 
Pesqueurs  und  Bougeards  nicht  gefunden  worden  seien;  auch  war 
daraus  zu  entnehmen,  dass  Tung-Fuhsiang  noch  immer  in  der  Stadt 
weilte,  da  sich  Yunglu  auf  ihn  berief. 

In  der  Nacht  gaben  die  chinesischen  Posten,  ob  aus  Furcht 
vor  Gespenstern  oder  Ueberfällen  unsererseits  oder  aus  beiden 
Ursachen,  wieder  einige  zwecklose  Schüsse  ab,  auch  blieben  sie 
ihrer  Gewohnheit,  mit  Steinwürfen  gegen  uns  zu  sondiren,  treu; 
vor  Mittemacht  konnte  man  .wieder  deutlich  Geschütz-  und  Gewehr- 
feuer gegen  das  Peitang  hören,  das  beste  Zeichen,  dass  die  von 
pna  getrennten  Leidensgefährten  noch  aushtelten. 

Gegen  Morgen  mussten  unsere  ehrenwerthen  Gegner  grosses 
Schlachtfest  abgehalten  haben,  denn  das  Geschrei  und  Grunzen 
in  Todesnöthen  schwebender  Schweine  drang  durch  die  Stille 
herüber  und  wir  Barbaren  hätten  nur  zu  gerne  einen  Theil  von 
den  Opfern  gehabt,  die  dort  verbluteten;  es  hat  aber  den  Anschein, 
dass  der  Massenmord  nur  deshalb  stattfand,  um  den  nach  dem 
Bericht  unserer  Spione  eben  aus  dem  Schansi  eingerückten  Truppen 
Li-Ping-Hengs  einen  Willkommenschmaus  zu  bieten. 

Sir  Claude  versandte    am  24.  Juli  morgens   an    die  Detache- 

S-Commandanten  ein  Circular,  dass  die  Garnison  Pekings  be- 


trächtlich  verstärkt  worden  und  daher  voraussichtlich  noch  am 
selben  oder  am  nächsten  Tage  ein  Angriff  zu  gewärtigen  sei. 
Der  freigebige  Volksmund  Hess  diesen  Zuwachs  aus   10.000  Mann 


und    20  Geschützen  bestehen,    gegen  Abend  waren   es   nur  l 
beiläufig  die  Hälfte.    Grosses  Aufsehen    erregte    ein  Brief  SliiJ*' 
an  den  englischen  Gesandten: 

■Heute  nachmittags  kam  ein  chinesischer  Soldat  lur  Barricw' 
■  und   thcUle    mit,    dass  Yangtsun    am    17.    Juli    von    den 


345 

Truppen  besetzt  wurde  und  am  19.  nächst  diesem  Orte  eine  Schlacht 
stattfand.  Circa  150  verwundete  Soldaten  Tung-Fuhsiang's  sind 
eben  heute  nach  Peking  gebracht  worden  und  die  fremden  Truppen 
befanden  sich  40  Li  (20  Kilometer)  herwärts  von  Yangtsun,  als 
jene  Verwundeten  aufbrachen.  Ich  hoffe,  diese  Nachricht  ist  wahr. 

Ein  anderer  Mann  sagt,  ungefähr  4800  chinesische  Soldaten 
mit  9  Geschützen  sind  heute  früh  beim  Tschang*Y-men  angekommen, 
man  nimmt  an,  dass  sie  uns  heute  nachts  überfallen.« 

Beruhten  die  Nachrichten  Shiba's  auf  Wahrheit,  so  kamen 
überhaupt  nur  mehr  die  zwei  Punkte  Tschang-tschia-wan  und 
Tung-tschau  auf  der  ganzen  Route  nach  Peking  in  Betracht,  wo 
die  Chinesen  ernsteren  Widerstand  leisten  konnten,  und  durfte 
man  den  Entsatz  binnen  vier  Tagen  vor  den  Thoren  anlangen  zu 
sehen  hoffen.  Gegenüber  dieser  Perspective  bedeutete  die  Ver- 
stärkung der  Reihen  unserer  Angreifer  wohl  nichts,  schlechtesten- 
falls  waren  letztere  dadurch  ebenso  stark  als  vor  dem  17.  Juli, 
denn  dass  seither  Truppen  aus  der  Stadt  gegen  Süden  dirigirt 
worden  waren,  unterlag  keinem  Zweifel;  also  wieder  ein  froher 
Tag,  für  uns  noch  umsomehr,  als  es  Herrn  Wihlfahrt  endlich  doch 
gelang,  definitiv  als  Freiwilliger  zu  uns  zu  kommen,  bei  denen  er 
bisher  den  weitaus  grössten  Theil  seiner  freien  Stunden  zugebracht 
hatte.  Sir  Claude  hatte  von  mir  für  alle  Fälle  einen  Geschütz- 
führer für  unsere  in  »England«  stehende  Mitrailleuse  gegen  Ersatz 
verlangt  und  da  fügte  sich's  ganz  gut,  dass  unser  braver  Lands- 
mann, auf  dessen  Dienste  man  in  der  englischen  Gesandtschaft 
nur  ungern  verzichtete,  den  erwünschten  Platz  in  unseren  Reihen 
erhielt.  Nun  hatten  wir  doch  auch  einen  mit  chinesischen  Dingen 
vertrauten  Oesterreicher  mehr  und  einen  kaltblütigen,  ausge- 
zeichneten Schützen  dazu! 

Bei  der  deutschen  Gesandtschaft,  wo  sich  die  Chinesen  seit 
dem  17.  absolut  ruhig  verhielten,  wurde  durch  die  Boten  des 
Yamens  bekannt,  dass  die  von  aussen  angekommenen  Truppen  that- 
sächlich  von  Li-Ping-Heng*)  hereingeführt  worden  sind ;  die  Person 
des  letzteren  passte  allerdings  nicht  zu  den  neueren  friedlichen 
Absichten  der  Regierung. 

Die  Nacht  zum  25.  Juli  brachte  zum  erstenmale  wieder 
einiges  lebhaftes  Gewehrfeuer  von  kurzer  Dauer,  das,  im  Norden 
begfinnend,  sich  bald  auf  alle  Punkte,  ausgenommen  die  deutsche 
Gesandtschaft,  ausdehnte  und  bei  uns  hauptsächlich  gegen  die 
französische  Tranchee  gerichtet  war;    wenn  es  auf  Rechnung  der 

*)  Ehemaliger  Gouverneur  von  Setschuen,  durch  seinen  fanatischen  Fremdenhass 
^^ekannt. 


346 

Neuankömmlinge  gesetzt  zu  werden  hatte,  so  machte  es  deren 
kriegerischer  Geschicklichkeit  nicht  allzu  viel  Ehre,  denn  an  Ziel- 
und  Regellosigkeit  unterschied  es  sich  in  gar  nichts  von  den 
Leistungen  dei  Vorgänger  und  wurde  auch  keiner  Erwiderung 
gewürdigt  —  der  befürchtete  Ueberfall  war  somit  wieder  aus- 
geblieben. 

Sir  Claude  verfehlte  natürlich  nicht,  über  diesen  Bruch  des 
Waffenstillstandes  bei  Yunglu  schriftliche  Beschwerde  zu  führen. 
—  Der  Tag  verging  ziemlich  still,  bis  Shiba's  Spion  die  Stunde  zur 
Ausgabe  seines  Bulletins  gekommen  hielt:  »Am  23.  bei  Tsai-Tsun 
circa  15  Kilometer  nördlich  von  Yangtsun  Gefecht,  Rückzug  der 
Chinesen.«  Die  Sache  klappte,  verglichen  mit  der  Nachricht  des 
Vortages,  zwar  um  5  Kilometer  nicht,  aber  wie  konnte  man  von 
einem  einfachen  Manne  auch  eine  so  haarscharfe  Unterscheidung 
verlangen! 

Nachmittags  erschienen  wieder  drei  rothe  Briefe  von  Prinz 
Tsching  und  Genossen  für  Sir  Claude.  Der  erste  enthielt  eine 
telegraphische  Anfrage  des  englischen  Generalconsuls  in  Shanghai 
an  das  Tsungli-Yamen  nach  dem  Befinden  des  Gesandten,  der 
zweite  die  unverschämte  Aufforderung,  die  Minister  möchten  ohne 
Chiflfreschlüssel  ihr  und  ihrer  Familien  Wohlbefinden  nach  Hause 
telegraphiren,  und  der  dritte  die-  erneuerte  Einladung,  sich  nach 
Tientsin  zu  begeben. 

Aus  allen  dreien,  die  zur  Beruhigung  susceptibler  Leser 
diesmal  mit  den  üblichen  Complimenten  schlössen,  ging  hervor, 
dass  Tsungli-Yamen  und  Prinz  Tsching  und  Genossen,  wenn  nicht 
identisch,  so  doch  gerne  gegenseitig  die  Masken  tauschten,  jeden- 
falls aber  kein  Geheimniss  vor  einander  kannten.  Ich  glaube  auch 
den  Wortlaut  der  zwei  letzteren  dem  Leser  nicht  vorenthalten 
zu  sollen,  denn  die  Mühe,  sie  zu  lesen,  dürfte  sich  von  selbst 
belohnen. 

»Während  des  letzten  Monats  und  länger  waren  mili- 
tärische Angelegenheiten  sehr  dringend  (standen  im  Vorder- 
grund). Euer  Excellenz  und  die  anderen  fremden  Minister 
müssten  doch  nach  Hause  telegraphiren,  dass  ihre 
Familien   wohlauf  sind,    um    Besorgnisse    zu    zerstreuen, 

• 

aber  im  gegenwärtigen  Augenblick  sind  die  kriegef^' 
sehen  Operationen  noch  nicht  zu  Ende  und  die  Tele- 
gramme der  Gesandtschaften  müssen  ganz  in  claris  g^' 
halten  sein,  feststellen,  dass  Alles  wohl  ist,  ohne  xnih* 
tärische  Angelegenheiten  zu  erwähnen.  Unter  diesen 
Bedingungen  kann  das  Yamen  sie  befördern. 


347 

Die  Schreiber  bitten  Euer  Excellenz,  dies  den  verschiedenen 
fremden  Ministern  mitzutheilen.« 

Der  Leser  dürfte  bei  diesem  Absatz  denselben  kräftigen 
Ausruf  —  vielleicht  um  eine  Nuance  milder  —  thun  wie  Don 
Bernardo  de  Cologan,  als  er  uns  diese  neueste  Ueberraschung 
mittheilte.  Der  dritte  Brief  war  ein  Meisterstück  chinesischer 
Reim-  und  Leimkunst;  er  bezog  sich  auf  die  Antwort  Sir  Claude's 
auf  den  famosen  Brief  ohne  Complimente,  der  in  einem  Athem  die 
Abreise  nach  Tientsin  an-  und  abrieth. 

»Wir  haben  Ihre  Antwort  erhalten,  die  feststellt,  dass  in  unserem 
Briefe  einige  Punkte  durchaus  nicht  klar  waren.  Wir  schlagen 
jetzt  vor,  unsere  Meinung  in  allen  Einzelnheiten  zu  erklären. 

Vom  Ersten  bis  zum  Letzten  haben  wir  den  Schutz  der  Le- 
gationen niemals  vernachlässigt,  aber  zufolge  der  Thatsache,  dass 
die  Zahl  ordnungsfeindlicher  Charaktere  (Individuen)  täglich  zu- 
nahm, waren  wir  sehr  besorgt,  dass  sich  irgend  etwas  zu  plötzlich, 
als  dass  man  sich  dagegen  verwahren  könnte,  ereignen  und  ein 
grosses  Unglück  (Calamität)  hervorrufen  würde.  Dies  der  Grund, 
warum  -wir  den  Rath    erneuerten,    sich    zeitweilig   zurückzuziehen. 

Was  die  Nachfrage  danach  betrifft,  welcher  Unterschied  be- 
steht zwischen  der  Gewährung  von  Schutz  in  der  Stadt  und  unter- 
wegs und  warum  es  nicht  möglich  ist,  ihn  im  ersteren  Falle  zu 
gew^ähren,  während  er  im  letzteren  gegeben  werden  kann,  so  be- 
steht hierin  nur  ein  scheinbarer  Widerspruch.  Denn  der  Aufent- 
halt in  der  Stadt  ist  beständig,  der  Aufenthalt  unterwegs  (auf  der 
Route)  ist  vorübergehend.  Wenn  alle  fremden  Minister  willens 
sind,  sich  zeitweilig  zurückzuziehen,  so  würden  wir  die  Route  nach 
Tung-tschau  und  von  dort  flussabwärts  per  Boot  nach  Tientsin 
vorschlagen,  welch  letzteres  in  nur  zwei  Tagen  erreicht  werden 
könnte.  Ohne  Rücksicht,  welche  Schwierigkeiten  existiren  könnten, 
würde  eine  angemessene  Macht  entsendet  werden,  die  Hälfte  zu 
Wasser  al's  Escorte  im  engeren  Sinne,  die  Hälfte  auf  der  Strasse, 
um  so  auf  eine  Entfernung  von  beiden  Ufern  Alles  sicher  zu  er- 
halten. Nachdem  dies  bloss  eine  beschränkte  Zeit  dauern  würde, 
ist  es  möglich  zu  garantiren,  dass  ein  Misserfolg  nicht  eintritt. 
Anders  verhält  sich's  mit  einem  ständigen  Aufenthalt  in  Peking, 
denn  in  diesem  Falle  ist  es  unmöglich  vorherzusagen,  wann  ein 
Unglück  (Disaster)  eintreten  mag.  Gleichgiltig,  ob  bei  Tag  oder 
bei  Nacht,  mag  eine  einzige  Stunde  oder  ein  einziger  Augenblick 
des  Nachlassens  in  der  Wachsamkeit  keine  Zeit  mehr  übrig  lassen, 
um  eine  plötzliche  Gefahr  zu  verhüten.  Dies  kann  leicht  ver- 
standen werden  und  dadurch  ist  keine  Ungereimtheit  bedingt. 


348 

Der  Brief,  dessen  Empfang  wir  bestätigen,  stellt  fest,  dass  der 
ununterbrochene  Aufenthalt  der  fremden  Minister  in  Peking  die 
Wiederherstellung  des  Friedens  erleichtert,  was  dem  allgemeinen 
Wunsche  entspricht,  und  dass,  wenn  sie  (die  Minister)  die  Hauptstadt 
verlassen  würden,  es  viel  länger  dauern  würde,  die  freundlichen 
Beziehungen  wieder  aufzurichten.  Diese  Bemerkung  zeigt,  dass  Euer 
Excellenz  sich  nicht  ungerne  der  Freundschaft  erinnern,  die  bisher 
existirte.  China  hat  sicherlich  keinen  Wunsch,  dass  die  Kriegs- 
calamität  ins  Unbestimmte  verlängert  werde.  Aber  im  gegenwärtigen 
Augenblick  haben  die  fremden  Kriegsschiffe  einen  wichtigen  Hafen*) 
genommen  und  Tientsin  ist  besetzt  worden.  Derart  befinden  sich  dort 
kriegerische  Operationen  noch  im  Fortschritt  und  was  können  Euer 
Excellenz  vorschlagen,  um  ihnen  ein  Ende  zu  machen? 

Nachdem  Euer  Excellenz  und  die  anderen  fremden  Vertreter 
Angelegenheiten  zu  besprechen  haben,  die  mit  der  Wiederher- 
stellung des  Status  quo  im  Zusammenhang  stehen,  würde  es  scheinen, 
dass  eine  allgemeine  Ordnung  der  Dinge  in  Tientsin  eher  möglich 
wäre,  und  wir  möchten  daher  unser  Ersuchen  erneuern,  dass  Sie 
ihre  Vorbereitungen  bald  treffen  und  uns  von  dem  (zur  Abreise) 
bestimmten  Tag  in  Kenntniss  setzen,  damit  wir  Boote  und  Lebens- 
mittel   vorbereiten    können.« 

So  durchsichtig  dies  mit  sichtlicher  Anstrengung  schon- 
gefärbte Gewebe  auch  war,  denn  Alles  machte  unwillkürlich  den 
zutreffenden  Vergleich  mit  Cawnpore,**)  so  wenig  konnte  sich  die 
überwiegende  Mehrheit  der  in  die  englische  Gesandtschaft  zurück- 
gezogenen Minister  entschliessen,  gleich  die  gebührende  Antwort 
zu  geben,  zu  der  ja  doch  die  einzige  directe  Frage  an  die  Minister 
hinreichenden  Anlass  geboten  hätte.  Wenn  man  schon,  um  Zeit 
zu  gewinnen,  durchaus  verhandeln  wollte,  so  eröffnete  der  Punkt, 
was  die  Minister  vorschlagen  könnten,  um  die  kriegerischen  Opera- 
tionen zu  beenden,  ein  weites  Feld,  um  im  Rahmen  des  Mög- 
lichen und  ohne  den  unbekannten  Absichten  der  heimatlichen  Re- 
gierungen zu  präjudiciren,  directe  Forderungen  zu  stellen,  die 
jedenfalls  auf  die  Chinesen  einen  nachhaltigeren  Eindruck  gemacht 
haben  würden,  als  die  zwei  Tage  später  abgesendeten,  gar  zu 
farblosen  Erwiderungen  Sir  Claude's.***) 

*)  Es  war  Taku  gemeint,  im  ersten  Augenblick  glaubten  jedoch  einige  Mitgüeder 
der  Fremdengemeinde  Tschifu  darunter  verstehen  zu  sollen. 

*♦)  Im  indischen  Kriege  1857  zog  die  decimirte  Besatzung  Cawnporcs,  den  Ver- 
sprechungen Nana  Sahib's  trauend,  ab  und  wurde  niedergemetzelt. 

***)  Hinsichtlich  des  Verlangens,  in  claris  bloss  das  eigene  Wohlbefinden  **•  ™** 
graphiren,  lautete  die  Antwort:  Man  kann   nicht  telegraphiren,    dass  die  Fami 


349 

Die  aufgezählten  Briefe  warfen  noch  auf  mancherlei  bisher 
unklare  Punkte  einiges  Licht,  aber  vielleicht  trug  die  allzu  ein- 
gehende Analyse  der  Sätze  und  Worte  jener  Schriftstücke  dazu 
bei,  in  gewissen  Kreisen  ungerechtfertigte  Besorgnisse  zu  er- 
wecken, denn  auffalligerweise  herrschte  an  diesem  Abend  in 
»England«  eine  viel  weniger  zuversichtliche  Stimmung,  als  man 
hätte  erwarten  dürfen. 

Ein  Courier  sollte  nach  Einbruch  der  Dunkelheit  abgehen, 
es  war  dies  deis  erste-  und  einzigemal,  dass  von  Rosthorn  und  ich 
davon  durch  M.  Pichon  erfuhren.  In  aller  Eile  setzte  ich  eine  De- 
pesche*) an  den  englischen  Consul  in  Tientsin  auf,  die  der  Schreib- 
künstler KoUaf  auf  ein  winziges  Format  reducirte  und  in  einem 
chinesischen  Schreibpinsel  verborgen  für  die  Beförderung  vor- 
bereitete. Gerade  dieser  Bote,  dem  es  nach  zweimaligen  vergeblichen 
Versuchen  erst  am  27.  Juli  gelang,  das  Legationsviertel  zu  ver- 
lassen, erreichte  leider  seinen  Bestimmungsort  nicht. 

Am  26.  Juli    lieferte   der    Spion   Shiba's    wieder    Folgendes: 

»Am  24.  von  10  Uhr  vormittags  bis  Mitternacht  Gefecht 
zwischen  Tsaitsun  und  Hohsiwu,  Chinesen  unter  General  Tschang 
erlitten  grosse  Verluste,  mussten  sich  zurückziehen;  am  25.  wurden 
sie  auch  aus  Hohsiwu  geworfen  und  ungefähr  20  Li  (10  Kilometer) 
nördlich  verfolgt;  ihre  Verluste  wurden  mit  1600  Mann  angegeben.  Die 
4800  Mann  und  9  Geschütze  aus  dem  Schansi  sind  am  25.  morgens 
zur  Verstärkung  Tschang's  abgegangen.«  Hienach  glaubte  man  die 
Entsatztruppen  am  26.  abends  in  Matou  vermuthen  zu  dürfen. 

Da  das  Graben  an  der  Westfront  des  ehemaligen  Minister- 
hauses in  der  französischen  Legation  nicht  aufhörte,  das  Aufvverfen 


sind,  denn  Frauen  und  Kinder  haben  durch  die  Einschliessung  bei  der  Hitze  und  durch 
den  Mangel  gewohnter  Nahrung  in  ihrer  Gesundheit  gelitten.  Die  Chiffren  seien  für  die 
Regierung  das  einzige  Criterium  der  Authenticität  der  Depeschen,  über  die  militärische 
Lage  konnte  man  ohnedies  nichts  berichten,  weil  man  nichts  wüsste.  —  Wegen  der 
Abreise  nach  Tientsin  wurden  nur  Details  über  Wagen  und  Sänften  für  die  Reise 
lach  Tun g- tschau,  deren  Erwähnung  Prinz  Tsching  und  Genossen  vergessen  hatten, 
ierners  über  die  Escorte  verlangt,  bevor  man  weiter  discutiren  könne.  —  Dieses  Hervor- 
jehren  von  untergeordneten  Dingen  muss  denn  doch  den  chinesischen  Politikern  zu  be- 
gannt und  mit  ihrer  eigenen  Praxis  zu  verwandt  vorgekommen  sein  und  gerade  deshalb 
ien  Glauben  erweckt  haben,  dass  die  Minister  nicht  mehr  so  fest  wie  einst  ihren  ge- 
neinsamen Standpunkt  vertraten.  Die  Vertreter  einer  energischeren  Richtung,  unter 
ienen  von  Rosthorn  war,  wurden  überstimmt. 

*}  Wortlaut:  »2().  Juni  Geschäftsträger,  Detachement  auf  französische  Gesandtschaft 
lurückgezogen,  21.  Juni  unsere  Legation  verbrannt.  Täglich  Kämpfe.  Thomann, 
J  Mann  todt,  schwerverwundet  ausser  Gefahr  Boyneburg,  2  Mann.  Alle  Chiffreschlüssel 
»■erbrannt.  Winterhaider.«  Mehr  über  die  allgemeine  Lage  anzugeben,  schien  mir  über- 
lüssig,  da  dies  ja  gleichzeitig  und  jedenfalls  ausführlich  von  anderer  Seite  geschah. 


350 

von  Erde  jedoch  in  immer  längeren  Zeitintervallen  erfolgte,  so 
steigerte  sich  mein  Verdacht,  dass  dort  doch  eine  Mine  gegraben 
werde,  immer  mehr  und  ich  entschloss  mich  vor  dem  Fremden- 
pavillon eine  tiefe  Tranch^e  ausheben  zu  lassen,  um  so  eine  allen- 
fallsige Gallerie  zu  schneiden.  Mit  Darcy,  Chamot  und  Mathieu 
wurden  die  Details  besprochen  und  als  Vorarbeit  noch  am  Abend 
Erdsäcke  und  Reisigfaschinen  an  den  für  den  Einstich  gewählten 
Punkt  vor  dem  Musikkiosk  gebracht;  da  die  Chinesen  in  der  Nacht 
gegen  Geräusche  stets  sehr  misstrauisch  waren,  wurde  der  Beginn 
der  Arbeit  auf  den  kommenden  Morgen  gesetzt.  Nachtsüber  fielen 
ziemlich  viele  Schüsse  im  Norden,  Nordwesten  und  bei  uns,  auch 
hörte  man  in  der  Richtung  des  Peitang  Gewehr-  und  Geschütz- 
feuer; einige  Franzosen  beobachteten  das  Steigen  von  Raketen 
vom  Tchien-men  aus  und  glaubten,  zwischen  dieser  Erscheinung 
und  der  Intensität  des  Schiessens  gegen  uns  einen  merkbaren 
Zusammenhang  herauszufinden. 

Am  27.  Juli,  5  Uhr  früh,  erschien  Chamot  mit  einigen  Kulis, 
die  unter  Mathieu's  Anleitung  mit  dem  Graben  begannen;  durch 
die  improvisirte  Deckung  gegen  Sicht  und  Gewehrfeuer  gedeckt, 
erzielten  die  Arbeiter  bald  einen  solchen  Fortschritt,  dass  die 
Chinesen  ihnen  trotz  des  lebhafteren  Schütz enfeuers  nichts  mehr 
anhaben  konnten.  Der  steinharte  Boden  bereitete  wohl  einige 
Schwierigkeiten,  doch  hoben  die  5—0  halbverhungerten  Kulis  bis 
zum  Abend  auf  8  Meter  Länge  und  1  Meter  Breite  einen  60  Centi- 
meter  tiefen  Graben  aus,  so  dass  nur  mehr  das  Ein-  und  Aus- 
steigen gefährlich  war;  dabei  ergab  sich  für  unsere  Schützen 
wieder  manche  Gelegenheit  einzugreifen,  doch  litt  die  Ostwand 
des  Fremdenpavillons  sehr  durch  die  chinesischen  Projectile. 

Shiba  theilte  mit,  dass  nach  seinem  Gewährsmann  der  Hof 
die  Abreise  vorbereite  und  hiezu  schon  200  Wagen  requiriren 
lasse;  Tungtschau  werde  befestigt,  die  vereinigten  Truppen 
Tchang's  und  Li-Ping-Heng's  hätten  sich  in  Tschang-tschia-wan 
gesammelt  und  sonach  könnte  man  —  immer  unter  der  Reserve, 
dass  der  Informant  die  Wahrheit  spreche  —  den  Entsatz  am 
30.  Juli  erw^arten. 

Am  Nachmittag  erschienen  wieder  einige  Karren  mit  Obst, 
Gemüse,  einigen  Säcken  Mehl  und  einem  Briefe  von  Prinz  Tsching 
und  Genossen,  w^orin  sich  diese  sehr  besorgt  zeigten,  dass  uns  die 
miteingeschlossenen  christlichen  Chinesen  gewiss  viele  Unannehm- 
lichkeiten bereiten  würden;  da  nun  Ruhe  herrsche,  möge  man  sie 
entlassen  und  anweisen,  ihrer  gewohnten  Beschäftigung  ofcoe 
»Furcht  und  Zweifel«   nachzugehen,  ihre  Zahl  und   den  T 


351 

Entlassung  jedoch  vorher  anzeigen.  Ueber  diesen  Punkt  war 
natürlich  kein  Wort  zu  verlieren,  dass  wir  unsere  getreuen  Mit- 
arbeiter schmählich  preisgeben  würden,  der  Gedanke  konnte  doch 
nur  im  Gehirn  nichtswürdiger,  scrupelloser  Sclavenhälter  ent- 
standen sein!  Die  Chinesen chVisten  warnten  eindringlichst  vor  dem 
Mehl,  das  wahrscheinlich  vergiftet  sei,  und  so  wurde  es,  so  knapp 
auch  gerade  dieser  Artikel  in  den  Vorräthen  der  Fremden  noch 
vertreten  war,  bei  Seite  gestellt.*) 

Unsere  Gegner  nahmen  es  mit  dem  Einhalten  des  Waffen- 
stillstandes immer  weniger  genau;  ausgenommen  auf  der  Ost-  und 
Südseite  der  deutschen  Gesandtschaft  ging  das  »Sniping«  und  die 
Arbeit  an  Barricaden  u.  dgl.  fast  gerade  so  lebhaft  her  wie 
vor  dem  17.  Juli,  das  Peitang  hatte  schon  gar  keinen  Tag  Ruhe. 
Die  Munition  der  Fremden  war  schon  sehr  knapp,  den  Italienern 
hatte  ich  bereits  zwei  Gewehre  von  unseren  Gefallenen  übergeben 
lassen  und  die  Japaner  verfügten  nur  mehr  über  25  Patronen 
per  Mann. 

Am  27.  Juli  spät  abends  erschien  endlich  der  am  4.  ausge- 
sendete Bote  mit  einer  vom  22.  datirten  Antwort  Mr.  Carels'  aus 
Tientsin,  die  am  folgenden  Morgen  am  Glockenthurm  angeschlagen, 
einen  dichtgedrängten  Leserkreis  anzog. 

»Auf  Ihren  Brief  vom  4.  Juli.  Bis  jetzt  sind  24.000  Mann 
Truppen  gelandet  und  19.000  hier.  General  Gaselee  morgen 
in  Taku  erwartet.  Russische  Truppen  sind  in  Peitsang.  Tientsin 
steht  unter  Regierung  der  Fremden  und  die  Macht  der  Boxer  ist 
hier  ganz  gebrochen.  Viele  Truppen  sind  auf  dem  Weg,  wenn 
Ihr  Euch  nur  ,die  Nahrung*  erhalten  könnt.  Beinahe  alle  Damen 
haben  Tientsin  verlassen.«**) 

Es  kann  nicht  verschwiegen  bleiben,  deiss  diese  Nachricht 
allgemeine  Enttäuschung  verursachte ;  abgesehen  von  der  unklaren 
Stilisirung  der  wichtigsten  Stellen  verschwieg  sie  jede  Andeutung 
über  den  Vormarsch,  doch  das  Interessanteste  für  uns  Empfänger. 
Waren   die  19.000  Mann   in  Tientsin   in    der  Zahl    der    überhaupt 

*)  Es  soll  nach  dem  Entsatz  ohne  irgend  welche  schädlichen  Folgen  aufgezehrt 
worden  sein;  als  es  ankam,  gab's  weder  Chemikalien,  noch  »Versuchskaninchen«,  um  es 
auf  Gift  zu  untersuchen. 

**)  Dies  die  möglichst  wortgetreue  Uebersetzung  des  englischen  Originals.  Zur 
Entschuldigung  für  Mr.  Carels  führten  seine  Freunde  an,  er  habe  absichtlich  die  Wahr- 
heit' verschwiegen,  dass  über  den  Vormarsch  am  22.  Juli  noch  gar  kein  Beschluss  gefasst 
gewesen,  um  die  Stimmung  der  in  Peking  Eingeschlossenen  nicht  zu  drücken.  Ein 
schlechter  Dienst  und  ganz  aussichtsloses  Unternehmen  dazu,  denn  Mr.  Carels  hätte  doch 
voraussetzen  können,  dass  der  Bote  auch  über  das  Gesehene  ausgeholt  werden  und  nicht 
stumm  bleiben  würde. 


352 

Gelandeten  inbegriffen,  nun  so  mochte  nach  allem  bisher  in  Er- 
fahrung Gebrachten  noch  einige  Zeit  verstreichen,  bis  sich  die 
Führer  stark  genug  glaubten,  um  gegen  Peking  aufzubrechen; 
sollte  die  Tientsiner  Besatzung  aber  nicht  zu  den  24.000  Mann 
zählen,  so  erschien  ein  weiteres  Zuwarten  kaum  erklärlich.  Wo 
waren  die  vielen  Truppen  unterwegs?  Zwischen  der  Heimat  und 
China  oder  auf  der  Route  Tientsin — Peking?  Der  gute  Rath,  mit 
unseren  Vorräthen  hauszuhalten,  war  doch  recht  überflüssig,  denn 
das  war  bis  jetzt  ohnedies  beobachtet  worden;  das  glückliche 
Schicksal  der  Damen  Tientsins  endlich  erweckte  höchstens  nei- 
dische Vergleiche. 

Der  Unmuth  machte  sich  unverhohlen  Luft ;  »nicht  das  Leben 
eines  Kulis  werth«  —  lautete  das  mildeste  Urtheil  über  die  Bot- 
schaft. Da  wusste  der  jugendliche  Emissär  beinahe  Wichtigeres, 
jedenfalls  aber  Interessanteres  zu  berichten  und  glücklicherweise 
entschädigte  die  Veröffentlichung  seiner  Erzählung  einigermassen 
für  die  mangelhafte  Depesche  des  englischen  Consuls. 

Der  Bote  konnte  nach  einiger  Fährlichkeit  erst  am  5.  Juli 
morgens  aus  der  Chinesenstadt  nach  Tungtschau  aufbrechen  und 
erreichte  bettelnd  Hohsiwu,  wo  er  aber  von  Bauern  volle  acht 
Tage  zur  Feldarbeit  zurückgehalten  wurde ;  endlich  gelang  es 
ihm,  sich  davonzustehlen  und  am  20.  Juli  auch  eine  halbe  englische 
Meile  von  Tientsin  an  russische  Vorposten  heranzukommen.  Die 
Schwierigkeit,  sich  zu  verständigen,  brachte  es  mit  sich,  dass  er 
einen  weiteren  Tag  verlor,  bis  endlich  ein  chinesisch  sprechender 
Europäer  ihn  am  21.  Juli  zu  Mr.  Carels  brachte.  Letzterer  übergab 
ihm  tagsdarauf  das  Schreiben,  mit  dem  er  am  26.  in  der  Chinesen- 
stadt von  Peking  ankam ;  da  das  Hatamen  geschlossen,  musste  er  sich 
bis  27.  abends  verbergen  und  schlüpfte  dann  durch  das  Canalgitter 
herein.  Ueber  seine  Beobachtungen  befragt,  theilte  er  mit,  dass 
am  22.  Juli  die  fremden  Truppen  ihre  Vorposten  noch  nicht 
weiter  als  Vs — 1  englische  Meile  über  Tientsin  hinaus  stehen  gehabt 
hätten.  Die  Bahnlinie  bis  Yangtsun  sei  völlig  zerstört,  die  Schienen 
weggeschleppt,  die  grosse  Brücke  bei  Yangtsun  unversehrt.*)  Die 
chinesischen  Streitkräfte  wären  in  Peitsang  concentrirt.  Im  Peiho 
und  Tungtschau-Canal  herrsche  Hochwasser,  auch  sei  der  Boots- 
verkehr spärlich,  die  meisten  Dschunken  aufgeholt.  Er  selbst  habe 
wenig  Boxer  angetroffen,  jedoch  seien  alle  Dörfer  unterwegs 
boxerisch  organisirt. 

Diese  Angaben,  an  deren  Richtigkeit  vernünftigerweise  kein 
Zweifel  erlaubt  war,  zerstörten  allerdings  die  bisher  nur  zu  gerne 

*)  Er  hatte  offenbar  nur  von  ferne  die  Pfeiler  und  Träger  gesehen. 


^  353 

g-ehegten  sanguinischen  Hoffnungen  auf  eine  baldige  Befreiung 
und  stempelten  den  Gewährsmann  Shiba's  zu  dem,  was  er  war: 
ein  phantasievoller,  in  der  Geschichte  des  1860er  Krieges  recht 
Bfut  versirter  Pensionär  der  Japaner!  Einige  um  die  »Stimmung 
der  Garnison«  Besorgte  versuchten  zwar  die  Ehrenrettung  unseres 
bisherigen  Correspondenten  aus  dem  Feindeslager  und  affichirten 
sogar  eine  recht  nett  anzusehende,  vergleichende  graphische  Dar- 
stellung des  vom  Boten  zurückgelegten  Weges  und  des  angeb- 
lichen Vormarsches  der  Alliirten,  an  der  nur  das  eine  nicht  recht 
klappte,  dass  der  junge  Schantung-Chinese  zwischen  Tsaitsun  und 
Tientsin  alles  Mögliche  nur  keine  fremden  Truppen  gesehen  hatte, 
aber  man  wusste  ihnen  für  diesen  frommen  Täuschungsversuch 
keinen  Dank. 

Shiba  hielt  sich  aus  guten  Gründen  seine  Quelle  um  den 
Liebhaberpreis  täglicher  25  Dollars  offen,  denn  ab  und  zu  konnte 
doch  ein  Tropfen  Wahrheit  einsickern. 

Die  Lage  gewann  durch  diese  neuesten  zuverlässigen  Infor- 
mationen nicht  an  Rosigkeit,  aber  vom  Standpunkte  der  Magenfrage 
konnten  wir  doch  noch  ein  paar  Wochen  aushalten  und  schliesslich 
kannten  wir  zu  jener  Zeit  die  Taktik  unserer  Widersacher  —  in  ihren 
diplomatischen  Verhandlungen  wie  in  ihrer  Kriegführung  —  doch 
schon  genügend,  um  kein  Pulver  mehr  unnütz  zu  verschiessen. 

Nachmittags  brachte  ein  Brief  von  Tsching  und  Genossen 
als  Antwort  auf  das  hinhaltende  Schreiben  Sir  Claude\s  vom 
27.  Juli  die  erneuerte  Aufforderung,  doch  nach  Tientsin  abzuziehen, 
und  die  Zusage,  dass  Alles  für  die  combinirte  Land-  und  Fluss- 
reise vorbereitet  werden,  sowie  dass  General  Sun-Wan-Lin  mit  aus- 
gewählten Truppen,  darunter  auch  solche  von  Tsching  selbst,  die 
Escorte  bilden  würde;  die  Einleitung  hatte  für  das  Ohr  der 
Pessimisten  einen  ganz  beruhigenden  Klang.  »Bei  der  gegenwärtigen 
Hitze  müsse  es  deprimirend  wirken,  in  der  Legation  ohne  Be- 
wegrmg  zu  verweilen,  deshalb  sei  der  Abzug  nur  mit  Rücksicht 
auf  das  bessere  Befinden  der  Gesandten  empfohlen  worden,  durch- 
aus nicht  aus  einem  unfreundlichen  Gefühl  oder  dem  Mangel  an 
Geneigtheit,  sie  dort  zu  erhalten.«*) 

Auf  dem  Ostflügel  trug  sich  nichts  Besonderes  zu ;  Chamot 
verstärkte  in  der  Nacht  seine  Barricade  durch  einen  Erdautwurf, 
da  es  den  Anschein  hatte,  als  ob  die  Chinesen  beim  Portale  der 
französischen  Gesandtschaft  einen  Geschützstand  errichteten.  Bis 
gegen  11  Uhr  nachts  wurde  ziemlich  viel  geschossen,  dann  be- 
ruhigten sich  unsere  Gegner  aber  wieder. 

*)  OfTenbarc  Anspielung  auf  die  zweimaligen  Sendungen  von  Lebensmitteln. 
Winterhaider:  Kümpfe  in  China.  23 


354  ^ 

Am  29.  Juli  schienen  die  uns  cernirt  haltenden  Truppen  die 
Situation  schon  etwas  monoton  zu  finden  und  schössen  allgemein 
wieder  viel  lebhafter;  leider  wurde  ein  als  Dolmetsch  sehr  brauch- 
barer, chinesischer  Angestellter  Chamot's  am  Morgen,  als  er  die 
Kulis  zur  Arbeit  in  unsere  Tranch^e  brachte,  schwer  verwundet. 
Nachmittags  begannen  die  Chinesen  auf  der  Nordbrücke  eine  Barri- 
cade  zu  erbauen  und  diesmal  entspann  sich  wieder  ein  ganz  regel- 
rechtes Scharmützel ;  trotz  Gewehrfeuer  von  der  englischen  Gesandt- 
schaft und  vom  Fu  aus  konnte  die  Errichtung  der  chinesischen 
Barricade  jedoch  nicht  verhindert  werden. 

Bei  uns  bot  sich  morgens  dem  französischen  Gesandten  ein 
Tung  -  Fuhsiang  -  Soldat  zu  einem  Botengang  nach  Tientsin  und 
zurück  an,  erschien  aber,  als  der  Brief  zur  besprochenen  Stunde 
fertig  war,  nicht  wieder ;  statt  seiner  kam  gegen  Abend  ein  Ueber- 
läufer,  um  uns  vor  dem  Bau  einer  Mine  zu  warnen. 

Se'ine  Einvernahme  gestaltete  sich  sehr  schwierig,  da  er  den 
Dialect  der  Provinz  Schansi  sprach ;  endlich  wurde  man  sich  klar, 
dass  die  Mine,  gegen  das  Haus  Anthouard  projectirt,   etwa  2V«  bis 
3  Meter  unter  der  Oberfläche  angelegt   und  augenblicklich  schon 
ungefähr  zehn  Schritte  weit  vorgetrieben  sei.  Der  Mann  geberdete 
sich  sehr  aufgeregt,    nahm    kein  Geld    und    drängte    entlassen   zu 
werden ;    er  kam  späterhin  noch  einmal,    um  noch  weitere  Details 
zu  geben,  und  lehnte  auch  dann  irgend  eine  Entlohnung  ab.  Trotz 
aller  Zweifel   an  der  Richtigkeit   seiner  Aussage   beschlossen  wit 
doch,    die  Tranchee    weiter    nach    Norden    auszudehnen,    so    dass 
Musikkiosk    und  das    bezeichnete  Haus  gedeckt  würden.    —  W3'S 
die    Beweggründe    des    Warners    gewesen,    darüber    fehlte    jed^^ 
Anhaltspunkt. 

Die  chinesischen  Soldaten,  mit  denen  Shiba  trotz  des  wi< 
aufgenommenen  Schiessens  weitere  Beziehungen  unterhielt,  wide- 
sprachen    einander    auffallig;    einer    von    ihnen    sagte  aber    rui 
heraus,  dass  die  fremden  Truppen  noch  immer  nicht  über  Tientsi 
hinausgekommen  seien  —  damals  hielt  man  seine  Worte  für  weni — ^ 
glaubwürdig,  aber  es  w^ar  doch  nur  die  volle  Wahrheit. 

Von    der  Stadtmauer    aus    beobachtete    man,    dass   auffallei 
viele  Karren  unter  Militärbedeckung  beim  Tschien-men  hereinzogei 
doch  trug  dies  nicht  zur  Klärung  unserer  Situation  bei. 

Die    am  Tag    vorher    eingelaufene    Note    von  Prinz  Tschii 
und  Genossen  w^urde    vorläufig   noch    nicht    beantwortet.    Die  B^ 
schiessung    des  Peitang   schien  wieder    besonders  lebhaft   zu  sei — 
aber  von  der  vorgeschobensten   Barricade  auf  der  Mauer  sah 
noch    immer  das  Dach    und    die    Giebelfront    der  Kathedra^^ 


355 

Ganzen  unversehrt,  deren  Zustand  eingehender  zu  beurtheilen  ge- 
statteten auch  unsere  Ferngläser  nicht.  Die  folgende  Nacht  ver- 
ging äusserst  unruhig;  entlang  dem  Canal,  auf  der  Nordseite  des 
Fu  und  auf  dem  Mongolenmarkt  hörte  das  Gewehrfeuer  fast  gar 
nicht  mehr  auf. 

In  der  französischen  Legation,  zunächst  der  von  uns  »Zenta«- 
Leuten  gehaltenen  Partie  schien  etwas  Besonderes  vorbereitet  zu 
werden;  man  hörte  hämmern,  graben,  Mauern  fallen  und  dazu 
flogen  fortwährend  Steine  herüber,  so  dass  ich  endlich  von  der 
Wache  ein  paar  Salven  hineinfeuern  Hess,  was  einigermassen  be- 
ruhigte. Dafür  eröffneten  die  Chinesen  eine  kurze  Fusillade  gegen 
die  französische  Tranchee,  womit  beide  Parteien  die  Sache  für 
erledigt  ansahen;  selbst  unsere  gespannteste  Aufmerksamkeit,  ob 
nicht  vielleicht  doch  ein  Geschütz  hereingerollt  würde,  vermochte 
nichts  Derartiges  zu  entdecken. 

Die  Existenz  im  Fremdenpavillon  war  gerade  nicht  *sehr  be- 
quem ;    wohl  hatten  wir   zwei  Betten    für  drei  Mann  aufgetrieben, 
ja    zu  einem    sogar    ein  Mosquitonetz,    und    einige  altersschwache 
Stühle    standen  auch    noch  da,    hauptsächlich    aber  nur  dazu,    um 
sich  daran  die  Beine  wund  zu  stossen,  denn  Licht  durfte  natürlich 
nicht   gebrannt  werden   und   ein   wenig  Helle   kam  nur    durch  die 
offene  Thür  herein,  alles  Andere  war  verrammelt.  Mosquitos  und 
Ungeziefer    aller  Art   quälten    uns   entsetzlich,    aus  Kleidern    und 
Schuhen    kam  man    übrigens    ohnedies   nicht    heraus,    wenn    auch 
erstere    bei  der    drückenden  Hitze    auf   ein  Minimum    beschränkt 
worden   waren;    das    fortwährende  Lauschen    —    zu    sehen    gab's 
nichts  als  die    uns  schon  allzu  gut  bekannten  Mauertrümmer    und 
Barricaden  —  spannte    im  höchsten  Grade  ab,    gesprochen  wurde 
natürlich  auch  sehr  wenig  und  nur  mit  gedämpfter  Stimme  und  der 
Tröster  aller  Wartenden,  der  Tabak,  war  schon  sehr  rar  geworden. 
Da    Sassen   wir,    der   wachehabende    Officier    und    einer    der 
Freiwilligen,  Gewehr  im  Arm  hinter  der  an  die  Thür  angebauten 
Barricade,  gegen  Müdigkeit,  Hitze  und  Ungeziefer  kämpfend,  stets 
mit    gespitztem    Ohr,    alle    fünf    Minuten    nach    dem    Nachtglase 
greifend,  um  zum  tausendsten  Male  die  Löcher  in  den  Mauerresten 
zu  mustern  und  jedes  Geräusch  drüben  analysirend.  Jede  Nacht  das 
Gleiche,  es  gehörte  einige  Anstrengrmg  dazu,  sich  der  Apathie  zu 
erwehren;    die  Leute  bei  den  Schiesständen  waren  oft  dem  Um- 
sinken nahe    und    doch  durfte   selbstverständlich  keiner  ein  Auge 
schliessen,  von  ihrer  Beurtheilungsgabe  hing  ja  Vieles  ab,  und  die 
einzige  Unterbrechung   in   diesen  langen  Wachen   bildete   für   sie 
die  Ankunft  des  visitirenden  und  sie  ausfragenden  Officiers. 

23* 


356 

von  Rosthorn  hatte  seinen  nächtlichen  Standort  im  luftigen  Musik- 
pavillon gewählt,  Darcy  campirte  in  einer  Hängematte  unter  den 
Bäumen  hinter  dem  Hause  Anthouard  und  in  den  Zimmern  des 
letzteren  quälten  sich  die  französischen  Freiwilligen  und  Matrosen, 
nach  schwerem  Dienst  etwas  Ruhe  zu  finden.  Der  Mensch  gewohnt 
sich  aber  an  Vieles  und  so  auch  an  das  Schlafen  mit  halbem 
Ohr;  wie  oft  habe  ich  selbst  todtmüde  mit  geschlossenen  Augen, 
ich  möchte  sagen  mit  entlastetem  Verantwortungsgefühl  auf  dem 
von  meinem  Ablöser  schweissdurchfeuchtet  verlassenen  Lager 
gelegen  und  in  einem  Mittelzustand  zwischen  Schlaf  und  Träumen 
die  Frequenz  der  Schüsse  verfolgt  —  aber  nie  habe  ich  mich  über 
den  Augenblick  getäuscht,  wann  es  galt,  aufzuspringen  —  in  der- 
selben Secunde,  als  KoUaf  oder  Mayer  sich  entschloss,  mit  einem 
schrillen  Pfiff  »alle  Mann«  an  die  Stationen  zu  rufen,  hatte  auch 
mein  Gefühl  mir  gesagt,  dass  es  Zeit  wäre! 

Gewehr,  Patronen  und  Nachtglas  ergreifen  war  dann  Eins 
und  ich  brauchte  kaum  ein  Wort,  um  mich  orientiren  zu  lassen. 
Eine  w